Artículo
NUSO Nº Januar 2008

Von der Begeisterung zur Ratlosigkeit. Der Blick der europäischen Linken auf Lateinamerika

Zusammenfassung | In den 60er und 70er Jahren blickte die europäische Linke nach Lateinamerika und sah dort die Verwirklichung ihrer sozialistischen Träume, die auf dem alten Kontinent nicht möglich schienen; heute dagegen beobachtet man die politische Wende in der Region mit gewissem Unverständnis. Die europäischen Intellektuellen und Politiker fühlen sich von Führern wie Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien) und Rafael Correa (Ecuador) verunsichert und greifen zu dem Begriff des »Populismus«, um sie zu definieren. Dieser Begriff jedoch ist so dehnbar, dass er weniger über diejenigen aussagt, die ihn angeblich praktizieren, als über jene, die ihn in herabsetzender Absicht benutzen; dieselbe europäische Linke nämlich, die in Lateinamerika heute nicht mehr die in der Vergangenheit so bewunderten »guten Revolutionäre« findet.

Von der Begeisterung zur Ratlosigkeit. Der Blick der europäischen Linken auf Lateinamerika

Die sich seit den 90er Jahren häufenden Wahlsiege der Linken in Latein- amerika erstaunen immer wieder die Träger der öffentlichen Meinung in Europa. Wer erlebt hatte, welche Begeisterung die Kubanische Revolution von 1959, der Triumph der Unidad Popular in Chile 1970 und auch die sandinistische Machtübernahme in Nicaragua von 1979 nicht nur bei Linken, sondern auch bei einem beträchtlichen Teil der akademischen Welt hervorgerufen hatte, hatte nun so etwas wie ein Déjà-vu-Erlebnis.Damals stellten die von Fidel Castro, Salvador Allende oder Daniel Ortega geführten Regierungen das Modell eines eigenen Weges zu einem »demokratischen Sozialismus« dar, der sich von dem zur gleichen Zeit in Zentral- und Osteuropa herrschenden »Realsozialismus« radikal unterschied. So wurde in Frankreich jeder erfolgreiche revolutionäre Prozess Lateinamerikas zum Gegenstand hitziger Debatten innerhalb der Linken, was Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre auf ihre Weise zeigten, als sie 1960 einer Einladung Fidel Castros zu einem Aufenthalt auf Kuba folgten.

Zu jener Zeit und bis zum Ende der 70er Jahre befand sich die französische Sozialistische Partei (PS) in einer politischen Randposition zwischen der fest in der Macht verankerten Gaullistischen Bewegung einerseits und der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) als Hauptvertreterin der Arbeiterschicht andererseits. Lateinamerika erschien so als das gelobte Land, wo die Hoffnung auf ein von Moskau und den Interessen des Kalten Krieges unabhängiges sozialistisches Projekt noch lebte. Zu jenem Zeitpunkt, sicher auch unter dem Einfluss der Kommunistischen Partei (PCF) mit großer Wählerschaft und mit der sie sich punktuell verbündete, wies die Sozialistische Partei (PS) die Bezeichnung Sozialdemokratie noch von sich. Sie hatte sogar wirtschafts- und sozialpolitisch ambitionierte Regierungsprogramme, wie die, mit denen sie 1974 und 1981 zu den Präsidentschaftswahlen antrat.

Die europäische Sozialdemokratie im Spiegel Lateinamerikas

Die heutige europäische Linke hat mit der vor 30 Jahren wenig zu tun. Die ideologische Erneuerung, die Otto Kirchheimer in Bezug auf die deutsche Sozialdemokratische Partei (SPD) prophezeite, als diese sich mit ihrem Godesberger Programm von 1959 von einer marxistisch und klassenkämpferisch orientierten Arbeiterpartei zur Volkspartei wandelte, setzte sich schließlich bei fast allen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien Europas durch. Dies gilt sogar für die französische Sozialistische Partei (PS), obwohl sie bei vielen ihrer europäischen Partner auch heute noch als antiquiert angesehen wird, da einige ihrer Führer sich weigern, den wirtschaftlichen Liberalismus ohne Abstriche zu akzeptieren. Während zum Beispiel alle sozialdemokratischen Parteien ohne Vorbehalte dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) zustimmten, stellte eine Minderheit der PS-Mitglieder die Vorteile einer quasi uneingeschränkten Marktwirtschaft in Frage. Es steht außer Frage, dass diese Position für Anthony Blair, Gerhard Schröder, Lionel Jospin und Felipe González - den Autoren des Umbaus der europäischen Sozialdemokratie zu dem, was man seitdem als »Sozial-Liberalismus« definiert – einen Anachronismus darstellt und in ihren Augen die Unfähigkeit der französischen Sozialisten zum Ausdruck bringt, die Welt zu akzeptieren wie sie ist.

Die europäische Linke blickt heute erneut nach Lateinamerika, in der Hoffnung, dort wie schon früher einen Ausweg aus ihrem eigenen Dilemma zu finden. Aber diesmal sind ihre Beweggründe andere. In früheren Zeiten war der »Ferne Westen« das Reich des bewaffneten Widerstands, das eine sozialistische und revolutionäre Zukunft verhieß. Die siegreichen Guerillas in Havanna oder Managua nährten Hoffnungen, die in Europa definitiv mit dem Ende der »wilden Jahre« verschwunden waren, deren herausragendstes Symbol der französische Mai ´68 gewesen war. Sowohl in Frankreich und Deutschland als auch in Italien waren die großen Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg und die Studenten- und Arbeiterkonflikte nur ein kurzer Frühling ohne Perspektive. Zu jener Zeit satirisierte der venezolanische Schriftsteller Carlos Rangel die idealisierte Vorstellung der europäischen linken Intellektuellen als nostalgische Utopie, die in Lateinamerika verzweifelt die »guten Revolutionäre« suchte, die es auf dem alten Kontinent nicht mehr gab.

Heute beobachten europäische linke Politiker und Intellektuelle perplex diese politisch brodelnde Region, von deren politischen Führern sie geglaubt hatten, dass sie – wie sie selbst – längst von den Vorteilen der Marktwirtschaft überzeugt wären. 1999 beschrieb Javier Santiso die Konversion der »guten Revolutionäre« zu »guten Liberalen« im Rahmen der Redemokratisierung als einen Prozess, der von »der Enttäuschung gegenüber den Revolutionen« angetrieben werde und charakterisiert sei von »der Politik des Möglichen, von einer Wirtschaft und einer Politik, die mehr auf die Ethik der Folgen als auf die Ethik der Überzeugungen sieht«. Eine Analyse, die sich auf die pragmatische und gleichzeitig liberale Politik von Staatschefs wie dem Chilenen Ricardo Lagos und dem Bolivianer Jaime Paz Zamora stützte, welche sich selbst als »moderne Linke« bezeichneten.

Die Protagonisten der Wahlsiege der Linken seit dem Ende der 90er Jahre haben mit ihren Vorgängern auf den ersten Blick tatsächlich nichts gemein, auch wenn sich Hugo Chávez in seinem ersten Wahlkampf noch zur »Neuen Mitte« bekannte. Betrachtet man die Regierungen von Luiz Inacio Lula da Silva in Brasilien, Evo Morales in Bolivien, Néstor Kirchner in Argentinien oder Rafael Correa in Ecuador, so kann man bei allen eine Ablehnung der neoliberalen Wirt- schaftspolitik und ihrer Folgen erkennen, die dem ganzen südamerikanischen Subkontinent gemein ist. Sie alle lassen eine nationalistische und auf die Dependenztheorie gestützte Rhetorik wiederaufleben, die man nach zwanzig Jahren struktureller Anpassung und Privatisierungen endgültig für obsolet gehalten hatte. Trotzdem will man diese Anführer der neuen lateinamerikanischen Linken immer noch in zwei Gruppen teilen, indem man den Diskurs von den »zwei Linken« auf politischer wie auch auf intellektueller Ebene endlos wiederholt.

So äußerte der ehemalige mexikanische Außenminister Jorge Castañeda im Juni 2006 in einem Interview: »Es gibt zwei Linke: die eine ist modern, offen, reformerisch und international orientiert. Sie entsteht paradoxerweise aus der radikalen Linken der Vergangenheit. Die andere Linke erwächst aus der Tradition des lateinamerikanischen Populismus, sie ist nationalistisch, schrill und sektiererisch«. Auch wenn diese Analyse von einem lateinamerikanischen Intellektuellen stammt, so ist sie doch repräsentativ für das, was in Europa gesagt und geschrieben wird. Eine bekannte französische Zeitschrift, die auf sozialwissenschaftliche Themen in Lateinamerika spezialisiert ist, ver-öffentlichte ein Dossier, in dem die »regierende Linke« einer »Linken der Ablehnung« gegenüber gestellt wird. Diese Dichotomie ist derart verbreitet, dass wenige Sozialwissenschaftler sie zu relativieren wagen. Der Populismus in den Medien: eine machtvolle Waffe zur Disqualifizierung

Die meisten Untersuchungen hüten sich zwar, die These der zwei Linken so polemisch wie Castañeda darzustellen. Trotzdem ist die Unterscheidung in »zwei Linke« stark normativ belastet und bezweckt eine Diskreditierung jener »Störenfriede«, die mit der vom Washington Konsens geerbten Ordnung zu brechen versuchen. So erscheint wieder und wieder die gleiche Anklage gegen Chávez, Morales und Correa: der Populismus. Die Sozialwissenschaften haben wenige einhellig akzeptierte Begriffe hervorgebracht, und so ist auch der Populismus ein polemischer Begriff, der einer verbindlichen Definition bis heute entbehrt.

Trotz seiner offensichtlichen Dehnbarkeit wird dieser – oft methodologisch ungenaue – Terminus systematisch verwendet, meist mit dem unterschwelligen Ziel, ausgerechnet jene Präsidenten zu kritisieren, die paradoxerweise mit den meisten Wählerstimmen gewählt wurden. Der Ausdruck hat die universitären Kreise verlassen und scheint sich als Bezeichnung für die Regierungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador durchgesetzt zu haben. Oft mit dem expliziten Ziel, diejenigen politischen Führer zu disqualifizieren, die sich erlauben, sich nicht der Modellvorstel- lung des linken Politikers des 21. Jahrhunderts unterzuordnen. Die Kriterien hierfür werden ganz offensichtlich von den Journalisten selbst festgelegt. Ein gutes Beispiel ist die Arbeit von zwei Chronisten des öffentlichen Rundfunks France Culture in Frankreich: Alexandre Adler, ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF), der sich zum französischen Vertreter der aus Washington importierten neokonservativen Ideologie gewandelt hat; und Philippe Val, Chefredakteur der satirischen Zeitschrift Charlie Hebdo. Unmittelbar nachdem Morales die Erdöl- und Erdgasvorkommen verstaatlicht hatte, äußerte Val, dass es in Lateinamerika zwei Linke gebe: »die National-Populisten der kubanischen Schule wie zum Beispiel Chávez und auf der anderen Seite die Sozialdemokraten wie der Argentinier Kirchner und der Brasilianer Lula«. Und weiter: »Dank ihrer populistischen Demagogie werden sie dafür sorgen, dass die demokratische Linke in Lateinamerika scheitern wird«. Adler ist hiermit einverstanden: »Chávez ist kein Mann der Linken, sondern ein Putschist, der versuchte, eine Synthese aus Ideen der Linken und der Rechten, wenn nicht gar der extremen Rechten, herzustellen«. Was Morales betrifft, der bis dahin noch im Genuss des Titels »der erste indigene Präsident Amerikas« stand, wird nun von Val ebenfalls angegriffen: »Mit dieser Verstaatlichung ohne Verhandlungen wird der bolivianische Präsident Evo Morales in ganz Lateinamerika populär werden, während es sich dabei um ein Manöver handelt, das der Hälfte des Subkontinents Hungersnot bringt«. Experten in Geopolitik werden die Subtilität dieser Analyse zu schätzen wissen.

Die in Frankreich über die Präsidenten Venezuelas und Boliviens geäußerten Kommentare entsprechen der Voreingenommenheit in den Medien. In beiden Ländern ist die politische Situation im Jahr 2007 extrem angespannt. In Caracas ist die Kampagne zur von Chávez vorgeschlagenen Verfassungsreform auf ihrem Höhepunkt; in Frankreich jedoch wird man nie genau wissen, worum es bei diesen Reformen eigentlich geht. Meist werden sie in den Medien zusammengefasst als »sozialistische Umwandlung der Wirtschaft« (will heißen: »Kubanisierung«) und als »Versuch des populistischen Anführers, sich im Amt zu perpetuieren« (der Entwurf betrifft die unbeschränkte Wiederwahl des Präsidenten, was in fast allen europäischen Ländern zugelassen ist!). In Bolivien versucht die in Sucre zusammengetretene Verfassungsgebende Versammlung, deren Mehrheit regierungsnah ist, ihre Arbeit abzuschließen. Über die Inhalte ihrer Debatten ist jedoch in den Medien nichts zu erfahren, dafür umso mehr über die Mobilisierung der Opposition. Die Informationen sind für die Medien zugeschnitten, die begierig den Totalitarismusvorwurf aufgreifen. In beiden Fällen lautet die Anklage auf »Populismus«.

Populismus als Studienobjekt oder die Legitimation des neoliberalen Status quo

Warum wird dieser sozialwissenschaftliche Begriff so oft von Journalisten verwendet und warum mit solcher Aggressivität? Welches Bild der europäischen Intellektuellen wird hier deutlich? Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen des Populismus beschäftigen, erklären im Allgemeinen eine Wertneutralität, die die Negation jeglicher politischen und normativen Positionierung impliziert. Klassischerweise wird angekündigt, sich auf die Analyse eines Stils der Machtausübung zu beschränken, frei von jedem Urteil über die Inhalte der politischen Entscheidungen der untersuchten Regierungen. Doch selbst die renommiertesten Soziologen, die das Thema aufgreifen, können diese Klippe trotz erklärter Absicht häufig nicht umschiffen. Denn die europäischen Untersuchungen des lateinamerikanischen Populismus können sich nicht aus dem Schatten der Populisten befreien, die seit den 80er Jahren in Europa aufgetaucht sind. Ihre Vertreter bilden eine Liste, die einem Inventar »à la Prévert« gleicht: Von Rechtsradikalen wie dem Franzosen Jean-Marie Le Pen, dem Österreicher Jörg Haider oder dem Holländer Pim Fortuyn; medienwirksamen Figuren wie Silvio Berlusconi oder in Frankreich Bernard Tapie; Ethno-Populisten aus Osteuropa wie Vladimir Jirinovski in Russland oder Corneliu Vadim Tudor in Rumänien; und sogar, einigen Autoren zufolge, bis hin zu dem Altermondialisten José Bové.

Der Politikwissenschaftler Guy Hermet unternimmt in einem Artikel den Versuch einer Konzeptualisierung, die die große Vielfalt der Fälle erfassen soll. So erklärt er, dass »das Versprechen, [die Erwartungen der Wähler] in einem sehr kurzen Zeitraum zu erfüllen, ein grundsätzliches Element zur Definition von Populismus darstellt«. Er fügt hinzu: »Es ist klar, dass diese Unmittelbarkeit auch aus der Logik erwächst, direkt vorzugehen (...), ohne institutionelle Umwege und ohne Zeitverlust«. Schließlich »liegt die einzige unterscheidende Definition des Populismus in diesen zwei Dimensionen: Das sofort erfüllbare Versprechen und die Unmittelbarkeit, die die direkte Antwort garantiert«. Auch wenn diese Definition auf eine ideologische Einordnung der jeweiligen untersuchten Regierung als Variable verzichtet, besitzt sie jedoch ebenfalls einen normativen Inhalt. Hermets Anprangerung des »sofort erfüllbaren Versprechens« legitimiert in gewisser Weise die Idee der »Politik des Möglichen« von Javier Santiso. Wie kann jedoch dieser »Raum des Möglichen« in der Politik – oder was Hermet die der Politik eigene »Temporalität« nennt – im Voraus definiert werden? Bedeutet dieses Konzept nicht eine implizite Übereinkunft über die »vernünftigen« und somit »acht-baren« politischen Entscheidungen? Riskiert eine Politik, die wirtschaftliche und soziale Strukturen des Landes in Frage stellt, nicht schlussendlich, als populistisch kritisiert zu werden, bevor sie überhaupt diskutiert werden konnte?

In einem Wort, hier wird negiert, dass die »Politik des Möglichen« wie sie von zahlreichen Populismus-Fachleuten evoziert oder gar gepriesen wird, für sich selbst ein politisches Projekt darstellt. An die legitimen Ängste vor der Wiederherstellung des Totalitarismus angelehnt, verurteilt dieser »Possibilismus« von vornherein jegliches Projekt der gesellschaftlichen Veränderung. Deshalb muss man auf die von einigen Autoren formulierten Leitsätze über die Ethik der Überzeugung und die Ethik der Verantwortung hören. Soll man auf erstere verzichten, um die Politik auf die zweite zu reduzieren? Hieße das nicht, auf die Essenz der Politik zu verzichten, die ja gerade darin liegt, mit der Spannung zwischen diesen beiden Dimensionen umzugehen? Ohne Überzeugungen ist Politik tatsächlich nicht mehr als eine Sache für Manager und Fachleute. Der Possibilismus bedeutet daher in Wirklichkeit die Negation der Politik und seines Motors, des Konflikts. In Lateinamerika hat diese Haltung dazu geführt, ohne Diskussion gesellschaftspolitische Konzepte jener Regierungen zu verwerfen, die des Populismus verdächtigt sind, wie bei der Analyse von Sozialprogrammen festzustellen ist. So beschränkt sich zum Beispiel Lula auf eine punktuelle Politik des Assistentialismus, wie zum Bei-spiel das Ernährungsprogramm Fome Zero. Es handelt sich hierbei um die Fortsetzung der neoliberalen Sozialpolitik, die häufig nur zu Bildung oder Aufrechterhaltung der politischen Klientel beitrug. Die Sozialpolitiken in Venezuela und Bolivien enthalten noch viele ähnliche Programme. Gleichzeitig zielen sie jedoch deutlich auf die Schaffung von neuen Rechten im Gesundheitssektor, wie es sowohl Chávez‘ Projekt der Verfassungsänderung vom Dezember 2007 als auch die zur Abstimmung vorliegende Verfassung in Bolivien zeigen. Ganz entgegen den Vorurteilen sind es häufig die populistischen Politiker, die die rechtliche Gleichstellung aller Menschen verteidigen, und das auf die Gefahr hin, die Kontrolle über die ärmste Bevölkerung – ihre gesellschaftliche Basis – zu verlieren.

Als Erklärung für die Fähigkeit der populistischen Politiker, an die Macht zu kommen und sich dort zu halten, nennen die meisten Autoren entweder das Fehlen parteilicher oder institutioneller Strukturen zwischen dem Anführer und dem »Volk«, oder das Charisma und die Überzeugungskraft dieser Führer oder beides gleichzeitig. Diese Hypothesen entsprechen der Definition des argentinischen Soziologen Gino Germani: der Populismus wird bei ihm als eine gesellschaftliche Beziehung zwischen einem »Chef« und einer »Masse von Anhängern« verstanden, die sich durch ihre Passivität gegenüber den Ereignissen und ihre Apathie auszeichnen. Diese sei das Ergebnis einer lang-samen Desillusion über das politische System und die notwendige Voraussetzung dafür, sie zu erobern. Diese fast esoterische Bindung zwischen dem Caudillo und seiner Basis negiert jedoch die soziale Beziehungspyramide, die das Verhältnis zwischen beiden Teilen aufgrund von konkreten Wechselwirkungen strukturiert. Andererseits wird die politische Schwäche der breiten Masse betont, die der Verführung des »Chefs« unterliegt und der man mangelndes Verantwortungsbewusstsein bei der Ausübung ihrer Bürgerrechte unterstellt, sowie die Unfähigkeit entsprechend ihrer »wirklichen« Interessen zu wählen. Die Bedeutung der Persönlichkeit der politischen Führer ist sicher unbestreitbar. In Argentinien zum Beispiel stellt Juan Domingo Perón weiterhin ein ergiebiges Studienobjekt für jeden dar, der sich für charismatische Herrschaft interessiert. Aber war das Charisma nicht von jeher und in allen Lagern eine Grundbedingung für die politischen Führer? Die Idee der Unmittelbarkeit ist ebenfalls problematisch: wenn der Peronismus sich in Argentinien zu verewigen scheint, so dass man bereits von einem »unendlichen Peronismus« spricht, dann liegt das zu gutem Teil an der Fähigkeit seines Parteiapparates, sein Netzwerk mittels materieller und sozialer Anreize aktiv zu erhalten. Die anthropologischen Untersuchungen des Soziologen Javier Auyero in den ärmeren Vierteln von Buenos Aires geben über diese außer-ordentliche Kontinuität mehr Aufschluss als die großen Studien über die populistische Führung Peróns. Die über den Populismus Chávez’ und Morales’ veröffentlichten Studien sagen wenig über den Reichtum der Beziehungen zwischen der Regierung und den verschiedenen sozialen Bewegungen aus. Die sozialen Organisationen in beiden Ländern sind einerseits sehr autonom in der Artikulierung ihrer Forderungen – was ihre tägliche politische Arbeit ist –, andererseits bleiben sie von der Exekutive abhängig, insofern sie innerhalb der Institutionen agieren müssen. Die Beziehung zwischen dem Staatschef und seiner Basis, die sich zwischen Delegation und Partizipation bewegt, ist in Wirklichkeit weit entfernt von den in den Medien definierten Horden von Armen, die von unverantwortlichen Machthabern instrumentalisiert werden.

Der Begriff des Populismus ist so begrenzt, dass man dem Vorschlag des französischen politischen Analytikers und Journalisten Marc Saint-Upéry zustimmen muss: »Erklären wir ein Moratorium von, sagen wir, fünf Jahren für die Verwendung des Begriffs ‚Populismus‘ und im geringeren Maße, des Adjektivs ‚populistisch‘«. Das Konzept ist so dehnbar, dass es heute weniger über die Regierungen aussagt, auf die es angewendet wird, als über diejenigen, die es benutzen. Im Grunde existiert eine überraschende Ähnlichkeit des politischen und gesellschaftlichen Gebrauchs des Begriffs sowohl in Europa als auch in Lateinamerika. Die Ent-ideologisierung des Begriffs reduziert sowohl den venezolanischen Chavismus als auch das franzö-sische Phänomen Le Pen auf eine Serie von antipolitischen, irrationalen Ausbrüchen: Was sonst könnte es sein, wenn man die Anhänger-schaft von apathischen Massen an die Reden und das Charisma eines politischen Führers, der das Unmög-liche verspricht, zu erklären versucht? Im Ergebnis zeigt sich in letzter Zeit in Frankreich und im Rest Europas eine Geringschätzung der Unterschicht als Protagonist im politischen Spiel durch die Intellektuellen. Auch der sozialen Frage wird eine immer geringere Bedeutung zuerkannt. Die französische Politologin Annie Collovald vertritt die Auffassung, mit der Verwendung des Begriffs des Populismus seien für die sozial-liberale Linke »die unteren Schichten nicht mehr die zu verteidigende Sache, sondern ein zu lösendes Problem«.

Wenn »das Volk nicht versteht«, oder die Ratlosigkeit der Intellektuellen gegenüber den unteren Schichten

Nachdem die Europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden per Referendum abgelehnt worden war, konnten die französischen Intellektuellen nicht begreifen, wie die unteren Volksschichten – in ihrer »Ignoranz« von der »Propaganda« der Globalisierungskritiker verführt – sich so weit haben bringen lassen, den Aufbau der Europäischen Union in Gefahr zu bringen. Einen Tag nach dem französischen »Nein«, am 30. Mai 2005, analysierte der damalige Chefredeakteur der französischen Zeitung Libération, Serge July, die Situation folgendermaßen: »Die einen überboten sich in Dummheiten, die anderen in schamlosen Lügen. Am Ende ein allgemeines Desaster und eine Populismus-Epidemie, die alles mit sich gerissen hat: den Aufbau Europas, die Erweiterung, die Eliten, die Regulierung des Liberalismus, den Reformismus, den Internationalismus und sogar die Großzügigkeit«. Einige Monate später vertrat der Politologe Dominique Reynié, der in den Fernsehstudios sehr präsent ist und dort mit einem für einen Akademiker besorgniserregenden militanten Eifer den Verfassungsentwurf verteidigte, in einer Publikation die These des »Sozial-Nationalismus«: eine bequeme Formel, mittels der man sowohl die extreme Rechte und ihren Souveränismus, als auch die radikale antiliberale Linke definieren kann. Beide hatten, wenn auch getrennt, für das Nein gekämpft. In einem Interview äußerte er über die Niederlage des Ja: »Die Franzosen verstehen jeden Tag mehr, was die Globalisierung bedeutet. Sie beunruhigen sich, haben Befürchtungen. Einige skrupellose und verantwortungslose Politiker zögern nicht, mit diesen Sorgen zu spielen, um ihre Karriere vorwärts zu bringen«. Irrationale Ängste vor einer liberalen Globalisierung, die Teil der Ordnung der Dinge ist, manipulierten untere Schichten und für ihre Karriere zu allem bereite Politiker. In Frankreich und den Niederlanden hinterlässt die »populistische Konspiration« Eindruck.

In dem Comicband Tim und die Picaros (der bekannten Reihe Tim und Struppi) beschreibt Hergé die Machtkämpfe in einem imaginären lateinamerikanischen Staat San Theodoros. Ein rebellischer General namens Alcázar, der Fidel Castro ähnelt, stürzt mit Tims Komplizität den despotischen Herrscher General Tapioca. Monate später hat sich jedoch in San Theodoros nichts geändert. Nicht nur das Elend blieb bestehen, sondern Alcázar scheint sich an der Macht berauscht zu haben, die er nun zu seinem eigenen Nutzen gebraucht.

Heute blickt die europäische Linke nicht mehr nach Lateinamerika auf der Suche nach den »guten Revolutionären« als Vorbild. Sie ist damit beschäftigt, die potentiellen Alcázars zu verfolgen – wie Chávez, Morales und Correa –, deren populistischer Führungsstil zukünftigen Verrat verheißt. Ihrer Meinung nach beschränkt sich deren Politik auf eine ungeschickt eingesetzte und von der Realität abgelöste flammende Rhetorik – und das, obwohl jene Regierungen entgegen vielen Klischees einen erstaunlichen wirtschaftlichen Pragmatismus beweisen und das sogar bei der Suche nach neuen postliberalen Horizonten. Wenn die lateinamerikanischen Populisten ein Störfaktor sind, so vor allem, weil sie trotz ihres Pragmatismus noch nicht auf das Ziel gesellschaftlicher Veränderungen verzichtet haben. Etwas, was die europäische Linke schon lange preisgegeben hat. Wie sagte doch 2004 der britische Historiker Perry Anderson? »Die Linke erreichte ihren Rang als Regierungspartei, nachdem sie die Schlacht der Ideen verloren hatte«.

Der eigentliche Grund, warum diese Regierungen das Ziel so vieler Angriffe sind, ist, dass sie in vielen As-pekten als Gewissen einer Linken agieren, die ihre Ideale, welche jahrzehntelang ihren ideologischen Horizont gebildet hatten, aufgegeben hat und die ihre schwindende Popularität bei den unteren Schichten nur mit der »Theorie des Komplotts« erklären kann. Das Konzept des Populismus bietet – außer einer entpolitisierten Lesart dieses Bruchs zwischen den »Massen« und ihren traditionellen Vertretern – ein bequemes Interpretationsschema, das eine rationelle Schuldzuweisung erlaubt (demagogische Politiker und ein ignorantes Volk) und so die europäische Linke jeglicher Verantwortung enthebt. Beobachtet man, mit welchem Enthusiasmus fast die gesamte Sozialdemokratie Europas die Unterzeichnung des Lissabon-Vertrags befürwortet, so wird dieser Bruch sich wahrscheinlich noch lange fortsetzen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte gegenüber dem Daily Telegraph am 29. Juni 2007, dass im Vergleich des neuen Lissaboner Vertrags mit dem alten Verfassungsentwurf »die Essenz der Konstitution erhalten bleibt. Sie ist eine Tatsache«. Der Vertrag von Lissabon wird lediglich einer parlamentarischen Abstimmung unterzogen werden und nicht einer Volksabstimmung wie der erste Verfassungsentwurf. Das heißt, was nicht in Ausübung des allgemeinen Wahlrechts durchgesetzt werden konnte, wird jetzt im geschlossenen Zirkel der Parlamente der EU-Mitgliedsländer verabschiedet. Zu dieser offensicht- lichen Verweigerung von Demokratie wurde von links kaum Kritik laut, nicht einmal in der französischen Sozialistischen Partei (PS). Hat sich der »Raum des Möglichen« in Europa auf so wenig reduziert, dass nicht einmal mehr Platz ist für die elementarsten Mechanismen einer Demokratie, die diesen Namen verdient? Sind die unteren Schichten zu solch einem Störfaktor für die Linke geworden, dass man auf dem Weg ins neoliberale Glück Abstimmungen ausweichen muss? Sieht man einerseits auf eine Sozialdemokratie, die Angst vor dem »Volk« hat, und andererseits auf die sogenannten »populistischen« Führer in Venezuela und Bolivien, die nicht unwillig sind - ganz im Gegenteil -, sich der Prüfung durch ein Referendum zu unterziehen, indem sie ihrer Posten enthoben werden können, so muss man sich gegenwärtig nicht in denjenigen Staaten, in denen sich diese erst vor Kurzem etabliert hat, Sorgen um die Konsolidierung der Demokratie machen.

Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2008, ISSN: 0251-3552


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