Artículo
NUSO Nº Januar 2010

Phönixland. Anmerkungen zum historischen. Werdegang der Argentinier für deutsche Leser, die sich für das Schicksal ferner Länder interessieren

Zusammenfassung | Argentinien hat noch keine lange Geschichte. Aber bislang war es eine bewegte, voller Widersprüche, und vielleicht auch eine zu nichts führende Geschichte. Der Sprung, den dieses Land aus Lateinamerika heraus gewagt hat, um europäisch zu wirken, ein Sprung, der sehr viel Mühe gekostet hat, blieb unvollendet, unschlüssig zwischen beiden Welten. Die vergangenen hundert Jahre unserer Geschichte waren heftig und enttäuschend, denn das Land hat sich selbst geschadet und muss nun feststellen, dass sein Schicksal keineswegs gesichert ist, und dass es sich noch dazu als Nation neu erfinden muss. Argentinien wirkt wie ein Kranker, im Stadium zwischen Siechtum und Heilung. Doch dieses Land, das von inländischen Überlebenden des 19. Jahrhunderts und Millionen europäischer Immigranten aufgebaut wurde, ist daran gewöhnt, es mit Widrigkeiten aufzunehmen.

Phönixland. Anmerkungen zum historischen. Werdegang der Argentinier für deutsche Leser, die sich für das Schicksal ferner Länder interessieren

1. Argentinien ist ein selbstzerstörerisches Land. Das ist vielleicht das Zutreffendste, was man mit wenigen, klaren Worten von uns sagen kann. Uns mangelt es weder an Kräften, noch an Reichtum, der Boden ist fruchtbar, das Land ist groß, unsere Geschichte ist noch jung; Ressourcen sind also vorhanden. Andere Länder haben größere Hindernisse und Beeinträchtigungen überwinden müssen, um voranzukommen, und deswegen gebieten sie für gewöhnlich der Verlockung Einhalt, über dem Abgrund zu tanzen. Wir Argentinier hingegen sind wie besessen vom Geist der Selbstbeschädigung. Das macht uns »unterschiedlich«, ist unser Schicksalsumfeld. Was wir mit Liebe und Mühe aufbauen, endet weggeworfen in Tragödien, an denen es uns nie gemangelt hat, oder es wird dem Verfall preisgegeben. Danach muss man wieder neu anfangen. Es ist ja nicht so, dass wir von Natur aus zerstörerisch veranlagt wären oder ohne Bewusstsein vorgingen. Es ist vielmehr so, dass wir von den gegensätzlichen Elementen, aus denen wir bestehen, wie behext sind, und dass uns deswegen einheitliche Vorhaben schwer fallen. Außerdem sind wir noch gezeichnet von den gnadenlosen Ereignissen, die wir gerade erst erlebt haben, und von denen wir noch nicht genau wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen. Diese Ereignisse sind unter der Oberfläche des Alltags noch lebendig. Schwerwiegende Vorfälle waren das – Tausende und Abertausende wurden in geheimen Verliesen umgebracht – wenn auch nicht die einzigen und auch nicht die ersten dieser Art.

Im Verlauf der erst kurzen Geschichte unseres Landes gab es derart viele Schrecknisse und Sackgassen, aus denen wir augenscheinlich unbeschadet herausgekommen sind, dass wir uns daran gewöhnt haben, dass sie immer wieder passieren, anstatt sie uns als Bedrohung vorzustellen und erst recht nicht als Warnung, die nicht allein schon deswegen, weil sie nicht eintrifft, weniger unheilvoll wäre. Also tun wir für gewöhnlich einfach so als ob der Boden unter unseren Füßen nicht ins Wanken geraten wäre, bis es dann zu spät ist. Das sind dann die Augenblicke, in denen unsere natürliche Vorliebe für das Improvisieren uns plötzlich als Makel erscheint, auch wenn wir deswegen nicht aufhören zu improvisieren. Denn wir Argentinier bauen auf unser Improvisationstalent als auf den sichersten unserer Rettungsringe. Manchmal hat es den Anschein, als machte es uns nachgerade Spaß, unsere Chancen zu zerpflücken wie ein Kind sein Spielzeug zerlegt, ohne böse Absicht, aber mit methodischer Unvernunft. Deswegen schaffen wir es trotzdem nicht, einfach davonzukommen, ohne die Konsequenzen dieses Verhaltens ausbaden zu müssen, alle paar Jahre, immer wieder, verrennt sich unser Land völlig und muss dann sein von der Geschichte, dieser Halsabschneiderin, eingefordertes Stück Fleisch abliefern. Bei uns ist es nicht üblich, nachdem das Unglück geschehen ist mit dem Nachdenken zu beginnen, weswegen wir uns bei jeder neuerlichen Erschütterung wieder genau gleich verhalten, gerade so, als würden wir uns, wie ein kleines Kind, zum ersten Mal die Finger verbrennen; noch kaum vom Schock erholt gehen wir an die Bestandsaufnahme der Zerstörung durch das aus dem Ruder gelaufene Fest, aber wir fühlen uns eher wenig verantwortlich für das Ausmaß der Geschehnisse und jammern zwar über unser Land, nicht aber über uns selbst. Zu Beginn dieses Jahrtausends, 2001, hat es uns dann wieder einmal zerfetzt, und dabei ist uns der amtierende Präsident über Bord gegangen, unser Wirtschaftsplan und das gesamte Finanzsystem gleich mit, und das, obwohl es diesmal so aussah, als würde uns der Schlag nicht mit voller Breitseite treffen, denn auf den Absturz folgte der übliche wirtschaftliche, politische und psychologische Verlauf: Wir liefen im Kreis, Kreis um Kreis, auf Straßen und Plätzen, wir Argentinier, wie Derwische, die es aus der Bahn geschleudert hat. Und als alles verloren schien, als wir ganz unten waren, wieder in der Krise, durch die wir wie zwischen Steinen eingemauert feststeckten, auf wenige uns noch verbliebene Kräfte geschrumpft, da lachte die Sonne ganz einfach vom Himmel, ließ das Korn reifen wie immer, und es gab Rückenwind. Argentinien stabilisierte sich wieder, klinkte sich wieder ein in den Weltgetreidehandel, und die einzige Lehre, die es aus diesem Debakel gezogen hat, ist, dass wir nicht so leicht unterzukriegen sind. Wir haben uns bei Fortuna nicht einmal ausreichend für dieses große Glück bedankt. Denn Glück haben wir. Manchmal sogar richtig viel Glück. Es hätte uns nämlich weitaus schlimmer treffen können.

2. Jetzt feiert unser Land zweihundert Jahre Unabhängigkeit, eine Unabhängigkeit, die 1810 mit einem hochmütigen Abschied vom Hause Bourbon, das Spanien regierte, ihren Anfang nahm; eigentlich aber verlieren sich in unserem kollektiven Gedächtnis nach und nach diese ersten hundert Jahre der Unabhängigkeit, das gesamte 19. Jahrhundert, üblicherweise so etwas zwischen lauter Schulbuchgestalten wie Indios, Gauchos, Gründungsväter und Immigranten, wovon lediglich Letztere für die heutigen Argentinier noch eine gewisse Bedeutung haben. Von den anderen drei Ureinwohner-Gestalten wurden die Pampabewohner, auch als »Wüstenbewohner« bezeichnet, bereits ausgemerzt; die Gauchos, Zentauren vom Land, hatte man mit Stacheldraht gezähmt, und die Freiheitshelden und Militärs, die den letzten Vizekönig vertrieben und lange anhaltende Bruderkriege angezettelt hatten, sie alle treten mit der Zeit in den Hintergrund, wie Gespenster aus Zeiten, auf die wir schon lange verzichten können. Für uns sind das heute eher literarische Figuren denn ehemalige Gestalten aus Fleisch und Blut. Weil Argentinien eine Neuerschaffung ausgehalten hat, was im Grunde einer Wiedergeburt vergleichbar ist.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts überschwemmte dann eine gigantische Massenimmigration unser Land mit Millionen von Ausländern, in der Mehrzahl Europäer, die wenig oder gar kein Vermögen mitbrachten, darunter viele Analphabeten. Sie verfolgten einen Traum, eine Fata Morgana, waren auf der Flucht vor dem Hunger, vor Stagnation oder Verfolgung, und sie waren bereit zu kämpfen. Von ihnen kann man sagen, dass sie es auch geschafft haben, sie sich letztendlich ihres Sieges rühmen konnten. Ihre Nachfahren gediehen und sie lernten fleißig; schließlich gelang es ihnen auch, die Barrieren zu überwinden, mit denen die gesellschaftlichen Kasten des alteingesessenen Argentiniens, die sich bereits komfortabel eingerichtet hatten, versuchten sie sich fernzuhalten. Obendrein haben sie sich alle verbrüdert, wenn auch mit Schwierigkeiten, da sie ja von überall her ins Land gekommen waren, denn Argentinien ist das Resultat einer Art Orgie der Nationen, und nicht zu vergessen sein indigener Einschlag und die schon etwas ausgewaschene afrikanische Pigmentierung, die ebenfalls in der heutigen argentinischen Bevölkerung vorhanden ist, und zwar zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil, wie die Wissenschaft erst kürzlich festgestellt hat.

Es waren so viele »Hauswechsler« – so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »migrieren« –, dass sie in manchen Provinzen zahlenmäßig mit den Einheimischen gleichauf lagen. Vielerorts waren sie sogar in der Überzahl, und man nannte sie gringos. Seit damals war Argentinien ein anderes Land. Es war nun »europäischer«, oder so hatte es zumindest den Anschein. Genau das: Argentinien bildete sich etwas ein, auf Kosten der Wahrheit und des offensichtlichen Überlebens der lateinamerikanischen Komponenten der Bevölkerung im kulturellen Grundmuster Argentiniens, doch Letzteres wollte man lieber verbergen, denn es war eine peinliche Tatsache, die niemand wahrhaben wollte, und man dachte, so etwas gebe es nur jenseits unserer Grenzen, in den Nachbarländern, die man für rückständig und ungebildet, wenn nicht gar für unkultiviert hielt. Richtiger ist hingegen, dass im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts Millionen von Menschen in unserem Land lebten, die keine Argentinier waren, mit der Zeit jedoch zu Argentiniern wurden, sich »integrierten«, wie man zu sagen pflegt; und nach und nach lernten sie die hierarchischen Regeln derjenigen, die das Land besaßen, zu unterscheiden und sich darauf einzustellen.Auch wenn der »Kuhadel«, der sich um die Angelegenheiten des Staates kümmerte als sei dies sein Vorrecht, ein Land mit Institutionen, Werten und einer Kultur europäischen Zuschnitts entworfen und etabliert hatte, war das Ergebnis dennoch keine einfache Kopie, sondern vielmehr irgendwie falsch, womöglich deswegen, weil das politische Abdriften danach nicht vorausgesehen werden konnte und weil alles vollkommen anders verlief als erwartet. Anders als im größten Teil Lateinamerikas haben hierzulande die Estancieros und die Herrschaften mit dem doppelten Familiennamen, also die Herren über alle Dinge, nach und nach Terrain abgeben müssen.

Ab der Zeit zwischen 1900 und 1910, und in nicht einmal fünfzig Jahren, haben es drei unterschiedliche ideologische Bewegungen geschafft, Arme, Lohnempfänger und an den Rand Gedrängte in Organisationen zum Selbst-schutz und zur gegenseitigen Unterstützung zusammenzubringen, die durch soziale Kämpfe für eine Reihe von verwehrten und schließlich gewährten Rechten etwas gemäßigt wurden, was aber nicht ganz ohne Blutvergießen, Groll und Aufwiegelei vonstatten ging. Diese Kämpfe wurden nacheinander gesteuert von den Anarchisten, den Radikalen und den Peronisten.

Zuvorderst waren da die Anarchisten, Gründer von Berufsgenossenschaften und Verbreiter »maximalistischer« Ideen. Besonders stark waren sie in den Städten Buenos Aires und Rosario, auch wenn es dort nie richtig Viele wurden. Es waren jedenfalls ausreichend Viele: Natürlich machten sie auf sich aufmerksam, und eine ganze Weile genossen sie bei den Arbeitern, den »Selfmade-Men« und den freiheitlich Denkenden auch Glaubwürdigkeit. Aus dem Nichts schufen sie Gewerkschaften, ganze »Ideen«-Bibliotheken und Zeitungen, die zur Emanzipation der Proletarier aufriefen, und ihre Hinterlassenschaft war eine Art Autarkiegefühl, das sie überlebt hat und immer wieder einmal auftaucht, etwa wenn sich öffentlicher Unmut äußert, und auch, in etwas anderer Form, in der Persönlichkeit des Argentiniers an sich, der immer die Tendenz hat, sich hervorzutun, keiner »vom Haufen« sein möchte. Wegen der Errungenschaften, die unter Führung der Anarchisten erreicht wurden, hatte es übrigens heftige Kämpfe gegeben, denn dies waren Leute, die mit dem argentinischen Staat nicht verhandelten, den sie ja nicht anerkannten, und den sie als »provisorische Verwaltung der Nation« bezeichneten.Eine ganze Reihe von Gleichstellungen für die Bürger, die zwar noch nicht ausreichten, zweifelsohne aber dazu angetan waren, die Bürgerrechte zu sichern, wurden in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen, als die Regierung der Unión Cívica Radical (UCR), die Radikale Bürgerunion, an die Macht kam; die Radikale Bürgerunion war im Allgemeinen weltlich und gemäßigt, auch wenn man daran erinnern sollte, dass zu jener Zeit die programmatischen Ideen eines Hipólito Yrigoyen, ihres Anführers, als »populistisch« galten. Nicht ohne Grund nannte man Yrigoyens Adepten »la chusma«, die »Mitläufer«: So taten es die »Hochnäsigen«, diejenigen, die die Nase hoch trugen. In jenen Jahren entstand eine spannungsgeladene, feindselige Verdichtung von Vorstellungen und Splittergruppen, in einer Öffentlichkeit, die aufgestachelt wurde von Liberalen und Nationalisten, Traditionalisten und Modernisten, jakobinischen Anhängern der Arbeiterbewegung, und den Anhängern von Zucht und Ordnung. Querelen, die sehr hitzig werden und tödlich sein konnten, und die im Übrigen noch immer nicht gänzlich beigelegt sind, immer wieder einmal aufflackern, den neuen Kontexten entsprechend angepasst. Die Radikalenpartei Partido Radical, ein etwas blutleeres, indoktrinierendes Organ, Ausdruck der gerade entstehenden Mittelschicht, soviel ist sicher, ging anscheinend siegreich aus ihrer Schlacht gegen die herkömmlichen Eliten hervor und meinte dazu auserkoren zu sein, die Nation in den vielen nun kommenden Jahren zu lenken. Doch dem war nicht so. Ein Staatsstreich vertrieb diese Partei 1930, führte zu ihrer Teilung, und die Beziehung zwischen der Partei und ihren Wählern war gekappt.

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts erstürmt General Juan Domingo Perón mit seiner politischen Bewegung die politische Bühne, und dies tut er wie ein Mythos, der schlagartig und nachhaltig von den Gefühlen der Massen Besitz ergreift, wodurch es ihm gelingt, die politische Geschichte eines ganzen Volkes durcheinanderzuwirbeln.

Durch seine Wandlungsfähigkeit (er ist modellierbar und immer neu kombinierbar) ist der Peronismus bis zum heutigen Tage weiterhin gültig; es sei nur daran erinnert, dass unter den Regierungen der letzten zwanzig Jahre allein achtzehn Jahre die Peronisten regierten. Wenn der Peronismus unausrottbar scheint, dann deswegen, weil er nicht allein eine Methode war, die Zügel des Staates in der Hand zu behalten oder seine Wählerklientel durch eine Politik der Fürsorge an sich zu binden, sondern weil er vor allem ein Orakel war, eines, das Glücks- und Liebesbotschaften verkündet; er war die Erlösung. Hierin lag seine Stärke, nämlich in Stereo und Technicolor einen Traum zu verbreiten für die Zerlumpten und die Hoffnungslosen, die bis dato dem Festmahl des Lebens lediglich von der anderen Seite des Zaunes aus zusehen durften. Dies hat ein Anführer der Confederación General del Trabajo (CGT), dem argentinischen Gewerkschaftsdachverband, einst 1951 in Córdoba in einer Rede so auf den Punkt gebracht: »Heute, unter Perón, haben die Arbeiter besser zu Essen und besser zu Trinken, und obendrein bleibt ihnen noch ein bisschen Geld, das sie auf den Kopf hauen können«. Das Programm der Peronisten ist sehr überzeugend, da ist es nur verständlich, wenn sie Anhänger en masse hatten.

Was genau Peronismus eigentlich ist, und worin genau sein nachhaltiger Einfluss auf die politischen Vorstellungen in Argentinien besteht, lässt sich nur schwer sagen. Seinerzeit, 1950, wurde der Peronismus mehrerer unterschiedlicher Dinge bezichtigt, die ihrerseits als Matrizen zur Verständnishilfe für das Phänomen Peronismus gelten können: der Peronismus sei ein südamerikanisches Aufkeimen des europäischen Totalitarismus, eine bequeme Herrschaft über die ureigensten Energien der betrogenen Massen, eine unvorhergesehene Wiederauferstehung des vormodernen Caudillismo, den man längst überwunden geglaubt hatte, ein freiheitsmordendes Regime, das die Seele der Armenviertel mit Brot und Spielen köderte, eine Gaudi, für die niemand Eintritt zu bezahlen braucht und von der jeder ein bisschen Himmelsmanna kriegt. All diese Abwertungen werden normalerweise mit dem Wort »Populismus« bezeichnet. Aber aus der Distanz besehen tritt der Peronismus vor der Geschichte weniger wie hausbackener Faschismus, als vielmehr wie launisches Jakobinertum in der Art und Weise eines Bonaparte auf, das zudem imstande ist, Linke, Rechte und die Mitte zu einem einzigen Cocktail zu mixen. Andere Parteien nehmen die Organisationsform eines abgestuften Dreiecks an, oder die eines selbstverwalteten Kreises, möglicherweise auch die des Lichtstrahles eines Leuchtturmes für die Massen. Nicht so der Peronismus. Er ähnelt einem Mandala, das man von allen Seiten betreten, oder das man nach allen Seiten hin verlassen kann.

Auch wenn man sich an Perón als jemanden erinnert, der Gutes bewirkt hat, weil er die größte Einkommensverschiebung zugunsten des einfachen Volkes ermöglichte, ist sein historisches Vermächtnis doch ein ganz anderes, nämlich dasjenige, dass er, von ihm nicht willentlich beeinflusst, einer kulturellen Revolution der Plebeyer vorgestanden hat. Seit damals waren die Ausbildung des vorherrschenden Geschmacks und der vorherrschenden Werte nicht mehr alleiniges Vorrecht der höheren Gesellschaftsschichten. Eine neue Art von Achtung breitete sich unter Arbeitern, Lumpenproletariat und Landarbeitern aus, Jubel wurde nun den »Barbaren« gewährt, die bislang verstoßen waren. Eine derart massive Freisetzung von Volksenergien blieb seitens der Widersacher Peróns nicht unerwidert, und so wurde ein Schlachtfeld errichtet, auf dem für Jahre unter den Protagonisten dieses Trauerspiels gleichmäßig Zwist, Hass und Dummheit ausgeteilt wurden. Diese Übel vermehrten sich noch, als die Partido Militar, die Militärpartei, die sich im Verlauf eines halben Jahrhunderts zu einem eigenständigen politischen Akteur gemausert hatte, auf die Idee kam, das Podium durch Gewalt zu besetzen. Darin, mit diesem Irrsinn, mit dem Militärputsch, dem Staatsstreich, der Hetzjagd, der Folter, dem Massaker, waren wir in Lateinamerika keine Ausnahme, sondern die Regel. Ein halbes Jahrhundert danach scheint die historische Größe des Peronismus die seiner Feinde erheblich übertroffen zu haben, ganz gleich, ob man nun den Anführer dieser Partei für einen Staatsmann oder eher für eine Strafe Gottes hält. Die peronistische Kultur, mächtig und fruchtbar, hat die Unordnung als ein fruchtbares Element in das politische Leben dieses Landes eingeführt, ein Durcheinander, für das noch niemand den Frieden gefunden hat, vielleicht, weil Perón ein bisschen mehr war als ein Politiker, auch wenn er ein bisschen weniger war als Gott. Ein Schamane bester Schule war er. Aber die entfesselten Kräfte um ihn herum wurden für ihn unkontrollierbar, ebenso wie es Dr. Frankenstein mit seiner Kreatur erging und unserem Schöpfer höchstselbst mit der seinigen. Und dasselbe Missgeschick widerfuhr auch denjenigen, die meinten, es Perón, der beim Volk nur »der Macho« hieß, mit dem Staatsstreich »richtig gegeben« zu haben, ein für alle Mal für die Geschichte Argentiniens. Was nach 1955 folgte, waren fünfzig lange Jahre der Konfrontation, der Verbote, verheerender Pattsituationen, der politischen Morde, der Auferlegung von Zwangsmaßnahmen, und eine nicht enden wollende Bartholomäus-Nacht nach dem Militärputsch von 1976 gegen die peronistische Regierung, so dass nun der Name Perón auch noch gleichgesetzt wird mit »Trauma«.

3. Diejenigen, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts begonnen hatten, die argentinische Nation zu formen, standen vor einem Wust von Problemen, der sich um die absolutistische Tradition in Sachen Regierung und Verwaltung, die spanischer Herkunft war, gebildet hatte, sowie aus dem weitgehenden Fehlen moderner Kenntnisse, dem Resultat katholischer Prägung. Daher suchten sie dynamische Lösungen. Es wurde etwas zusammengeschustert, das Schule mit dem Respekt vor den Autoritäten verschmolz, mit der Eisenbahn, mit dem Freihandelsabkommen, mit dem Seehafen, mit Fabriken, Silos und Kühlschränken, ganz zu schweigen von der Korruption bei öffentlichen Bauaufträgen; all das wurde dann eingeweiht unter Hinweis auf Ordnung und Fortschritt, ein Motto aus Europa für die ganze Welt. Man musste sich schnellstmöglich zivilisieren, so die Devise jener Tage. Aber kein Mensch kommt so schnell vorwärts, dass er seinem Schatten entkommt. Auch Länder nicht. Keiner hatte damals bedacht, dass eine derartige, mechanische »Alphabetisierung« in ein rein funktionales, seelenloses Lernen münden könnte; dass zu viel Vertrauen darauf, dass unser Land, das wir glücklicherweise abbekommen hatten, fruchtbar war, sich auf lange Sicht als Täuschung oder Irrtum herausstellen könnte, und dass unabhängig davon, dass eine Maschine ein Ordnung schaffendes Prinzip sein kann, um diese Maschine herum weiterhin der Same des zivilen Ungehorsams aufgehen würde, der schon immer den Bauch der Nation hatte anschwellen lassen.

Gerade das jedoch, was im Kopfe derjenigen, die unser Land schmiedeten, die Überzeugung nährte, nun werde die Zivilisation von der Barbarei geschieden, will heißen, die Teilung schlechthin, wirkte immer wieder als begriffliche Guillotine, die kategorisch die Komplexität der Gegensätze verkürzte, welche, wie bei Ying und Yang, oder bei Kopf und Leib, dazu tendierten, sich noch stärker einzumauern als sie sich abstießen: Auch Fortschritt kann ein Fluch sein. Nämlich dann, wenn die Maschine nicht in einem Gärtchen ausgepackt wird, sondern im dichten Gestrüpp, wo man kämpfen muss, um zu überleben, und wenn dann die wahren Kosten auf dem Tisch liegen, am Ende des Prozesses, und zwar hohe Kosten, insbesondere dann, wenn die Grausamkeit auf die Natur zurückwirkt, die in Argentinien immer in alle Himmelsrichtungen überbordend war.

Nichts von alledem hatte man sich damals überlegt; das Modell der Industrialisierung schien der einzige gangbare und wünschenswerte Weg zu sein, weil sämtliche übrigen Alternativen sich unmöglich anhörten, von vornherein nach Zeiten »schmeckten«, die niemand mehr herbeisehnte; und auch, weil für vorausgegangene Fehler definitiv immer diejenigen die Zeche zahlen, die ganz am Ende der Reihe stehen. Damals hing die Verbindung Argentiniens mit der Welt von einer möglichst gelungenen Synthese ab aus der Modernisierung des eingerichteten Maschinenparks, der Spezialisierung auf Monokultur-Produkte bei Viehzucht und Ackerbau und aus der Nachahmung, oder der Parodie, von Kulturprojekten, die man im Ausland besser konnte. Genau wie heute. Aber wichtiger als das »zivilisatorische« Projekt an sich ist der Umstand, dass Argentinien als eine großartige und nicht nur fette Nation erträumt wurde, oder »imaginiert«, wie man heute gerne sagt.

Ein bedeutender Mann in der Geschichte unseres Landes, eine Mischung aus Kopfmensch und Mann der Tat wie Domingo Faustino Sarmiento, im 19. Jahrhundert nichts Außergewöhnliches, war nicht so sehr als Vorkämpfer für die Zivilisation, also Europas, von Bedeutung; er wurde vielmehr als Visionär gebraucht. Dieser argentinische Präsident vollzog beeindruckende Sprünge in die Vergangenheit um in die Zukunft fliegen zu können. Er sah den Glanz Venedigs ins Tigredelta verlagert, wo der Río de la Plata entspringt, und er sagte voraus, der breite Fluss Paraná und sein Netz an Nebenwasserläufen seien für die Argentinier, was für die alten Ägypter der Nil war. Man bedenke, Venedig war seinerzeit die größte Handels- und Seemacht, und der gewaltige Wassermassen führende Fluss im Lande der Pharaonen befruchtete in zyklischer Wiederkehr dessen ufernahe Saaten. Sarmiento träumte im großen Stil, und nicht nur er; man könnte sagen, dass diese beglückende Halluzination jener Generation in der Öffentlichkeit stehender Männer eigen war, auch noch denen der nachfolgenden, denen ebenso wenig die Hand zitterte, als sie ihre Unterschrift unter die Erlasse zur Ausrottung der Indios und der Gauchos setzten.

Aber später dann begannen wir Argentinier uns so zahlreichen Schwierigkeiten und Nöten ausgesetzt zu sehen, dass uns allmählich das Träumen verging. Unsere ehrgeizigen Ideale, unter denen auch der ein oder andere größenwahnsinnige Gedanke nicht fehlte, ersetzten wir durch Illusionen, selbst Simulationen von Hoffnung, aber dann kam die Zeit, in der wir uns an schlechte Träume, sogar an Alpträume, gewöhnen mussten.

Unser Traum von einem modernen Land, stark, überlegen, europäischer gar als Europa selbst (manchmal übertreffen Fälschungen das Original), dieser Traum hat sich nicht verwirklicht, auch wenn er nicht verworfen, sondern im antriebslosen Stadium belassen wurde, unvollendet, bis er vom Lebensstil der »globalisierten« Welt, wie zuvor bereits vom american way of life, überholt wurde. Aus diesem Scheitern resultierte dieses paradoxe Trugbild, das sich weder im Spiegel der Alten Welt, noch im Spiegel seiner lateinamerikanischen Nachbarn wiederfindet, denen wir allerdings nie näher waren als in den letzten Jahren. Jenes »Zivilisationsprojekt« ist nicht nur wegen der immer wiederkehrenden Militärdiktaturen gescheitert, die in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Markenzeichen auch und gerade des Cono Sur waren – auch die Alte Welt hat das ihrige abbekommen, und zwar auf das Schrecklichste und Haarsträubendste –; noch weniger, weil ihre Politikerkaste sich mit voller Kraft darauf gestürzt hätte, die öffentliche Sache zu unterminieren, Autophagen vergleichbar, diesen Tieren, die sich selbst aufzehren; und auch nicht so sehr deswegen, weil es schon eingangs eine Schimäre gewesen wäre, »mechanische Blumen« in eine Wüste zu verpflanzen, sondern vielmehr deswegen, weil das Umfeld für dieses Implantat, die ethnisch-intellektuelle Schmiede einer Nation, notwendigerweise die Wachstumskraft und die Wachstumsrichtung dieses neuen Pfropfes vorgibt; und auch deswegen, weil sich alles verändert, ihre Moden, ihre Weltbilder, ihre Machtzentren – und nicht immer ist es den Ländern gegeben, zu erspähen woher der Wind wehen wird, insbesondere dann nicht, wenn er von der Nordhalbkugel her bläst. Vor hundert Jahren war England für uns der Meistbietende, danach sollten es die USA werden, und heute wirbt China um uns. Wie dem auch sei: Jeder Fortschritt, der sich im Rahmen eines Wettbewerbs vollzieht, bei dem es immer noch besser aufgestellte Mitspieler gibt, solche, die noch bessere Ressourcen haben, setzt den eventuellen Rückschlag gleich mit voraus. Und dann passiert es, dass die hintangestellten Träume Gespenster erzeugen, oder zumindest unvorhersagbare Dilemmata, die mit der Zeit zu Schuld werden, alleine schon aus mangelnder Entschlusskraft.

Als Folgeerscheinung der schlechten Erfahrungen des letzten Jahrhunderts, egal ob politisches Auf und Ab, Wirtschaftskrise, eingebildete Ernüchterungen, oder Auswüchse von Wut und Gewalt, ist unsere Nation nicht ohne Blessuren geblieben. Nun zeigt sie schon leichte Tendenze, ihre sprichwörtliche Prahlerei etwas zurückzunehmen, auf einen niedrigeren Level; auch ist sie nun eher geneigt, bewusster die Nähe ihrer lateinamerikanischen Grenzen wahrzunehmen, denen etwas ähnlicher zu werden wir uns ja gerade erst ein wenig bequemen, auch wenn wir deshalb noch nicht aufhören, weiterhin Postkarten aus der Alten Welt zu betrachten. Unser Land ist aber letztlich ein Land, in dem der soziale Aufstieg nicht einfach ein niemals einlösbares Versprechen ist, sondern Gewissheit, und zwar von Geburt an. So war es, bevor wir in unser Zeitalter der Zerrüttung und der Wankelmütigkeit kamen. Jetzt ist die Zeit gekommen, uns nach unseren Möglichkeiten zu richten. Dafür heißt es, realistisch sein, was wir normalerweise nicht sind. Und dafür braucht es Eintracht bei der politischen Führung des Landes, die daran aber nicht sonderlich interessiert ist, denn dieses Land ist unseren Politikern ein wenig zu groß. Daher werden wir eben weiter vorwärts ziehen wie wir es immer getan haben, mit Demonstrationen und Gegendemonstrationen, diesem Rhythmus der Unzufriedenen und derjenigen, die sich nicht entscheiden können, welchen Schritt sie als nächsten tun werden.

Aber unsere Probleme, unsere Ungerechtigkeiten, sind immer noch da, sie sind uns treu, ohne dass sich eine Lösung abzeichnet. Und dabei geht es nicht etwa um Kleinkram, angefangen beim grundlegenden Verhältnis zwischen dem Staat und Gruppeninteressen, was in Argentinien das Politische auf Kosten des Sozialen prägt, gefolgt vom Missverhältnis von Macht und vorhandenen Ressourcen, von langer Tradition, zwischen Buenos Aires und wegen seiner großen Ausmaße bis in die Pampa hinein und den Provinzen im Landesinneren; und zur Krönung des Ganzen ist da noch unsere Unsitte, Lob und Tadel immer an diejenigen zu verteilen, die weder das Eine noch das Andere verdient haben. Gewiss sind alle Länder dieser Erde mit der einen oder anderen Art von Zwickmühle vertraut, aber Argentinien ist es im Superlativ. Uns scheint es leichter zu fallen unsere Probleme zu zerpflücken, als sie auf die Reihe zu bringen, denn jedes Mal, wenn wir ein Problem angegangen sind, haben wir dies nicht mit der passenden Energie getan, war es ein Hin und Her zwischen zu langem Zögern oder Handeln auf einen Schlag, was im Ergebnis oft zu etwas völlig anderem führte als dem, was wir zu erreichen beabsichtigten. Seien es nun die 180º Wendungen in der Wirtschaftspolitik, die Gewohnheit, alles platt zu walzen, was der Vorgänger geschaffen hat, ungeachtet der Verwüstung, die die Nächsten bereits vorbereiten, sei es unsere unbekümmerte Neigung zum Schummeln und Mogeln, die tief im kleinen Herzen und im Verhalten eines jeden Mitargentiniers verborgen scheint, oder der Gefühlswirrwarr, hervorgerufen durch zu ehrgeizige Pläne, die wir uns am Jahresende nicht verzeihen können, immer stellen sich mysteriöser Weise sämtliche Themen schließlich als unlösbar heraus – auch nicht lösbar durch politische Klugheit, Reinigung des Geistes oder bessere gemeinschaftliche Organisation. Sie sind schlicht und einfach besiedelt von unseren Krankheiten und Launen, ohne die dieses Land einfach nicht Argentinien wäre, einer der schönsten Orte der Welt, an denen man gerne lebt, einladend und liebenswürdig, ein wenig spontan, einfach unberechenbar.

Rechnet man alles zusammen, so ist das Ergebnis ungenau, um nicht zu sagen widersprüchlich. Noch wissen wir nicht, ob uns unsere Irrfahrt zu sicheren Gestaden führen wird, ob wir in einem doppelt heftigen Fiasko enden werden wegen der »europäistischen« Prahlerei, mit der wir es etwas übertrieben haben, oder ob wir noch einmal die Chance bekommen etwas zu vollbringen, das vom Ausland oder von unseren Nachfahren als erinnernswert erachtet werden könnte. Doch um das Orakel befragen zu können haben wir jetzt kein Guthaben mehr. Jetzt sind wir abhängig von unserer Eingebung, vom Zufall und unserem Talent.

Aber wir Argentinier dürfen uns bezüglich zweier Dinge ganz sicher sein, nämlich dass man dieses Land mehr lieben als bewundern kann, und dessen, dass wir es geschafft haben, uns selbst zu überleben, was die schwierigste Feuerprobe überhaupt ist, wie der Vogel Phönix, unser alter ego, ja schon immer wusste.

Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2010, ISSN: 0251-3552


Newsletter

Suscribase al newsletter