Die extremen Bildungsungleichheiten in Lateinamerika sind allgemein bekannt und breit dokumentiert1. Trotz eines reichen Bestands an Forschungen zu Bildung und sozialer Ungleichheit blieb dieser wechselseitige Zusammenhang – nicht nur in Lateinamerika – in der Vergangenheit stabil. Das Scheitern der Herstellung von Bildungsgerechtigkeit kann nicht alleine mit mangelnder Steuerungskompetenz der Bildungspolitik oder einem allgemeinen Ressourcenmangel erklärt werden. Vielmehr ist eine relationale Analyse der Bildungsungleichheiten erforderlich, die den Blick auf die sozialen Kämpfe um die Verteidigung bzw. den Abbau von Bildungsprivilegien richtet2.
Den verschiedenen »linksgerichteten« Regierungen der Region, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Basis, politischer Positionen und den gesellschaftlichen Kontextbedingungen beträchtlich voneinander unterscheiden, ist gemeinsam, dass sie eine Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse anstreben. Ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik zielt auf den Abbau tradierter Privilegien und die Reduzierung sozialer Ungleichheit. Innerhalb des settings der politischen Reformen nimmt die Bildungspolitik jeweils eine hervorgehobene Rolle ein. Zwar unterscheiden sich die konkreten bildungspolitischen Maßnahmen der »linksgerichteten« Regierungen in Folge der Heterogenität der jeweiligen konkreten Bildungssituation und der spezifischen politischen Konstellationen in den verschiedenen Ländern deutlich. Unabhängig von diesen Unterschieden, so die hier vertretene These, kommt eine erste Bilanz der bildungspolitischen Reformen zu einer skeptischen Bewertung ihres Beitrages zum Abbau sozialer Disparitäten. Dies ist auf ein allgemeines Dilemma progressiver Bildungspolitik zurückzuführen: Einerseits laufen radikale Reformen Gefahr, einer gesellschaftlichen Entwertung des öffentlichen Bildungssystems Vorschub zu leisten und eine Flucht insbesondere der Mittelschicht in den privaten Bildungssektor zu befördern. Andererseits unterminiert die Suche nach breiter gesellschaftlicher Unterstützung für politische Reformen die Möglichkeit tiefgreifender Veränderungen. Dies bremst den Reformprozess bzw. impliziert Konzessionen an privilegierte politische und soziale Akteure.
Drei Faktoren der Bildungsungleichheit
Die Entwicklung der Bildungssituation in Lateinamerika hat ein paradoxes Bild hinterlassen. Im Zuge der Bildungsexpansion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steigerte sich das durchschnittliche Bildungsniveau der Bevölkerung in allen Ländern der Region deutlich und die Analphabetismusraten konnten über die Verbreiterung der Einschulung stark reduziert werden. Zudem gelang es, die Benachteiligung von Mädchen und Frauen im Bildungssystem abzubauen, so dass gegenwärtig junge Frauen im Durchschnitt ein höheres Bildungsniveau aufweisen als ihre männlichen Altersgenossen3.
Trotz solch positiver Entwicklungen herrscht Einigkeit darüber, dass sich die Bildung in Lateinamerika seit langem in einer Krise befindet. Die Fortschritte konzentrieren sich auf quantitative Kennziffern und fallen zudem im interregionalen Vergleich – etwa mit Ostasien – mager aus4. Die Bildungspolitik in Lateinamerika sieht sich insbesondere mit hohen Wiederholungs- und Abbrecherquoten und eklatanten Bildungsungleichheiten konfrontiert.
Die Fokussierung der meisten bildungspolitischen Analysen auf quantitative Daten vernachlässigt die geringe Bildungsqualität und die steigende hierarchische Fragmentierung der Bildungssysteme. Die intergenerationelle Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem erklärt sich in Lateinamerika jedoch gerade durch das Zusammenspiel der drei Kategorien Bildungszugang, Bildungsqualität und hierarchische Fragmentierung des Bildungssystems. Weiterhin stellen diese Kategorien ein Analysemuster zur Verfügung, anhand dessen Potentiale und Grenzen aktueller bildungspolitischer Reformprozesse analysiert werden können5.
Bildungszugang
Obwohl sich der Zugang zu Bildung in Lateinamerika sukzessive für (fast) alle Bevölkerungsgruppen ausgeweitet und sich das durchschnittliche Bildungsniveau der Bevölkerung kontinuierlich erhöht hat, gestaltet sich der Bildungszugang und der Verbleib im Bildungssystem immer noch nach sozialen Kriterien – soziale Herkunft (insbesondere Einkommen und Bildungsniveau), ethnische Zuschreibung, Gesundheitszustand, Wohnort, Alter – hochgradig selektiv. Bildungsmisserfolg betrifft sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen in überproportionaler Weise. Insbesondere am Übergang von der Grund- zur Sekundarschule steigt in Lateinamerika die Zahl der Schulabbrecher/-innen sprunghaft an. Dieser Bildungsübergang wirkt als sozial selektives Scharnier auf die Fortsetzung der Schullaufbahn und bedeutet in vielen Ländern der Region für einen großen Teil der sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen bereits das Ende der Schulzeit.
Die Gründe hierfür liegen auch, aber nicht ausschließlich, in der sozialen Herkunft. Die Steigerung der direkten und indirekten Kosten des Schulbesuchs, das heißt Ausgaben für Lernmaterialien, Transport und Uniform einerseits und die limitierte Möglichkeit, auf dem Arbeitsmarkt zum Haushaltseinkommen beizutragen bzw. über haushaltsnahe Tätigkeiten die Familie zu entlasten, tragen zum vorzeitigen Schulabbruch vieler Kinder aus sozial benachteiligten Haushalten bei. Solche sozialen Rahmenbedingungen entziehen sich größtenteils der bildungspolitischen Einflussnahme, auch wenn Conditional-Cash-Transfers6, Schulspeisungsprogramme, Subventionen für Lernmaterialien, Schultransport und -uniformen den Bildungszugang von unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen durchaus steigern konnten7.
Diese Maßnahmen alleine reichen jedoch nicht aus, um den Bildungszugang von unterprivilegierten Schülern/-innen wirksam zu erhöhen. Die extrem hohen Wiederholungs- und Schulabbruchsquoten am Beginn der Sekundarschule legen nahe, dass neben sozialen Kontextbedingungen auch bildungssystemimmanente Gründe für diesen Missstand anzuführen sind. Während in vielen Ländern der Region das Grundschulangebot mittlerweile gut ausgebaut ist, mangelt es an ausreichenden und erreichbaren Bildungsangeboten im Bereich der Sekundarbildung. Dies ist nicht zuletzt eine Konsequenz der Umsetzung fokussierter bildungspolitischer Maßnahmen zur Armutsbekämpfung. Entsprechend des Modells des basic universalism sollten öffentliche Bildungsausgaben insbesondere die Grundbildung fördern, weil so die in Armut lebende Bevölkerung direkt unterstützt würde. Eine Konsequenz hieraus ist jedoch, dass am Ende der Grundschule der Besuch einer Sekundarschule gerade für die ländliche Bevölkerung und die städtischen Armen aufgrund fehlender Sekundarbildungsangebote häufig tatsächlich unerreichbar ist.
Weiterhin tragen die geringe Bildungsqualität, der Wandel des Lernumfeldes und der pädagogischen Praxis am Übergang zur Sekundarbildung, fehlende Sichtbarkeit der Relevanz der Bildungsinhalte und bisweilen Sicherheitsbedenken in Folge von Gewalt und Kriminalität zum vorzeitigen Schulabbruch bei. Wenngleich die Bildungsqualität auch in der Grundschule nicht hoch ist, verstärken sich die allgemeinen Qualitätsprobleme der Bildungssysteme in Lateinamerika in der Sekundarbildung nochmals und wirken einer Fortführung der Bildungslaufbahn entgegen. Hinzu kommt, dass zu Beginn der Sekundarschule eine Vielzahl neuer Fächer auf dem Lehrplan steht und der vormals schülerzentrierte Unterricht, in dem die Lehrkraft eine enge Bezugsperson der Kinder darstellt, einem anonymisierten Bildungsbetrieb weicht. Die Schulabbruchquote ist in der Sekundarstufe wesentlich höher als in der Grundschule, obwohl es den Schulabbrechern/-innen – wie die Debatte um Jugendliche, die weder zur Schule gehen noch arbeiten zeigt – oftmals nicht gelingt, sich formelle oder informelle Erwerbsmöglichkeiten zu erschließen8. Von allen genannten Faktoren sind besonders Kinder aus unterprivilegierten Haushalten negativ betroffen. Die Schwächen der Bildungssysteme benachteiligen somit die sozial unterprivilegierte Bevölkerung in besonderem Maße und verhindern einen Abbau von sozialen Ungerechtigkeiten im Bildungssystem9.
Bildungsqualität
Der Zugang zum Bildungssystem alleine garantiert noch keinen Lernerfolg. Die geringe Qualität der Bildung in Lateinamerika wurde von verschiedenen international vergleichenden, standardisierten Leistungstests (PISA, LLECE, SERCE) bestätigt und wird mittlerweile von Politik und Gesellschaft als Problem erkannt10. Die Bildungsqualität ist nicht nur im Allgemeinen unzureichend, sondern es lassen sich in Abhängigkeit zu sozialen Kriterien ungleiche Bildungsqualitäten innerhalb der Bildungssysteme Lateinamerikas feststellen. Sozial benachteiligte Kinder haben nicht nur einen eingeschränkten Bildungszugang, sie erhalten zudem in der Schule eine qualitativ minderwertige Bildung.
Der Qualitätsmangel der Bildung ist in Lateinamerika keineswegs ein neues Phänomen. Zum Teil kann er mit der Bildungsexpansion selbst erklärt werden: Die beschleunigte Aufnahme vormals exkludierter Bevölkerungsgruppen in das Bildungssystem bzw. in höhere Bildungsstufen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte die Bildungssysteme Lateinamerikas bei anhaltendem Bevölkerungswachstum vor große Herausforderungen. Angesichts knapper Ressourcen musste zwischen Quantität und Qualität abgewogen werden. Die Folgen der Priorisierung von Quantität sind bekannt: Ungeeignete und marode Schulgebäude und unzureichende bzw. veraltete Lehr- und Lernmaterialien treffen auf schlecht ausgebildete, Unterbezahlte und überlastete Lehrkräfte, die in überfüllten Klassenräumen unterrichten sowie fehlende bzw. häufig inadäquate Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte und Schuldirektoren. Hinzu kommt eine geringe Unterrichtszeit als Folge der verbreiteten Praxis des Unterrichtens in mehreren Schichten, häufigen Schulausfalls und die Integration verschiedener extrapädagogischer, im weitesten Sinne sozialpolitischer Aufgaben in den Schulalltag. Vor dem Hintergrund erschwerter Rahmenbedingungen durch steigende Armutszahlen infolge der sozialen Krise können unzureichende Lernerfolge somit kaum verwundern.
Infolge des zunehmenden Bewusstseins über den Zusammenhang von sozialer Position und Bildungsergebnissen wurden seit den 1990er Jahren, oftmals auf die arme Bevölkerung fokussierte, bildungsrelevante Sozialleistungen wie Schulspeisungen, Gesundheitsfürsorge oder die Subventionierung der Schuluniformen nicht mehr alleine als Instrumente zur Steigerung des Bildungszugangs begriffen. Zusätzlich kam ihnen die Aufgabe zu, die Vorbedingungen des Lernerfolges,11 von Kindern aus unterprivilegierten Haushalten innerhalb der Schule erst herzustellen. Ohne Zweifel gehen von solchen sozialpolitischen Maßnahmen im Schulkontext Verbesserungen der Lebenssituation für in Armut und extremer Armut lebende Kinder aus. Sie sollten jedoch nicht als Instrumente zur Reduzierung der Bildungsungleichheit verklärt werden12. Die vermehrte Übernahme von Aufgaben der Sozialpolitik, Sozialarbeit und Sozialpädagogik durch die Bildungsinstitutionen zielt auf die Bedingung der Möglichkeit von Lernerfolg – also auf Voraussetzungen, die von Schülern der Mittel- und Oberschicht selbstverständlich mitgebracht werden. In der Konsequenz führt dies zu einem vollkommen unterschiedlichen Schulalltag, der sich in ungleichen Lernerfolgen widerspiegelt. Wird in Schulen mit einer Konzentration der armen Bevölkerung versucht, deren soziale Benachteiligungen aufzufangen, kann in Schulen der Mittel- und Oberschicht der Unterrichtsstoff direkt behandelt werden.
Ebenfalls auf eine Verbesserung der Bildungsqualität insbesondere für die arme Bevölkerung zielen der Ausbau von Ganztagsschulen oder Gehaltszulagen für Lehrkräfte, die an »Problemschulen« arbeiten. Doch auch diese Maßnahmen bieten Grund zur Skepsis: Die Gehaltszulagen sind in der Regel zu niedrig, als dass sie besonders befähigtes Personal anlocken könnten und die vielschichtigen Probleme, die zu einer geringen Bildungsqualität an diesen Schulen führen, können kaum durch höhere Gehälter ausgeglichen werden. Auch ein längerer Schultag kann sich nur dann positiv auf die Lernerfolge auswirken, wenn in den Bildungsinstitutionen die Voraussetzungen für qualitativ hochwertige Bildung bestehen. Gerade dies ist in Schulen, die von unterprivilegierten Schülern/-innen besucht werden, häufig nicht der Fall. Die Behebung des Qualitätsdefizits kann nicht mit punktuellen Aktionen erreicht werden. Sie erfordert umfassende und abgestimmte Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungsqualität und nicht zuletzt deutliche Ausgabensteigerungen.
Der Versuch, die Bildungsqualität am Ende des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund sinkender Staatsausgaben durch Effizienzsteigerungen mittels einer Privatisierungs- und vor allem einer Dezentralisierungspolitik zu erhöhen, ist – an den eigenen Ansprüchen gemessen – gescheitert13. Mit der Kritik des bildungspolitischen Zentralismus wurde durchaus ein wichtiger Punkt für die Erklärung der Bildungsmisere aufgegriffen, der zudem zu einer stärkeren Orientierung der Lerninhalte auf den lokalen bzw. regionalen Kontext beitragen und so die Relevanz der Bildungsinhalte für die Schüler/-innen erhöhen kann. Das zentrale Thema der (ungleichen) sozialen Bedingungen der Bildung sowie der Ungleichheiten der Bildungsqualität innerhalb der Bildungssysteme Lateinamerikas wurde hingegen von diesen Reformen der 1980er und 1990er Jahre nicht aufgegriffen. Die weitere Ausdifferenzierung des öffentlichen Bildungsangebotes brachte vielmehr eine Zunahme der hierarchischen Fragmentierung hervor, die einer Steigerung der sozialen Gerechtigkeit im Bildungssystem entgegenwirkt.
Hierarchische Fragmentierung
Die Bildungssysteme in Lateinamerika zeichnen sich durch ein hohes Maß an hierarchischer Fragmentierung aus. Das heißt, es existieren verschiedene Bildungsoptionen nebeneinander, die einander offiziell gleichgestellt sind, deren gesellschaftliche Wertschätzung sich jedoch de facto deutlich unterscheidet. Der Grad der hierarchischen Fragmentierung der Bildungssysteme in Lateinamerika nimmt gegenwärtig tendenziell zu. Dies ist eine Konsequenz aus der heterogenen sozialen Zusammensetzung der Schüler/-innen infolge der Bildungsexpansion, der mangelnden Bildungsqualität vieler, vor allem öffentlicher Bildungseinrichtungen und der Wahrnehmung bestimmter Bildungsangebote als qualitativ minderwertig bzw. besonders exklusiv, sowie dem Distinktionswillen privilegierter Bevölkerungsgruppen.
Mit der Bildungsexpansion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wich die relative Homogenität der Schülerschaft einer Pluralisierung ihrer sozialen Herkunft und kulturellen Identitäten. Diese Veränderungen zeigten sich insbesondere in der Sekundarbildung, deren Zugang in Lateinamerika lange Zeit vor allem auf die Mittel- und Oberschicht begrenzt und als Vorbereitung auf das Universitätsstudium konzipiert war. Die Einführung der technisch-professionellen Sekundarschulen ermöglichte Schülern/-innen aus unterprivilegierten Familien eine gewisse Aufwärtsmobilität, indem sie sich für den formellen Arbeitsmarkt qualifizieren konnten. Gleichzeitig verhindert dieser Bildungsweg jedoch den Aufstieg in höhere soziale Positionen. Obwohl die Bildungstitel der technisch-professionellen Schulen in der Regel denjenigen an allgemein bildenden Sekundarschulen offiziell gleichgestellt sind, besitzen sie de facto eine deutlich geringere Wertschätzung und wirken dadurch als Puffer für die Mittelschicht gegenüber Bildungsaufsteigern/-innen14. Weitaus stärker tritt die soziale Abwertung verschiedener Bildungszertifikate bei fokussierten Maßnahmen für Problemschulen oder bei speziellen Bildungsangeboten für die indigene Bevölkerung (bilinguale, interkulturelle oder multikulturelle Schulen) zu Tage. Diese gleichzeitig stigmatisierten und stigmatisierenden Bildungsinstitutionen vergeben Bildungszertifikate, deren gesellschaftliche Anerkennung gering ist und die auf dem Arbeitsmarkt sogar diskriminierend wirken können.
Qualitätsunterschiede zwischen den verschiedenen Bildungsoptionen erklären die hierarchische Fragmentierung der Bildungssysteme nur zum Teil. Hinzu kommt, dass die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft die Qualitätswahrnehmung der verschiedenen Bildungswege beeinflusst. Nicht alleine der Besitz eines Bildungstitels oder entsprechender Kompetenzen sind entscheidend, sondern auch die gesellschaftliche Anerkennung des jeweiligen Bildungstitels als Kompetenznachweis.
Infolge der Bildungsexpansion haben die höheren Bildungsstufen zwar ihre Exklusivität verloren, die relative soziale Homogenität der Schüler/-innen einzelner Bildungsinstitutionen blieb hiervon jedoch weitgehend unberührt. Die Fragmentierung des Bildungssystems und die zunehmende soziale Distanz zwischen unterschiedlichen Stadtvierteln führte dazu, dass die sozialen Unterschiede zwischen verschiedenen Schulen anstiegen. In einzelnen Schulen findet immer seltener eine gemeinsame Sozialisation von Kindern unterschiedlicher sozialer Gruppen statt15. Die gesellschaftliche Abwertung öffentlicher Bildungsinstitutionen ist gleichzeitig Grund und Folge des Attraktivitätsgewinns privater Bildungsinstitutionen16. Hatte die Oberschicht seit jeher das (außeruniversitäre) öffentliche Bildungssystem gemieden, folgt aus dem Trend der Abwanderung der Mittelschicht aus dem öffentlichen Bildungssystem eine Abnahme der politischen Bedeutung der öffentlichen Bildung17. Selbst Familien mit geringem Einkommen versuchen mittlerweile vermehrt, die Bildungsergebnisse und Lebenschancen ihrer Kinder über den Besuch von, meist religiösen und teilweise staatlich subventionierten, low-fee private schools zu verbessern. Dies führt zu einer weiteren Fragmentierung auch des privaten Bildungssektors, der nunmehr – zumindest in den Großstädten – differenzierte Angebote für unterschiedliche soziale Gruppen anbietet.
Der Anteil von Schülern, die in privaten Bildungsinstitutionen unterrichtet werden, schwankt innerhalb Lateinamerikas je nach Land und Bildungsstufe zwar beträchtlich – im Vergleich zu den Ländern der Triade zeigt sich jedoch insgesamt sowohl eine höhere quantitative Bedeutung des privaten Bildungssektors (siehe Tabelle) als auch eine größere Distanz der Mittel- und Oberschicht zu öffentlichen Bildungsangeboten.
Mit Blick auf die regionale Tendenz zu einer zunehmenden hierarchischen Fragmentierung der Bildungssysteme in Lateinamerika kam die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Comisión Económica para América Latina y el Caribe, CEPAL) zu dem ernüchternden Fazit, dass in Lateinamerika »Schulen für Arme und Schulen für Reiche koexistieren«18. Die Schule ist in Lateinamerika gegenwärtig keine Institution gesellschaftlicher Integration, sondern sie verfestigt bestehende soziale Ungleichheiten. Die vorherige Übergehung der sozialen und kulturellen Diversität der Bevölkerung durch die Bildungssysteme wurde zwar durch die Etablierung spezieller Bildungsangebote relativiert. Die Folge hiervon war jedoch keine gleichberechtigte Anerkennung der Bildungsprogramme, sondern eine verstärkte hierarchische Fragmentierung gemäß Reputation bzw. Stigma der Bildungsinstitution, die einer Erhöhung der sozialen Gerechtigkeit im Bildungssystem entgegensteht.
Linkswende zur Bildungsgerechtigkeit?
Den gegenwärtigen linksgerichteten Regierungen in Lateinamerika ist gemeinsam, dass sie der Bildungspolitik hohe Relevanz für ihre politischen Reformbemühungen zuschreiben. Dabei lassen sich auf diesem Politikfeld sowohl Kontinuitäten mit ihren Vorgängerregierungen als auch politische Richtungsänderungen und Innovationen beobachten.
Als bedeutende bildungspolitische Veränderungen sind zunächst kräftige Ausgabensteigerungen zu nennen. Mit dem erhöhten finanziellen Handlungsspielraum wurde in Kontinuität zu den Vorgängerregierungen die Ausweitung des Bildungszuganges auch unter Rückgriff auf Conditional-Cash-Transfers und fokussierte bildungspolitische Maßnahmen fortgesetzt bzw. teilweise beschleunigt. Außerdem wurden die zusätzlichen finanziellen Ressourcen für den Ausbau der Erwachsenenbildung, die insbesondere in Form von Alphabetisierungskampagnen in Lateinamerika während der letzten Jahre eine Renaissance erfuhr, die Erhöhung der notorisch geringen Lehrer/-innengehälter, die Abschaffung von Zugangsbeschränkungen durch offizielle oder inoffizielle Schulgebühren sowie für die Ausweitung von Ganztagsangeboten eingesetzt.Die angesprochenen Maßnahmen werden in Fachkreisen größtenteils positiv bewertet und eignen sich demnach kaum zur Erklärung der gegenwärtigen bildungspolitischen Konflikte. Zwar mögen seitens der Mittel- und Oberschicht Befürchtungen um den Erhalt ihrer Bildungsprivilegien aufgrund der sinkenden Exklusivität des Zugangs zur Sekundarbildung und zur höheren Bildung eine ablehnende Haltung gegenüber den bildungspolitischen Reformen mitbegründen. Die manifesten bildungspolitischen Konflikte entzünden sich jedoch an anderer Stelle: Nicht die Ausweitung des Bildungszugangs wird in Frage gestellt, sondern die Qualität der öffentlichen Bildung, Veränderungen des Curriculums und der Lehrmethoden, die Einführung neuer Bildungsprogramme und die Neujustierung bildungspolitischer Kompetenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Akteuren.
Es lassen sich verschiedene bildungspolitische Reformpfade der linksgerichteten Regierungen in Lateinamerika identifizieren. An Hand der Beispiele Uruguays und Venezuelas zeigt sich ein allgemeines Dilemma progressiver Bildungspolitik. In Uruguay versucht die Regierung der Frente Amplio (FA) verschiedene bildungspolitisch relevante Akteure in die Reformvorhaben einzubinden. Diese Strategie bremst bzw. verhindert jedoch gleichzeitig tiefgreifende Reformen, sodass im Ergebnis nur graduelle bildungspolitische Veränderungen umgesetzt werden. Im Gegensatz dazu unterstreicht der Fall Venezuelas unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez die Fallstricke eines Bruchs mit der bildungspolitischen Vergangenheit. Die unilateral durchgeführten und sehr weit reichenden bildungspolitischen Veränderungen der venezolanischen Regierung führen in einem polarisierten gesellschaftlichen Umfeld zu einer gesteigerten hierarchischen Fragmentierung des Bildungssystems, die eine zunehmende Hinwendung zu privaten Bildungsinstitutionen zur Folge hat.
Uruguay: Graduelle bildungspolitische Transformationen
Bildung nimmt innerhalb der sozialpolitischen Strategie der aktuellen Regierung in Uruguay eine zentrale Stellung ein, wie der kontinuierliche und deutliche Anstieg der Bildungsausgaben seit ihrer Regierungsübernahme 2005 zeigt. Dennoch strebt die FA-Regierung keinen bildungspolitischen Bruch mit der Vergangenheit an; vielmehr soll das Bildungssystem mittels einer kontinuierlichen Transformation verändert werden19. Der Großteil der zusätzlichen Ressourcen wird für die Erhöhung der sehr niedrigen Lehrer/-innengehälter, den (moderaten) Ausbau von Ganztagsschulen im Primarbereich sowie die Einführung einer Vielzahl kleinerer fokussierter Maßnahmen eingesetzt, die entweder den vorzeitigen Schulabbruch von »Risikoschüler/-innen« verhindern oder die Reintegration von bereits aus dem Bildungssystem ausgeschiedenen Schülern/-innen herbeiführen soll20. Mit diesen Maßnahmen werden in erster Linie die Folgen der vielfältigen Probleme des uruguayischen Bildungssystems, nicht aber deren Ursachen bearbeitet. Das heißt, die Maßnahmen mögen die (Re-)Integration von Kindern und Jugendlichen in das Bildungssystem unterstützen. Sie sind jedoch kaum in der Lage, die Gründe für das systematische und massive Auftreten von Schulmisserfolg im Sekundarbereich insbesondere der unterprivilegierten Bevölkerung – wie die negativen sozialen Kontextfaktoren und die allgemein geringe und zudem ungleich verteilte Bildungsqualität – zu beseitigen.
Weiterführende bildungspolitische Veränderungen wurden entweder nicht angegangen oder endeten, wie das neue Bildungsgesetz21, mit für alle Seiten unbefriedigenden Kompromissen, so dass in Uruguay insgesamt die bildungspolitische Kontinuität überwiegt. Dies liegt nicht alleine am Mangel eines klaren Reformkonzeptes der Regierung. Vielmehr nutzen die der Regierung nahestehenden Lehrergewerkschaften und die mit weitgehenden Autonomierechten ausgestattete Bildungsadministration ihren politischen Einfluss, um ihre Skepsis gegenüber bildungspolitischen Reformen zum Ausdruck zu bringen und diese zu erschweren bzw. zu verlangsamen22.
Eine Ausnahme stellt der Plan Ceibal dar: Uruguay ist das erste Land, in dem die Initiative One Laptop per Child flächendeckend in den öffentlichen Grundschulen eingeführt wurde. Mittlerweile wird das Programm auf die Sekundarschulen des Landes ausgedehnt. Der Plan Ceibal zielt auf die Reduzierung der bestehenden Ungleichheiten des Technologiezuganges und der Technologienutzung, soll die Schüler/-innen des Landes im Umgang mit Computern und bei der Informationssuche im Internet unterstützen und den Lehrkräften neue didaktische Möglichkeiten für die Vermittlung der Lehrinhalte geben. Dadurch, dass auch andere Haushaltsmitglieder die Geräte mitbenutzen und Internet Hotspots an Schulen und öffentlichen Gebäuden eingerichtet werden, soll sich zudem der Zugang zum Internet der gesamten Bevölkerung erhöhen.
Die Einführung des Programms erfolgte ab 2007 auf Initiative von Präsident Tabaré Vázquez an den bildungspolitischen Institutionen vorbei. Dies ermöglichte die zügige Implementierung des Plans unter Umgehung von gesellschaftlichem und politisch-institutionellem Widerstand. Trotz einiger Umsetzungsprobleme entwickelte sich der Plan Ceibal schnell zu einem politischen Erfolg und wurde zu einem der Aushängeschilder der Regierung Vázquez (2005-2010). Allerdings ist trotz werbewirksamer Bilder und unzweifelhafter Verbesserungen des Technologiezugangs vom Plan Ceibal keine Nivellierung der gesellschaftlichen Kluft hinsichtlich der Nutzung neuer Informationstechnologien zu erwarten. Auch bezüglich internetfähiger Computer gilt: die Angleichung des Zugangs ist nicht identisch mit der Angleichung der Resultate.
In einer Bilanz der Bildungspolitik der FA-Regierung ist zu konstatieren, dass die Schüler/-innenzahl auch wegen der demographischen Stagnation und einem relativ hohen Deckungsgrad sogar leicht rückläufig sind. Im Sekundarbereich nahmen die Wiederholungsquoten leicht zu, während der vorzeitige Schulabbruch seit 2007 rückläufig ist. Trotz höherer Bildungsausgaben hat sich die Bildungsqualität – im bildungspolitisch sehr kurzen Zeitraum von sechs Jahren – nicht nennenswert verbessert. Der Grad der hierarchischen Fragmentierung ist, trotz universalistisch ausgerichteter bildungspolitischer Ansätze (z.B. Plan Ceibal), durch verschiedene fokussierte bildungspolitische Maßnahmen und eine Zunahme der Bedeutung privater Bildungsinstitutionen leicht angestiegen23. Viele der bildungspolitischen Reformmaßnahmen der linksgerichteten Regierung erhalten mittlerweile eine breite gesellschaftliche Zustimmung, nicht zuletzt deshalb, weil sie bestehende bildungspolitische Privilegien nicht ernsthaft in Frage stellen können.
Vor dem Hintergrund schleppender bildungspolitischer Reformen ist denkbar, dass unter der FA-Regierung politische Maßnahmen jenseits der klassischen Bildungspolitik am ehesten zur Steigerung der sozialen Gerechtigkeit im Bildungssystem beigetragen haben. Gemeint sind sozialpolitische Reformen zur Armutsreduktion und zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen24. Zwar sind diese Programme nicht speziell auf Kinder und Jugendliche zugeschnitten, vor dem Hintergrund der überdurchschnittlich hohen Kinderarmut in Uruguay tragen sie dennoch zu einer Verbesserung der sozialen Situation von unterprivilegierten Kindern und Jugendlichen bei25 und unterstützen – außerhalb der Schule – die Herstellung der sozialen Vorbedingungen für einen späteren Schulerfolg. Gelänge es, über die sozialpolitischen Reformen tatsächlich eine Reduzierung von Armut und sozialer Ungleichheit herzustellen, wäre auch dem Ziel sozialer Gerechtigkeit im Bildungssystem ein Dienst erwiesen. Zumindest die Halbierung der Armutszahl von 25,7% im Jahr 2006 auf 12,6 % 2010 weist in diese Richtung26. Für die Bildungspolitik bedeutet dies aber, dass die Ansicht über Bildung könne soziale Ungleichheit wirksam abgebaut werden, zumindest relativiert und die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Bildung und sozialer Ungleichheit stärker betont werden muss. Anders gesagt, nur wenn die soziale Ungleichheit reduziert wird, kann es auch zu einer anhaltenden Verringerung der Bildungsungleichheit kommen!
Venezuela: Fallstricke eines bildungspolitischen Bruchs mit der Vergangenheit
Unabhängig von den verschiedenen Metamorphosen des bolivarischen Projektes gehört die Bildungspolitik seit Beginn der Regierungszeit von Chávez (1999) zu den zentralen (sozial-)politischen Themen, mit denen die »soziale Schuld«, der als neoliberal diffamierten Vorgängerregierungen getilgt werden soll. Angesichts der krisenhaften Situation der venezolanischen Bildung am Beginn der Regierungszeit von Chávez standen zunächst die Erhöhung des Bildungsetats, die Ausdehnung des Bildungszugangs und die qualitative Verbesserung der Bildung durch die Stärkung der Lehrerausbildung, zusätzliche Investitionen in die Schulinfrastruktur und eine größere Beteiligung des Schulumfeldes an den Bildungsprozessen auf der bildungspolitischen Agenda.
Bereits für das Schuljahr 1999/2000 initiierte die Regierung das Projekt der Escuelas Bolivarianas, das positive Erfahrungen eines 1990 eingeführten Pilotprojektes im Staat Mérida mit ausgedehntem Schultag, verschiedenen extracurricularen Bildungsangeboten und integrierten Schulspeisungsprogrammen aufnahm. Die Regierung unterschätzte jedoch die mit der Umsetzung ihres ambitionierten Planes verbundenen organisatorischen Schwierigkeiten, finanziellen Belastungen und den Mehrbedarf an Personal. So konnten weder die quantitativen noch die qualitativen Ziele des Programms erreicht werden. Angesichts negativer Evaluationsergebnisse, verlor das Programm ab 2003 an bildungspolitischer Bedeutung. Spätere Umwandlungen weiterer Schulen in Escuelas Bolivarianas erfolgten unter Verwässerung der umfassenden pädagogischen und sozialen Anforderungen27.
Obwohl über politische Grenzen hinweg Einigkeit über grundsätzliche Probleme des venezolanischen Bildungssystems (Qualitätsdefizit, Bildungsungleichheit, hohe Wiederholungs- und Abbrecher/-innenquoten etc.) bestand und auch die Ausweitung des Bildungszugangs und das Projekt der Escuelas Bolivarianas allgemein positiv aufgenommen wurden, entwickelte sich die Bildungspolitik insbesondere nach dem Putschversuch 2002 zu einem der zentralen Konfliktfelder der venezolanischen Politik. Strebte die Regierung anfangs die Stärkung der öffentlichen gegenüber der privaten Bildung und die Reduzierung der Bildungsungleichheit und der sozialen Exklusion im Bildungssystem an, rückte seit 2005 zunehmend die explizit politische Dimension der Bildung im Zuge des Aufbaus des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«28 in den Vordergrund. Seitens der Opposition werden die Beschneidung der Rechte und der Finanzierungsmöglichkeiten privater Bildungsinstitutionen, Versuche der Regierung, die Bildungsinhalte zu ideologisieren, fehlende qualitative Standards der öffentlichen Bildung als Konsequenz der Vergabe von Lehrer/-innenstellen gemäß politischer Opportunität, die mangelhafte Ausstattung der Bildungsinstitutionen sowie nicht vorhandene Evaluationen des Bildungssystems vehement kritisiert29.
Die Misiones Educativas haben sich zu einem Kristallisationspunkt allgemeiner bildungspolitischer Konflikte in Venezuela entwickelt. Eingebettet in das 2003 eingeführte System von Sozialprogrammen der Misiones Sociales, wurden die Misiones Educativas als bildungspolitische ex-post Maßnahmen konzipiert. Sie richten sich primär an die Bevölkerung ab 16 Jahren, die ihre Bildungsambitionen im konventionellen Bildungssystem nicht erfüllen konnte. Ihr wird der konsekutive und beschleunigte Durchlauf von der Alphabetisierung bis zum Universitätsabschluss außerhalb des – aber unter Vergabe von äquivalenten Titeln zum –, konventionellen Bildungssystem ermöglicht. Ähnlich wie fokussierte bildungspolitische Maßnahmen zielen die Misiones Educativas auf die Bearbeitung der Symptome des Versagens des konventionellen Schulsystems, die Ursachen der Probleme des Bildungssystems beeinflussen sie hingegen nicht.
Dennoch entzünden sich – anders als in Uruguay – in Venezuela teils heftige Konflikte an den Misiones Educativas. Von der Regierung als Mittel zur sozialen Inklusion und Steigerung sozialer Gerechtigkeit gefeiert, wird seitens der Opposition kritisiert, dass die Qualität der Bildung in den Misiones Educativas sehr gering, die Ideologisierung der Inhalte besorgniserregend und die Kosten als Folge der ausufernden Korruption übermäßig hoch seien30. Die Gefahr einer Relativierung des Bildungsprivilegs infolge der steigenden Zahl von höheren Bildungsabschlüssen durch die Misiones Educativas führt zu besonders heftigen Abgrenzungen gegenüber diesen Bildungsoptionen. Hierdurch wird die gesellschaftliche Entwertung der Bildungstitel aktiv vorangetrieben.
Während die Misiones Educativas einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der sozialen Exklusion leisten und vielen Menschen nicht mehr für möglich gehaltene Bildungsoptionen eröffnen, muss ihr Potential für den Abbau von Bildungsungleichheit und die Steigerung sozialer Gerechtigkeit skeptisch beurteilt werden. Neben der geringen Qualität besteht das Problem vor allem darin, dass die Misiones Educativas gesellschaftlich entwertete Bildungstitel vergeben, die, in Anlehnung an die These von Collins31, den Charakter eines »politischen Kredentialismus« annehmen, also mehr über die politischen Einstellungen einer Person als über deren fachliche Fähigkeiten aussagen.
Auch im konventionellen Bildungssystem zeigen sich zunehmende Vorbehalte gegenüber der öffentlichen Bildung. Dabei werden die gleichen Argumente, mit denen die Bildung in den Misiones Educativas in Zweifel gezogen wird, in abgeschwächter Form reproduziert. Die Qualität der öffentlichen Bildung wird grundsätzlich angezweifelt und um allgemeine Sicherheitsbedenken bezüglich des Besuchs öffentlicher (insbesondere Sekundar-)Schulen sowie Befürchtungen über eine Politisierung sowohl der Einstellungspraxis von Lehrkräften als auch der Lehrinhalte ergänzt. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Polarisierung führt dies zu dem paradoxen Ergebnis, dass sich unter der Regierung Chávez, entgegen der Intention der Regierung, de facto eine Tendenz zur Erhöhung des Anteils von Schüler/-innen auf Privatschulen eingestellt hat.
In absoluten Zahlen bedeutet dies zwischen 2000 und 2009 einen Anstieg der Schüler/-innenzahl in privaten Bildungsinstitutionen um knapp 420.000. Ab 2004, das heißt zeitgleich zum wirtschaftlichen Aufschwung und der Verschärfung der bildungspolitischen Konflikte stieg der Anteil von Schülern/-innen in privaten Bildungsinstitutionen schnell und kontinuierlich von 17,1% (2004) auf gegenwärtig (2009) 20,8% an32. Auch wenn dies zum Teil damit erklärt werden kann, dass mehr Haushalte die nötigen finanziellen Mittel haben, um ihre Kinder in Privatschulen unterrichten zu lassen, spiegelt sich hierin ohne Zweifel auch das steigende Misstrauen innerhalb der Bevölkerung gegenüber dem öffentlichen Schulsystem wider.
Die Bilanz von 12 Jahren bolivarischer Bildungspolitik fällt ambivalent aus. Die venezolanische Regierung konnte eine neue Expansionsphase des Bildungssystems initiieren, die zu einer beeindruckenden Ausweitung des Bildungszugangs im Bereich der Vorschul-, Sekundar-, Tertiär- und Erwachsenenbildung führte. Bei anhaltendem Bevölkerungswachstum stagnierten hingegen die Schüler/-innenzahlen im Primarbereich und sind für das erste Schuljahr seit 2002 sogar rückläufig. Weder die Universalisierung des Bildungszugangs im Grundschulbereich noch die Durchsetzung des Rechts auf Bildung konnten erreicht werden. Dies ist sowohl auf die schwierige Erreichbarkeit der Schulen (sowohl auf dem Land als auch in den irregulären urbanen Armutsvierteln) als auch auf mangelnde Planungskompetenz und hohe Ineffizienz des Bildungsministeriums zurückzuführen33. Während fehlende Evaluationen eine Beurteilung der Entwicklung der Bildungsqualität in Venezuela erschweren, besteht kein Zweifel, dass die hierarchische Fragmentierung des venezolanischen Bildungssystems in den vergangenen 12 Jahren deutlich zugenommen hat.
Die venezolanische Regierung hat die Fallstricke des Bruchs mit der bildungspolitischen Vergangenheit unterschätzt. Die Umsetzung ihrer ambitionierten Reformpläne führte – in einem polarisierten politischen Umfeld – zu einer Diskreditierung dieser Maßnahmen in weiten Teilen der Gesellschaft. Infolge eines gesellschaftlichen Dissens’ über die Kriterien qualitativ hochwertiger Bildung werden Regierungsmaßnahmen zur Verbesserung der Bildungsqualität wie Lehrplanänderungen, stärkere schulische Mitbestimmung der organisierten lokalen Gemeinschaft über die umstrittenen Consejos Comunales34, die Ausweitung der Lehrer/-innenausbildung über die Mision Sucre und andere neu gegründete, regierungsnahe Universitäten von Regierungsgegner/-innen nicht als solche wahrgenommen, sondern scharf kritisiert. Selbst weniger konfliktbeladene Themen, wie Schulspeisungsprogramme, geringe Stipendien für bedürftige Kinder oder die Einführung der venezolanischen Variante des Plan Ceibals (Proyecto Canaima) stoßen wegen Korruptions- und Ideologisierungsvorwürfen auf Kritik35.
Schlussbemerkungen
Es ist bekannt, dass die sozialen Kontextbedingungen den Bildungserfolg einer Person maßgeblich beeinflussen. Dementsprechend kann es kaum verwundern, dass extrem ungleiche Gesellschaften wie in Lateinamerika auch eklatante Bildungsungleichheiten aufweisen. Gegenwärtig wandelt sich in Lateinamerika die Konfiguration der Bildungsungleichheit. Als Konsequenz aus der Bildungsexpansion nimmt die Bedeutung des Bildungszugangs und des Verbleibs im Bildungssystem (mit Ausnahme der höheren Sekundarbildung und der universitären Bildung) für die Erklärung von Bildungsprivilegien ab. Hingegen entwickeln sich unterschiedliche Bildungsqualitäten innerhalb des Bildungssystems und dessen zunehmende hierarchische Fragmentierung zu den zentralen Parametern, die eine Reduzierung der Bildungsungleichheit – trotz verbessertem Zugang – verhindern. Der enge wechselseitige Zusammenhang von sozialen Ungleichheiten und Bildungsungleichheiten bleibt trotz dieser Wandlungsprozesse bestehen. Gerade deshalb sollte Bildungspolitik nicht isoliert vom gesellschaftlichen Kontext betrieben oder analysiert werden.
Das bedeutet nicht, dass die Bildungspolitik gegenüber den sozialen Kontextbedingungen ohnmächtig wäre. Es gilt jedoch letztere in zweierlei Hinsicht zu berücksichtigen: Erstens kann Bildungspolitik nur dann die sozialen Disparitäten verringern, wenn sie in eine kohärente sozial- und wirtschaftspolitische Strategie zur Reduzierung sozialer Ungleichheiten eingebettet ist. Die Bildungspolitik alleine wird die eklatanten sozialen Ungleichheiten in Lateinamerika nicht wirksam verringern können. Der gesellschaftliche Kontext ist, zweitens, für die Formulierung von Bildungspolitik auch deshalb von hoher Bedeutung, weil die inhaltlichen und qualitativen Standards der Bildung allgemein anerkannt werden müssen. Gelingt dies nicht, besteht die Gefahr einer Entwertung bestimmter Bildungszertifikate bzw. einer Flucht der statushöheren Bevölkerungsgruppen aus dem öffentlichen Bildungssystem. Nur wenn sich die Bildungspolitik über die Ursachen und die Konsequenzen der hierarchischen Fragmentierung von Bildungssystemen bewusst ist, kann verhindert werden, dass sich die oben beschriebenen negativen Konsequenzen einstellen.
Für Lateinamerika besteht kein Zweifel, dass tiefgreifende bildungspolitische Reformen notwendig sind, um tradierte Bildungsprivilegien zu durchbrechen. Es gilt, die Bildungsqualität insgesamt zu verbessern, ungleiche Bildungsqualitäten innerhalb der Bildungssysteme zu verringern und gleichzeitig auf eine Reduzierung der hierarchischen Fragmentierung der Bildungssysteme hinzuwirken, ohne damit die Diversität der Bildungsoptionen einzuschränken und in einen, die gesellschaftliche Heterogenität negierenden, zentralistischen Dirigismus zurückzufallen. Das venezolanische Beispiel lehrt, dass es hierfür breiter politischer Allianzen bedarf. Das bildungspolitische Dilemma besteht jedoch gerade darin, dass der Aufbau solcher Bündnisse gleichzeitig die Umsetzung tiefgreifender bildungspolitischer Reformen erschwert.