Artículo
NUSO Nº Januar 2008

Nationaler Sozialismus oder soziale Demokratie? Ein historischer Überblick

Zusammenfassung | Coming as it did in the midst of a historic, global economic crisis, the project of the Doha Review Conference – in its negotiations, plenaries, round tables and side-events – was largely overshadowed by the crisis. With the exception of France/the EU, industrialized nations did not send heads of state or even high-level delegates to the conference. Nevertheless, it was an opportunity to respond to the crisis as a globally inclusive and representative body – rather than seinen Ursprüngen war der Sozialismus eng mit der Demokratie verknüpft und wollte sie als »soziale Demokratie« radikalisieren, in der politische Freiheit mit wirtschaftlichem Wohlstand vereint werden sollte. Dieser Beitrag argumentiert, dass mit dem Aufstieg des Marxismus und der russischen Revolution der Sozialismus zunehmend als etwas anderes als Demokratie angesehen wurde und sich sogar in das Gegenteil verwandelte. Seinen dramatischsten Ausdruck fand dieser Wandel in den national-sozialistischen Regimen wie dem Faschismus und dem Stalinismus. Obwohl die soziale Demokratie in weiten Teilen Lateinamerikas an Terrain gewonnen hat, sieht sie sich heute mit dem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« konfrontiert – einem verspäteten Versuch, zu den Vorstellungen des antidemokratischen Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts zurückzukehren.

Nationaler Sozialismus oder soziale Demokratie? Ein historischer Überblick

Im heutigen Lateinamerika lässt sich innerhalb der meisten Länder sowie zwischen den verschiedenen Regierungen dieser Länder eine unausge-sprochene Konfrontation beobachten – und zwar zwischen Verteidigern sozialdemokratischer Prinzipien und Anhängern jenes antidemokratischen Sozialismus, der im 20. Jahrhundert gescheitert ist. Diese Neuauflage des ge-scheiterten Sozialismus nennt sich ebenso großspurig wie inhaltsleer »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Der vorliegende Artikel vertritt die These, dass dieser Widerspruch nicht neu ist. Im Gegenteil: Es ist derselbe, der in unterschiedlicher Form die sozialistische Ideengeschichte der letzten zwei Jahrhunderte in Europa durchzieht. Diese These soll anhand eines Überblicks über die entscheidendsten Momente in der Entwicklung der sozialdemokratischen Idee in Europa belegt werden. Daraus werden schließlich einige Schlüsse für die politischen Tendenzen gezogen, die sich derzeit in Lateinamerika abzeichnen.

Soziale Demokratie

Es gab eine Zeit, in der das Wort Sozialdemokratie die Idee des Sozialismus ebenso wenig ausschloss wie der Sozialismus die Idee der Demokratie. Der Sozialismus der ersten Sozialisten war kein »höheres« Stadium der Geschichte, sondern eine demokratische Praxis mit ungewissem Ausgang. Unter Sozialismus wurde ursprünglich keine neue Produktionsweise verstanden, sondern eine zunehmende Vertiefung der Demokratie liberalen Ursprungs. Dank der politischen Errungenschaften, die die Arbeiterorganisationen in den am höchsten entwickelten Industrienationen Europas – Deutschland, England und Frankreich – zu Ende des 19. Jahrhunderts erzielten, verschmolzen soziale Forderungen und die Radikalisierung der politischen Demokratie zu einer Einheit.

Die Idee der sozialen Demokratie entstammt, von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, der industriellen Revolution in Europa. Oder, genauer gesagt, dem gemeinsamen Interesse einer Koalition aus demokratischen und gesellschaftlichen Gruppen sowie gewerkschaftlich organisierten Industriearbeitern, die es sich zum Ziel setzte, einer damals kaum regulierten kapitalistischen Wirtschaft eine neue politische Form zu verleihen. Die verheerenden Auswirkungen dieses Kapitalismus ohne Politik, der heute als »wilder Kapitalismus« bekannt ist, auf die europäische Arbeiterschaft wurde u.a. von Friedrich Engels beschrieben.

Ideologisch betrachtet gründet die sozialdemokratische Idee auf den demokratischen Revolutionen der Moderne, wie der nordamerikanischen und der französischen. Sie wurde von den ersten Sozialisten und Anarchisten sowie den russischen Bolschewiken (die sich im Untergrund nach großen französischen Revolutionären benannten) als Fortsetzung und gewissermaßen Radikalisierung der Ideale der demokratischen Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert verstanden. Vor diesem Hintergrund erklären sich die Lobeshymnen von Marx auf die »revolutionären« Errungenschaften des europäischen Bürgertums, darunter auch den Kolonialismus. Dieser Lobgesang findet sich in seinem vollen Glanz in der ideologischen Allegorie des Kommunistischen Manifests.

Bei einer eingehenderen Lektüre der grundlegenden Schriften der ersten sozialistischen Organisationen in Deutschland, in denen Marx und Engels von Zeit zu Zeit politisch aktiv waren, lässt sich eine Kontinuität von der sozialdemokratischen Idee zur demokratischen Revolution nachvollziehen. Im 1869 verfassten Eisenacher Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei erscheint bereits im ersten Abschnitt das Ziel der »Errichtung eines freien Volksstaats«. Also eines Staates, der – nach Vorbild der Französischen Revolution – höchster Ausdruck der Volkssouveränität sein sollte (das Wort »Volk« war ja damals in Deutschland noch nicht in Verruf geraten). Und unter Punkt vier wird es noch deutlicher: »Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der Politik, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.« Das war und ist, meiner Ansicht nach, der Kerngedanke der Sozialdemokratie.

Die politische Freiheit ist, den Erklärungen der Arbeiterführer in Eisenach zufolge, Grundvoraussetzung für die wirtschaft-liche Befreiung der Arbeiterklasse. Das heißt, dass die programmatischen Formulierungen von Eisenach versuchten, das Reich der Freiheit mit dem Reich der Notwendigkeit zu verbinden. Der Widerspruch zwischen diesen beiden Begriffen entstand erst später, als marxistische Intellektuelle die Kontrolle über die Arbeiterparteien übernahmen. Es handelt sich hierbei um eine wegweisende Erkenntnis für die Entwicklung der demokratischen Revolution unserer Zeit. Wie so oft muss man die großen Ideen im Ursprung der historischen Umbrüchen suchen.

Mit dem Gothaer Programm von 1875 änderte die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands das ursprünglich in Eisenach verkündete Vorhaben der »Sozialdemokratie« (»sozialen Demokratie«) unter Betonung ihres »Klassen-charakters«. Eine der radikalsten Prämissen lautete: »Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse bilden«. Trotzdem waren die Hauptziele des Gothaer Programms im Wesentlichen politischer Natur. Es ging dabei um die Erweiterung des Wahlrechts und die Einsetzung des Volkes (wohlgemerkt, des Volks und nicht der Klasse) als politischen Souverän. Dabei wurden (ich denke, erstmalig in einem politischen Programm) plebiszitäre Verfahren zur Ent-scheidungsfindung in entscheidenden Staatsangelegenheiten (z.B. für Kriegserklärungen) eingeführt.

Im Vergleich zum Eisenacher Programm von 1869 wurde das demokratische Programm der deutschen Arbeiterschaft von 1875 politisch noch radikaler. In keinem der zwei Programme wurde jedoch eine Trennung zwischen taktischen (gegenwärtigen) und strategischen (der Gegenwart übergeordneten) Zielen vorgenommen, wie sie für den antidemokratischen Sozialismus nach Gotha bezeichnend ist. Gerade der Realismus des Gothaer Programms wurde von Karl Marx kritisiert.

Noch war die Verbindung akademischer Kreise (Linkshegelianer) mit Teilen der Arbeiterbewegung, aus denen der Marxismus hervorgehen sollte, nicht entstanden (Marx selbst kann wohl kaum als Marxist bezeichnet werden). Die Arbeiter waren noch nicht »das Proletariat«, die Geschichte des Klassenkampfs war noch nicht zur »Wissenschaft« avanciert und die Geschichte hatte noch keinen vorab bestimmten Ausgang. Die Verwandlung der demokratischen Bestrebungen der Arbeiterschaft in eine weltgeschichtliche Bestimmung erfolgte erst mit dem Erfurter Programm 1891.

Das Proletariat

In Erfurt erschien zum ersten Mal das Proletariat als historische Kategorie. Von diesem Moment an sollte das Ziel der Arbeiterschaft sein, nicht mehr nur für seine eigenen Interessen sondern auch für die der Weltgeschichte zu kämpfen. Nach und nach wurde die Arbeiterschaft zum Instrument eines neuen, von den Trägern des »wissenschaftlichen Denkens« gebildeten Subjekts: den in den Arbeiterparteien politisch organisierten Intellektuellen. Die ursprüng-liche Idee der Sozialdemokratie wich damit allmählich Sozialismusbegriffen, die sich mehr an der Gegenwart als an der Zukunft orientieren.

Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt. Die »wissenschaftlichen Sozia-listen«, die die Revolution machten, usurpierten die Interessen der organisierten Arbeiterschaft, um sie in die historischen Ziele »des Proletariats« zu verwandeln. Trotzdem behielt auch noch 1891 die demokratische Politik die Oberhand über die revolutionäre Metaphysik. So kann man an einer eher untergeordneten Stelle des Erfurter Programms z.B. Folgendes lesen: »Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne politische Rechte«.

Der endgültige Bruch zwischen den Zielen von Sozialdemokratie und historischem Sozialismus vollzog sich in Deutschland – und in ganz Europa – erst nach der Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Folge der Machtübernahme durch den Sozialdemokraten Lenin und seine Getreuen. Lenin brach nicht nur mit der den ersten Sozialisten so wichtigen Einheit von Demokratie und Sozialismus sondern auch mit der Marxschen These, wonach die sozialistische Revolution in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Ländern anzusetzen hatte. Die Sozialdemokraten wurden nach der Oktoberrevolution (neben anderen wenig schmeichelhaften Bezeichnungen) Verräter und Abtrünnige genannt. Der Begriff des Reformismus, der bis dahin positiv belegt war, wurde bald unter dem Einfluss der Leninisten zu einem der schlimmsten Schimpfwörter. So begann der Stalinismus bereits vor Stalin. Seine Ursprünge sind in der Tradition des Sozialismus in Deutschland zu suchen, in jener Spaltung zwischen dem sozialdemokratischen Gedanken und dem historischen Sozialismus der linken (Post-)Hegelianer. Während sich in Russland die metahistorischen Prinzipien durchsetzten, blieben in Deutschland die als Reformismus stig-matisierten Grundsätze der Sozialdemokratie vorherrschend.

Es muss jedoch ehrlicherweise zugegeben werden, dass sowohl Eduard Bernstein, Karl Kautsky, die von Rudolf Hilferding angeführten Austromarxisten und sogar Rosa Luxemburg die wahren Marxisten ihrer Zeit waren und keineswegs Abtrünnige oder Verräter, wie die marxistisch-stalinistischen Handbücher glauben machen wollten.

Allerdings muss auch gesagt werden, dass die sogenannten sozialdemokratischen Reformisten in ihre eigene Falle getreten sind. Auf eine oder andere Weise hatten sie die fatalen Thesen der Linkshegelianer übernommen, wonach die historische Entwicklung organisch auf eine »Sozialismus« genannte Gesellschaft der Zukunft hin verlaufen sollte. Sie kämpften nicht mehr für eine soziale Demokratie, wie die meisten Arbeiter des 19. Jahrhunderts, sondern für die Umsetzung der vermeintlichen Gesetze der Geschichte. Um Marx und Engels entstand mit der Zeit eine »marxistische« Weltanschauung, die u.a. aus folgenden Quellen gespeist wurde: - dem Sozialdarwinismus, für den sich die Gesellschaft – nach unabhängig von ihr bestehenden, angeblich objektiven Naturgesetzen – von einem tieferen zu einem höheren Stadium entwickelt,- dem lutherischen und calvinistischen Protestantismus, der mit seiner Verherrlichung der Arbeit als Mittel zur Absolution zur Herausbildung des sogenannten »Proletariats« beitrug, welches das platonische (und Hegelsche) Ideal vom Arbeiter als Messias und Träger der historischen Vernunft verkörperte, und- dem hegelianischen Historizismus, dem zufolge die Geschichte die Materialisierung des Hegelschen »absoluten Geistes« im Marxschen »Kapital« bestätigt.

Nach den von Marx übernommenen Thesen Darwins hat der qualitative Sprung, der zur Mutation (Revolution) vom Kapitalismus zum Sozialismus führt, in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften stattzufinden, sobald diese in Widerspruch zu den (von Marx selbst so bezeichneten) »gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen« treten. Diese These führte zur Spaltung der russischen Sozialdemokraten in zwei Lager: Die Menschewiken warteten eine höhere Entwicklung der Produktivkräfte ab, um in Russland die Revolution zu versuchen, während die Leninisten oder Bolschewiken (und später auch die Trotzkisten) annahmen, dass die Kette der kapitalistisch-imperialistischen Knechtschaft an ihrem schwächsten Glied gebrochen werden müsse, allerdings unter der Bedingung dass dies der Anfang ihrer Zerstörung insgesamt sein sollte. Der Leninismus setzte bei seinem Um-sturz von 1917 auf die weltweite Revolution, die sich seinen verfehlten Prognosen nach vom zaristischen Russland auf das restliche Europa ausbreiten sollte.

Als die weltweite (bzw. europaweite) Revolution nicht stattfand, erhielt ein drittes aber äußerst mächtiges Lager Auftrieb: der nationale Sozialismus.

National-Sozialismus

Das Projekt des Sozialismus in einem Land trat in zwei Varianten auf: dem faschistischen National-Sozialismus und dem stalinistischen Sozialismus. Die erste Variante repräsentierten Mussolini und Hitler. Der wichtigste Vertreter der zweiten Variante war, wie schon der Name sagt, Stalin. In der stalinistischen Interpretation (von der sich auch heute noch manche unbedachte Linke leiten lassen) setzte sich die Ansicht durch, zwischen faschistischem National-Sozialismus und Stalinismus beständen unüberbrückbare Gegensätze. Der grundlegende Gegensatz war jedoch nur ein einziger: Die faschistischen National-Sozialisten erkannten die internationale Vormachtstellung der Sowjet-union nicht an. In allen anderen Punkten sind die Übereinstimmungen von Faschisten und Stalinisten dagegen überwältigend: Bei beiden sollte der Sozialismus das Ergebnis von nationalen bzw. nationalistischen Revolutionen sein. Die Revolutionäre Partei sollte mit dem Staat zusammenfließen, bis sie sich schließlich zu einer unzertrennlichen Einheit verbinden. Die Gesellschaft sollte korporativ und vertikal von oben nach unten organisiert werden, bis sie eine vollkommene Einheit mit dem Staat bildet (die alte Hegelsche Wunschvorstellung). Das ist das Wesen des totalen (oder totalitären) Staates.

An der Spitze des Staates hatte ein messianischer Führer zu stehen, der die Geschichte und ihre Völker führt. Auf den Hegelschen Napoleon hoch zu Pferd sollte Hitler im Goebbels'schen Automobil bzw. – passender zur Literatur des sowjetischen »sozialistischen Realismus« – Stalin auf einem Traktor folgen. Die »im großen Stil« umgesetzten national-sozialistischen Regime waren Nazideutschland und die UdSSR; bescheidenere Versionen sollten später in verschiedenen Teilen der Erde folgen: Tito in Jugoslawien, Nasser in Ägypten, Castro in Kuba, die Ceauçescu-Diktatur in Rumänien sowie die Mehrzahl der mit dem Sowjetreich verbündeten »Volksdemokratien«.

Nachdem die demokratischen Revolutionen zwischen 1989 und 1990 das Schicksal der Sowjetunion und ihrer Verbündeten besiegelt hatten, blieben auf der ganzen Welt verstreut noch einige national-sozialistische Staaten als Fragmente einer zu Ruinen zerfallenen imperialen Vergangenheit bestehen. Dazu gehören die postnasseristischen Regime von Saddam Hussein im Irak, Bashar al-Assad in Syrien, Muammar Al-Gaddafi in Lybien sowie die sozialistische Republik Jemen. In Europa sind Serbien unter Slobodan Milosevic und heute noch Weißrussland unter Aleksandr Lukaschenko zu nennen. Und in Lateinamerika Kuba. Alle diese Überreste bilden das wahre Antlitz des Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der gewiss keine Utopie sondern eine erschreckende Wirklichkeit ist. In allen diesen nationalen Sozialismen (es gibt noch weitere) können bis ins kleinste Detail dem Stalinismus und Fa-schismus eigene Züge beobachtet werden, die so weit gehen, dass sie einander zum Verwechseln ähnlich werden. Es ist klar zu erkennen, dass die Grenzen zwischen dem historischen Sozialismus und dem Faschismus sehr verschwommen waren, wenn es sie überhaupt gegeben hat.

Die Vorstellung, es gebe grundlegende Unterschiede zwischen dem nationalen Sozialismus sowjetischen Typs und dem Nationalsozialismus in Deutschland und Italien, ist – das soll hier klar und deutlich gesagt werden – eine Ideologie und widerspricht den geschichtlichen Tatsachen. Aus der Sicht der verarmten Massen in Italien und Deutschland klangen die Versprechen von Mussolini und Hitler seinerzeit tatsächlich sozialistisch. Und sie waren es. Mussolini kam vom Sozialismus, er verstand zudem den Faschismus als Möglichkeit, die ihm sehr gut bekannten marxistischen Grundsätze in einem einzigen Land durchzusetzen.

Der deutsche Nationalsozialismus hingegen war nie faschistisch im engeren Sinn, auch wenn dies heute merkwürdig klingen mag. In der Tat gibt es keine einzige Rede der deutschen Nationalsozialisten, in denen sie sich selbst als Faschisten bezeichnen würden. Der Begriff ist durch und durch italienisch (fascio bedeutet »Fraktion«). Streng genommen war der »deutsche Faschismus« eine typologische Erfindung der Nachkriegszeit, die aus einem Übereinkommen zwischen Konservativen, Nationalkonservativen und Sozialisten resultierte. Bis 1945 sprach in Deutschland niemand von Faschismus. Die ganze Welt sah Hitler als Vertreter des Nationalsozialismus – so auch der wahre Namen des Regimes, der Nationalisten wie Sozialisten gleichermaßen unangenehm berührte. Um es noch einmal zu wiederholen: Der unglückliche Begriff »deutscher Faschismus« war das unrühmliche Ergebnis einer politischen Absprache, deren hauptsächliches Ziel es war, Hitler und die Idee des Sozialismus voneinander zu trennen. Daran war den stalinistischen Sozialisten genauso gelegen wie den Sozialdemokraten. Heute jedoch, nachdem vom stalinistischen National-Sozialismus nur noch Ruinen übrig sind, kann offen gesagt werden, dass Mussolini und Hitler tatsächlich sowohl sozialistische wie nationale Projekte verfolgten – ebenso wie die Regierungen von Stalin und Tito.

In Lateinamerika, wo wir uns nicht gerade durch Originalität hervortun (wir haben eine selbstquälerische Neigung, das Scheitern anderer zu kopieren), nahm die Idee des nationalen Sozialismus Gestalt an und gewann an Kraft. Die Kommunistische Internationale konnte hingegen auf unserem Kontinent, außer in Ländern wie Chile oder Uruguay, nie richtig Fuß fassen. In diesen Ländern findet man in den Ursprüngen der kommunistischen Parteien zahlreiche Aspekte, die sich eher mit sozialdemokratischen als mit national-sozialistischen Vorstellungen in Verbindung bringen lassen. Unter anderem bestätigen die Schriften und Reden des Gründers der Kommunistischen Partei Chiles, Luis Emilio Recabarren, diese Feststellung. Der nationale Sozialismus bildete hingegen den Kern der Ideologie verschiedener nationalistischer und populistischer Bewegungen. In einigen Fällen nutzten deren ehrgeizige Volkstribune diese Bewegungen als Deckmantel, um an die Macht zu gelangen.

Viele in Lateinamerika gegründete Parteien mit sozialistisch und nationalistisch inspirierten Ideologien wurden direkt vom europäischen National-Sozialismus faschistischer Prägung beeinflusst. Bei der peruanischen Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA) zeigte sich dieser Einfluss eher unterschwellig, bei der Nationalrevolutionären Bewegung (Movimiento Nacionalista Revolucionario, MNR) in Bolivien dagegen expliziter. Im argentinischen Peronismus waren die faschistischen Versuchungen derart offensichtlich, dass nicht einmal Eva Perón versuchte, diese zu verbergen. Ähnlich war es bei der mexikanischen Partido de la Revolución Institucional (PRI). In vielen Fällen wurde die Idee des nationalen Sozialismus von den Militärregimen vertreten. Der vielleicht repräsentativste Fall war Juan Velasco Alvarado in Peru, der heute von dem unsäglichen Hugo Chávez glorifiziert wird. Das kubanische Regime durchlief hingegen unterschiedliche Phasen. In seinen Ur-sprüngen präsentierte sich die Befreiungsbewegung Movimiento 26 de Julio als Vertreterin der sozialen Demokratie. Später, mit ihrer Annäherung an die sowjetische Machtsphäre, nahm sie die Form eines nationalen Sozialismus stalinistischer Prägung an. Nach der Auflösung der UdSSR näherte sich der kubanische Sozialismus stärker dem Typ des National-Sozialismus faschistischer Prägung an. So könnten noch zahlreiche weitere Beispiele genannt werden. Fest steht jedoch, dass die Idee des nationalen Sozialismus in seinen unter-schiedlichen Formen eine Konstante der modernen Geschichte Lateinamerikas ist. Heute wird das Projekt des nationalen Sozialismus vom chavistischen Militarismus, der kubanischen Militärdiktatur und am Rande von den restlichen armen Ländern vertreten, die Teil der Bolivarischen Alternative für Amerika (ALBA) sind.

Die Rückkehr der europäischen Sozialdemokratie

In Europa hat hingegen der Bruch zwischen der Sozialdemokratie und dem internationalen Sozialismus, der sich nie festigen konnte, sowie dem natio-nalen Sozialismus bereits stattgefunden. Allerdings wissen wir nicht, ob dieser Bruch für immer halten wird. Das sozialdemokratische Modell wird dort nicht mehr nur von den sozialdemokratischen, sondern auch von den christlich-sozialen und sogar konservativen Parteien verteidigt. Die britische Labourpartei – schließlich Inselbewohner – hat die Idee der Sozialdemokratie nie aufgegeben. Dasselbe lässt sich von den sozialistischen Parteien Skandinaviens sagen. Die deutsche Sozialdemokratie, Wiege des nationalen Sozialismus, hatte größere Schwierigkeiten. Letztendlich verabschiedete sie aber nach langwierigen Diskussionen, Abspaltungen und Parteiausschlüssen im November 1959 das Godesberger Programm. Dieses historische Ereignis steht für die Versöhnung der deutschen Sozialisten mit den vormarxistischen Ideen der sozialen Demokratie, die durch das Auftreten der beiden mächtigsten national-sozialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Russland und in Deutschland, vereitelt worden war. Damit belebte die deutsche Sozialdemokratie den demokratischen Geist der klassischen demokratischen Revolutionen wie der nordamerikanischen und der französischen wieder.

Im Gegensatz zu den übrigen sozialdemokratischen Ansätzen ging das Godesberger Programm dazu über, anstatt einer gesellschaftlichen Klasse den Menschen als Verantwortlichen für seine eigene Geschichte in den Mittelpunkt zu rücken. Der Begriff des Sozialismus wurde dem Reich der Notwendigkeit entrissen, um ihn auch im Reich der Freiheit zu verankern: »Die Sozialisten erstreben eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten kann«. Bereits im Vorwort wurde die folgende Aussage aufgenommen: »Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die Partei der Freiheit des Geistes. Sie ist eine Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen«. In Bad Godesberg zogen die Sozialisten schließlich ihre Schlüsse aus den Erfahrungen der national-sozialistischen Zeit und den Gefahren, die noch immer vom russisch-sowjetischen nationalen Sozialismus drohten. Gleichzeitig bekannten sie sich zur parlamentarischen Demokratie als bevorzugte Regierungsform und verpflichteten sich den philosophischen und moralischen Werten, die den Westen politisch geformt haben und bis heute formen.

Die von zwei totalitären national-sozialistischen Regimen missbrauchte Idee der sozialen Demokratie wurde in Europa rehabilitiert. Das Godesberger Programm sollte später großen Einfluss auf die Entwicklung des Sozialismus in Spanien und Frankreich haben. Zudem sind seine Prinzipien die gleichen, auf die sich wenig später der italienische Eurokommunismus unter Enrico Berlinguer berufen sollte, einem Verfechter der westlichen Demokratie, der seltsamerweise von den Historikern oft vergessen wird. Dasselbe geschah mit christlich-sozialen Organisationen, die – zumindest teilweise – das Legat von Bad Godesberg übernehmen sollten. Zu guter Letzt: Die revolutionären Dissidenten, die dem Sowjetreich in verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas eine Ende bereiteten, kannten zwar das Godesberger Programm nicht, sie waren aber zweifellos vom gleichen freiheitlichen Geist erfüllt.

Nach dem Fall der Berliner Mauer eroberten die Ideen der sozialen Demokratie die Herzen und den Geist der Mehrheit der europäischen Bevölkerung, sei es in Ost-, Mittel- oder Westeuropa. Jedoch lauern immer noch antidemokratische Gefahren. Sozialistischer Populismus von »links« und Neofaschismus von »rechts« bedrohen die demokratische Stabilität Europas. Die Demokratie wird nie irreversibel sein (dieses Wort sollte aus allen Wörterbüchern gestrichen werden). Deshalb ist die Sozialdemokratie kein Idealzustand sondern vielmehr ein Ideal, das immer wieder erkämpft werden muss.

Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts

Die Idee der sozialen Demokratie hat auch in Lateinamerika bedeutende Fortschritte erzielt, auch wenn sie nicht immer von sozialdemokratischen Parteien vertreten wird. Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist die Region Teil der westlichen Demokratien geworden. Nach einer schrecklichen Zeit von Diktaturen, wie die der Militärjunta in Argentinien oder des grausamen Augusto Pinochet in Chile, ist Kuba heute das einzige Überbleibsel aus dieser Vergangenheit. Doch auch dort ist ein Weg aus der langen Nacht des realen Sozialismus erkennbar. Die Schritte der Regierungen in Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Uruguay und sogar in Argentinien, wo die Vergangenheit noch immer mystifiziert und verehrt wird, scheinen von der sozialdemokratischen Idee geleitet zu werden. Die von Militärdiktaturen befreiten lateinamerikanischen Demokratien müssen jedoch noch eine letzte Gefahr bestehen: den sogenannten »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, ein letzter – und in seiner Essenz zutiefst reaktionärer – Versuch, in einigen Ländern der Region national-sozialistische Regime zu errichten.

Niemand sollte versuchen, die Theorie des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« zu verstehen, denn eine solche Theorie hat es nie gegeben. Trotzdem darf sie nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Der Begriff »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« umfasst staatsdirigistische Regime mit klar autoritären und sogar militaristischen Tendenzen. Ihre Führer gelangen an die Macht, indem sie unleugbar authentische soziale Bewegungen kooptieren und manipulieren. Alle diese Regime sind das Ergebnis tiefgreifender institutioneller Krisen in den wirtschaftlich und politisch am wenigsten entwickelten Ländern der Region. Auf die eine oder andere Weise bekennen sich die in der ALBA zusammengeschlossenen Staaten des Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu einem nationalen Sozialismus schlicht stalinistischer Prägung. Keiner hat ein einigermaßen kohärentes Regierungsprogramm, aber alle haben ein Projekt zur Machtergreifung. Daher ist ihr Verhältnis zur Demokratie ausschließlich instrumentell. Die demokratischen Verfahren sind für sie nicht mehr als die Taktik zu einer Strategie, die die Voraussetzung für ihr Verbleiben an der Macht schaffen soll. Ihre Erfolgsaussichten sind jedoch zweifelhaft. Der Grund liegt auf der Hand: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts hat in Venezuela – dem Land, das ihn vorantreibt – bereits seine Endphase erreicht. Am 2. Dezember 2007 hat die Mehrheit der Venezolaner per Volksentscheid die Ambitionen des Caudillos Chávez auf Perpetuierung seiner Macht vereitelt. Das war nicht nur die Niederlage einer Person. An diesem Tag scheiterte ein politisches Projekt.Ursache für das Scheitern des Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist nicht nur der sich ihm – möglicherweise auch in Zukunft – widersetzende Volkswillen, sondern auch, dass er sich auf der Grundlage von zwei offenkundig falschen Voraussetzungen (um nicht Lügen zu sagen) zu legitimieren versucht.

Die erste ist die Vorstellung eines gemeinsamen Kampfes dieser Länder gegen das »Imperium«, d.h. die USA. Faktisch steht jedoch kein Mitglied der ALBA in einem realen territorialen, wirtschaftlichen oder politischen Konflikt mit den USA. In Venezuela, dessen Abhängigkeit von den USA sich unter der Chávez-Regierung noch verstärkt hat, glauben nicht einmal die Chavisten selbst, dass tatsächlich so etwas wie ein nationaler Befreiungskampf stattfindet. Der Kampf gegen das Imperium ist lediglich ein medienwirksamer Slogan, der weit von der politischen Realität Venezuelas entfernt ist.

Die zweite falsche Voraussetzung ist noch weiter von der Wahrheit entfernt. Sie gründet auf der Vorstellung, die Regierungen der ALBA befänden sich im Kampf gegen »Oligarchien«. Keine der national-sozialistischen Regierungen in Lateinamerika sieht sich jedoch mit einer politischen oder gesellschaft-lichen Oligarchie konfrontiert. Die einzige Ausnahme scheint der Fall von Evo Morales in Bolivien zu sein. Doch dort handelt es sich um eine ganz eigene, allerdings durchaus in breiten Schichten verwurzelte, regionale Autonomiebewegung. Ansonsten gilt das Gegenteil: In Nicaragua ist der Hauptgegner der Regierung eine Abspaltung des Sandinismus, der nicht gerade oligarchisch ist. In Venezuela ist der nicht-oligarchische Charakter der Opposition noch viel deutlicher. Durch das konzertierte Handeln von Studenten aller Universitäten des Landes hat sich dort wieder eine Zivilgesellschaft herausgebildet. Auch die politischen Strukturen haben sich auf bemerkenswerte Weise erneuert. Die drei größten Parteien sind Primero Justicia (»Zuerst Gerechtigkeit«), Un Nuevo Tiempo (»Eine Neue Zeit«) und Podemos (»Wir können es schaffen«). Letztere stammt aus den Anfängen des Chavismus und die beiden anderen werden von der Sozialistischen Internationale anerkannt.

Der große Verdienst von Chávez ist, die Voraussetzungen für die Wiederent-stehung einer Struktur geschaffen zu haben, die den politischen Wechsel ermöglichen kann. Dies geschah jedoch gegen seinen Willen und den des von ihm verkörperten Staatsmilitarismus. Aus dem genannten Mitte-Links-Parteienspektrum (und nicht aus irgendeiner Oligarchie) wird zweifellos die künftige demokratische Regierung hervorgehen, die Venezuela so dringend benötigt. Dann wird auch die Regierung von Ecuador neue, weniger schwankende, realistischere und auf jeden Fall stabilere internationale Bündnisse suchen müssen (wenn sie es nicht bereits tut), als ihr derzeit der aus dem Ruder geratene »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« bietet.

Zum Glück, denn Lateinamerika gehört (wie ich schon oft gesagt habe) faktisch und zu Recht dem weniger geografisch als politisch definierten demokratischen Westen an, von dem es nicht abfallen darf – auch deshalb nicht, weil es nirgendwo sonst ein Zuhause hat.

Zumindest kein anderes als den Abgrund.

Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2008, ISSN: 0251-3552


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