Artículo
NUSO Nº Januar 2010

Ein Land der Krisen und Krisenüberwindung. Die Kultur der Instabilität und die Transformationsfähigkeit der Politik

Zusammenfassung | Politische und wirtschaftliche Instabilität ist eines der Kennzeichen Argentiniens. Der vorliegende Artikel untersucht die Ursachen dieses Phänomens und vertritt die These, dass die Stop-and-go-Zyklen und die häufigen Veränderungen im Regierungssystem durch die Schwäche des Staates, durch politische Projekte, die fast ausnahmslos auf einen Neuanfang setzen, und durch das von Faktionalismus geprägte Verhalten der sektoralen Akteure zu erklären sind. Die Untersuchung dieser Probleme bedeutet, die »Kultur der Stabilität« in Frage zu stellen, welche diesen beständigen Wesenszug akzeptiert, ihn gar mit dem Hinweis begrüßt, es handele sich um eine Voraussetzung des sozialen Fortschritts, um ein Symptom des Kampfes zwischen den Kräften des Wandels und den Verfechtern des Status quo. Dies impliziert auch, die Bedeutung des »politischen Willens« für das Vorantreiben tiefgreifender und vor allem nachhaltiger Veränderungen in Frage zu stellen.

Ein Land der Krisen und Krisenüberwindung. Die Kultur der Instabilität und die Transformationsfähigkeit der Politik

Der 200. Jahrestag der Unabhängigkeit ging vorüber, ohne größere Debatten auszulösen. Nicht etwa, dass es keine Differenzen und Probleme zu diskutieren gäbe. Die Tatsache, dass diesen in der allgemeinen Feststimmung der Feierlichkeiten zum 25. Mai, dem Tag der Mai-Revolution, keine größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, beruht womöglich zu einem gewissen Grad darauf, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung der permanenten politischen Streitigkeiten überdrüssig ist, und darauf, dass sie – etwas übertrieben – die Diskussion von Ideen mit dieser landestypischen Unsitte in Zusammenhang bringt, die schon Joaquín V. González vor 100 Jahren Sorgen bereitete. Womöglich zutreffender wird das Fehlen einer Diskussion aber mit der Tatsache erklärt, dass die widerstreitenden Meinungsgruppen und Faktionen in ihrer Sicht der Dinge im Grunde konform sind, und dass die Räume (Universitäten, Medien, private Organisationen), in denen ihre Vertreter auf Akteure mit anderen Standpunkten treffen könnten, mehr und mehr verschwunden sind. Sicher ist, dass dieses gespaltene Argentinien, in dem wir heute leben, nicht das Argentinien ist, von dem die Männer der Mai-Revolution und des »Centenario«, des 100. Jahrestags der Unabhängigkeit, geträumt hatten.

Merkwürdigerweise bezieht sich eine der wenigen Fragen, die tatsächlich diskutiert wurden, nicht auf das »Bicentenario«, sondern auf etwas, das wir als »zweites Centenario« bezeichnen könnten. Viele, die heute behaupten, sich vom Wirtschaftsmodell von 1910 inspirieren zu lassen und dessen Erfolge feiern – die das Land seiner Bevölkerung und der Welt in jener Epoche zweifellos vorweisen konnte – bezeichnen das seither verstrichene Jahrhundert als »die verlorenen hundert Jahre«. Seitens des Revisionismus (der in den 30er Jahren diese inzwischen in das nationale Repertoire aufgenommene Vision der Dekadenz erfand und auf die der konservative Liberalismus heute häufiger zurückgreift) und seitens der regierungsnahen Kräfte wird bevorzugt erwidert, dass dieses »Centenario«, dieses erste Jahrhundert der Unabhängigkeit, gar nicht so großartig gewesen sei wie gemeinhin behauptet, dass damals vielmehr eine kleine Oligarchie herrschte, die ein Land für einige wenige geschaffen hatte. Auf diese Weise wird eine seit langem bestehende Diskussion neu belebt: In den Augen der Konservativen und Rechtsliberalen kam Argentinien von seinem Kurs ab, als der Populismus an Boden gewann und die Politik der internationalen Öffnung, der Marktwirtschaft und der Kontrolle der politischen Mobilisierung der Massen verließ, die bis dato so gute Ergebnisse geliefert hatte. Für die Populisten dagegen bestand das Problem vielmehr in der Reaktion der konservativen und der oligarchischen Kräfte auf das unaufhaltsame Vordringen der unteren Bevölkerungsschichten, die verstärkt eine Beteiligung an den Früchten der Entwicklung und eine Ausweitung ihrer politischen und sozialen Rechte forderten. Das Ziel dieses Beitrags besteht nicht darin, die Stärken und Schwächen der beiden Positionen zu erörtern, sondern vielmehr darin, das zu analysieren, worin beide Seiten übereinstimmen: Dass es dem Land nicht so gut erging, wie dies möglich gewesen wäre, und dass dabei möglicherweise Faktoren zum Tragen kamen, die bisher nicht berücksichtigt wurden, obwohl sie durchaus mit den beiden widerstreitenden Positionen vereinbar wären.

Unter diesen Faktoren sticht einer besonders heraus: die Instabilität. Dass Argentinien während des vergangenen Jahrhunderts und bis in die Gegenwart einen hohen Grad an Instabilität aufweist, ist gemeinhin bekannt. Dennoch erscheint es angebracht, Betrachtungen darüber anzustellen, welche Probleme dieser Sachverhalt im Verlauf der Geschichte mit sich gebracht und welche Auswirkungen er auf das aktuelle politische Leben des Landes hat: Um welche Art von Instabilität handelt es sich? Was sind die Ursachen dieses Phänomens? Und die vielleicht wichtigste Frage: Sollte man diese Instabilität nun als Problem oder als Quelle neuer Chancen und Möglichkeiten betrachten? Ist die Instabilität ein Symptom der Öffnung gegenüber dem Wandel, einer sich im Wandel befindlichen Wirklichkeit, oder vielmehr ein Indiz für das wiederholte Scheitern der auf Wandel abzielenden Projekte und für die Schwierigkeiten bei der Konsolidierung einer gemeinsamen Ordnung, innerhalb derer nachhaltige Veränderungen umgesetzt werden können?

Beginnen wir mit der ersten Fragestellung. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass im Laufe der Zeit tatsächlich mehrere verschiedene und zugleich miteinander verbundene «Instabilitäten» auftreten: Es gibt eine wirtschaftliche Instabilität, die sich in ausgeprägten Zyklen wirtschaftlichen Auf- und Abschwungs bezüglich der makroökonomischen Variablen (Beschäftigung, Wechselkurs, Inflation, Einkommen usw.) äußert. Daneben gibt es eine institutionelle Instabilität (sich stark unterscheidende Regierungssysteme und Spielregeln, die sich in Abständen von wenigen Jahren ablösen), und schließlich eine Instabilität hinsichtlich politischer Projekte und Übereinkünfte (Mehrheiten, die gegensätzliche Zielsetzungen verfolgen: Markt oder Staat, Ausrichtung auf die USA oder Antiamerikanismus, garantierte Rechte in Fragen der inneren Sicherheit oder Politik der «harten Hand», um nur einige Beispiele zu nennen). Damit stellt sich schließlich die Frage, ob eine ursächliche Beziehung zwischen den verschiedenen Formen der Instabilität besteht: Ist die wirtschaftliche Instabilität womöglich die Ursache der anderen Formen von Instabilität, und muss folglich diese Form der Instabilität überwunden werden, um politische Stabilität erreichen zu können? Oder gilt es vielmehr, die Institutionen unwiderruflich zu verändern oder endlich einmal einen dauerhaften Konsens über ein »nationales Projekt« herzustellen, um diese ebenso kurzen wie markanten Wirtschaftszyklen zu stoppen?

Auch in der jüngeren Geschichte können vielfältige Aspekte ausgemacht werden, um diese Fragestellungen zu erörtern und die Aktualität des Problems genauer zu verorten. Denn soviel ist gewiss: Obwohl es sich um ein andauerndes Phänomen handelt, scheint doch die Instabilität des politischen Systems überwunden. Seit dem Übergang zur Demokratie im Jahr 1983 bis heute hat sich die Stabilität der politischen Spielregeln doch merklich gebessert. Außerdem gelang es, einige Formen der wirtschaftlichen Instabilität für einige Jahre zu mindern, darunter die Inflation, und wenn auch nicht endgültig und vollständig, so doch wenigstens im Vergleich zu früher.

Berücksichtigt man diese Punkte, die auf eine relative Stabilisierung hinweisen, so stellt sich die Frage, welche Veränderungen zwischen der durch »tiefgreifende Instabilität« gekennzeichneten Phase und der aktuellen Situation stattfanden. Und diesbezüglich springt ein Sachverhalt besonders ins Auge: Das Argentinien, das in den 50er und 70er Jahren ein »Reich der Instabilität« war, war auch das Argentinien zunehmender sozialer Mobilität, mit einem vergleichsweise sehr hohen Grad an sozialer Gleichheit sowie einer sozialen und politischen Mobilisierung der unteren Bevölkerungsschichten. Damit könnte man die Instabilität nicht nur mit einer »Errungenschaft«, sondern auch mit einem »Verlust« in Zusammenhang bringen: mit einer progressiven und zunehmend ausgeprägten Ungleichheit der Voraussetzungen, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen ist. Eine Vielzahl von Autoren folgen dieser Interpretation, unter ihnen Pablo Gerchunoff und Lucas Llach in ihrem 2004 veröffentlichtem Buch Entre la equidad y el crecimiento1 [Zwischen Gleichheit und Wachstum]: Das »Jahrhundert der Gleichheit«, wie sie das zweite Jahrhundert der Unabhängigkeit bezeichnen, war demzufolge ein instabiles Jahrhundert, da in der Gesellschaft Kräfte präsent waren, die sich sowohl für das politische als auch für das wirtschaftliche System als unregierbar erwiesen. Kann daraus gefolgert werden, dass es ein historisches Dilemma gab, und vielleicht immer noch gibt, dergestalt, dass Gleichheit Instabilität bedeutet und Stabilisierung eine Zunahme der Ungleichheit? In bestimmten Veröffentlichungen, die den in den letzten Jahrzehnten vollzogenen Demokratisierungsprozess kritisch beleuchten, sowie bestimmten »progressiven« politischen Positionen, die derzeit in Mode sind, wird dies so gesehen. Dieses Argument wird benutzt, um die Ablehnung oder das Misstrauen gegenüber der Stabilität und die Toleranz gegenüber verschiedenen Formen der Instabilität zu rechtfertigen: Inflation, Bruch von Verfassungs- und Verfahrensnormen, Ablehnung von Übereinkommen und Konsensbildung als Mittel zur Einführung von Veränderungen usw. Diese und andere Formen der Instabilität werden zudem positiv mit der »Transformationsfähigkeit« der Politik in Verbindung gebracht und deshalb begrüßt.

Auf diese Weise gelangen wir zur dritten der eingangs aufgeworfenen Fragen. Dabei geht es um die These, Instabilität sei kein Problem, das es zu beheben gilt, sondern vielmehr Ausdruck eines seit Jahrzehnten »andauernden Kampfes« zwischen den Kräften des Wandels und den Vertretern des Status quo. Wenn dem so ist, dann müsste das Land weiterhin Phasen hoher Instabilität durchmachen, um einen nicht nur stabilen, sondern im Hinblick auf demokratische Qualität, soziale Gleichheit, Achtung der Bürgerrechte usw. auch wünschenswerten Zustand zu erreichen. Räumte man der Stabilität Priorität ein, so würden nach dieser Auffassung mögliche und notwendige Veränderungen aufgehalten und vereitelt. Diese Argumente rechtfertigen, was man als »Kultur der Instabilität« bezeichnen könnte.

In diesem Artikel soll diese Kultur einer Kritik unterzogen werden, wobei wir von der Hypothese ausgehen, dass das bis Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Zusammenspiel von Instabilität und sozialer Mobilität (oder Angleichung der Bedingungen) seither in zunehmendem Maße durch ein Zusammenspiel von Instabilität und Ungleichheit abgelöst wurde. Dies rechtfertigt seinerseits, bei den Bemühung um die Wiederherstellung des verlorenen Niveaus an Gleichheit eher an stabilisierende Maßnahmen zu denken.

Mit dieser Idee vor Augen lässt sich in einem ersten Schritt argumentieren, dass die tiefgreifende wirtschaftliche, politische und institutionelle Instabilität, die das Land zwischen den 50er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts durchmachte, weder durch die überlieferte Gleichheit noch durch die daraus resultierende »Pattsituation« verursacht wurde, sondern im Wesentlichen von anderen Faktoren, die mit ersteren nur beiläufig verbunden sind und diese zudem überdauerten: die Schwäche des Staates, politische Projekte, die fast ausnahmslos auf einen Neuanfang setzen, und das von Faktionalismus geprägte Verhalten der sektoralen Akteure. Zweitens, und unter Einbeziehung der obigen Ausführungen, lässt sich die Behauptung aufstellen, dass die seit Beginn der 70er Jahre zunehmende Ungleichheit nicht so sehr durch »Stabilitätspolitiken« verursacht worden ist, als vielmehr durch deren Scheitern und dem Vorherrschen zunehmend ungleicher Machtverhältnisse innerhalb eines andauernd instabilen Umfeldes. Und zum Schluss lässt sich argumentieren, dass sich die transformierende Kraft der Politik weder in unserem noch in irgendeinem anderen Fall in einem instabilen Umfeld als stärker erwiesen hat als in einem stabilen Umfeld. Die Instabilität, an der Argentinien noch immer leidet, und die Kultur, die diese Instabilität feiert, müssen daher als nutzlose Relikte von Phänomenen verstanden werden, die in ihrem Ursprung tatsächlich mit der Jugend, mit der Mobilität und Offenheit gegenüber Veränderungen zusammenhingen, welche die argentinische Gesellschaft und Politik bis Mitte des 20. Jahrhunderts kennzeichneten, und insbesondere mit dem populistischen Weg, über den damals die Demokratisierung und soziale Gleichstellung kanalisiert wurden. Aber aufgrund der Unmöglichkeit, diesen Zusammenhang erneut herzustellen, sind die Instabilität und mit ihr der Populismus zu Hindernissen geworden, die die Wiedererlangung der verlorengegangenen sozialen Dynamik und Integration behindern, statt sie zu unterstützen und voranzutreiben.

1. Die argentinische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist zutreffend als Friedhof einer beeindruckenden Anzahl unterschiedlicher politischer Projekte bezeichnet worden. Es gibt praktisch kein Phänomen in der Weltpolitik, das nicht auch bei uns in irgendeiner Form seinen Ausdruck gefunden hätte und dessen Umsetzung nicht zumindest versucht worden wäre. Bisweilen erlebten einige dieser Projekte einen kurzlebigen Höhepunkt in Form eines Regimes oder zumindest einer Regierung, um sich bald darauf in Luft aufzulösen und dem nächsten Experiment Platz zu machen, dem schließlich ein ähnliches Schicksal zuteil wurde. Diese Abfolge politischer Erfolge und Krisen wurde von ebenso markanten Wirtschaftszyklen begleitet, die sich von Fall zu Fall, während oder nach den politischen Schwankungen vollzogen. Dieses als Stop-and-Go bezeichnete Phänomen erreichte in Argentinien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts extreme Ausmaße: Seit den 70er Jahren bis heute brach die Wirtschaft mehrmals zusammen, um sich bald darauf wieder zu erholen. Dieses Phänomen war bereits wohlbekannt im Land, schon bevor die Wirtschaftswissenschaftler ihm diesen Namen verliehen: Neuere Untersuchungen über das Ende des 19. Jahrhunderts in Argentinien belegen, dass diese ausgeprägten Zyklen wirtschaftlichen Auf- und Abschwungs selbst in der erfolgreichsten Phase der wirtschaftlichen Expansion auftraten. Waren also die wiederkehrenden Wirtschaftskrisen die Ursache der politischen Instabilität? Oder war es vielmehr umgekehrt? Oder wurden beide von einem dritten Phänomen verursacht, das es erst noch zu bestimmen gilt?

Von den möglichen ursächlichen Faktoren heben sich zwei besonders ab, die aufgrund ihrer Fokussierung auf die Folgen des Peronismus zu klassischen Fragestellungen in der argentinischen Soziologie der 60er Jahre wurden, und die eng miteinander verknüpft sind: die Schwäche, Fragmentierung oder »Abwesenheit« der Führungsschichten, sowie die herausfordernde Macht der stark integrierten und mobilisierten unteren Bevölkerungsschichten. In der Literatur über das Fehlen einer geeinten und homogenen, politisch an der Regierung des Landes interessierten Führungsschicht wird gelegentlich auf die strukturelle und geografische Heterogenität der oberen Gesellschaftsschichten verwiesen. In anderen Fällen wird ihr Fehlen mit dem Wesen ihrer Kultur und Ideologie erklärt, die sie zur politischen Abstinenz und zur Verfolgung rein konjunktureller Ziele verleitet habe. Diese Thesen heben in ihren unterschiedlichen Varianten die geringe kollektive Handlungsfähigkeit der gesellschaftlichen Führungsschichten hervor. Und sie führen direkt oder indirekt zur Identifizierung eines weiteren »Problems«: die Tatsache, dass diese Handlungsfähigkeit am anderen Ende der gesellschaftlichen Struktur »in Übermaßen« vorhanden ist. Dies könnte die Ursache einer »Pattsituation« sein, die Autoren wie Guillermo O’Donnell und Tulio Halperin Donghi mit verschiedenen Begriffen umschrieben haben. In wenigen Worten: Diese Konstellation habe andauernde Spannungen zwischen den Klassen und ihren Interessen erzeugt, was die argentinische Gesellschaft unregierbar und dauerhaft instabil gemacht habe.

Die frühe politische Mobilisierung der unteren Klassen und die Präsenz mächtiger sozialer und politischer Bewegungen mit diesen Klassen als ihren Hauptakteuren hätten angesichts der Schwäche der oberen Gesellschaftsschichten kaum eingedämmt oder aufgehalten werden können. Aber halten wir fest, dass derartige »Pattsituationen« in demokratischen Gesellschaften normalerweise ein Faktor für Stabilität und nicht für Instabilität sind. Warum war in Argentinien das Gegenteil der Fall?

Als Erklärung hierfür wird häufig die »konservative Reaktion« angeführt: Im Gegensatz zu den Oberschichten in den Industrienationen, die den Wohlfahrtsstaat akzeptierten oder gar förderten, tolerierten in Argentinien die Führungsschichten und ihre politischen Organisationen dies aufgrund ihrer eigenen Schwäche nicht, und schon gar nicht die daraus folgende Gleichheit. Folglich unterstützten sie politische Projekte, die auf Spaltung abzielten, und förderten »Reaktionen«, die die Egalisierung zwar nicht rückgängig, dafür aber konfliktiv und instabil machen konnten.

Ein weiterer, ähnlicher Erklärungsansatz verweist auf eine Überlastung des Staates durch die an ihn gerichteten Forderungen: Diese Überlastung habe die Autonomie und Kohäsion des Staates geschwächt, und damit dessen Fähigkeit, Konflikte zu schlichten und zu lösen. Der Staat werde so zum Schauplatz permanenter Interessenkonflikte, die schnell zu politischen Konflikten führen und die Legitimität der Spielregeln gefährden können.

Ein dritter Erklärungsansatz ist wirtschaftlicher Natur: Die Einkommensverteilung, die demnach Folge dieser sozialen Pattsituation war (und diese zugleich verfestigte), war weder mit dem Grad der Produktivität und der allgemeinen Entwicklung der Wirtschaft noch mit den vorhandenen staatlichen Ressourcen vereinbar. Dies verursachte, so die Argumentation, anhaltende wirtschaftliche Ungleichgewichte (Inflation, Zahlungsbilanzkrise usw.) und gesellschaftspolitische Schieflagen (Legitimitätsverlust von Institutionen und von Instrumenten der Wirtschaftsregulierung).

Diese Erklärungen werden häufig herangezogen, nicht nur um die Entwicklung des peronistischen Regimes sondern auch dessen Niedergang und den darauffolgenden politischen Prozess zu beschreiben. Dies kommt nicht von ungefähr, kann doch der Peronismus als Höhepunkt der »Pattsituation« zwischen den Klassen gesehen werden, als Ausdruck und zugleich Motor des Verlusts des Zusammenhalts und der politischen Schwächung der oberen gegenüber den unteren Gesellschaftsschichten. Auf diese Weise bildete sich seit der Zeit des Peronismus die Grundachse des politischen Systems in Argentinien heraus, diese Spannung zwischen einer »in Übermaß« egalitären und mobilisierten Gesellschaft und einem politischen und wirtschaftlichen System, das chronisch zu schwach war, sie zu regieren.

Dennoch sei hier darauf verwiesen, dass – obwohl diese Faktoren zweifelsohne ihre Bedeutung für die Krise des peronistischen Regimes hatten, wie auch für die darauffolgenden Schwierigkeiten in der Stabilisierung eines anderen, das peronistische ablösenden Regimes – eine eingehendere Analyse, neben der Gleichheit als solcher und der relativen »Schwäche« der oberen Schichten, vor allem die kulturellen und politischen Wesenzüge betrachten müsste, die die Beziehungen zwischen den Klassen und deren Akteuren prägten. Wenn sich die Gleichheit und die »Pattsituation« als unregierbar herausstellen würde, dann sollte dies nicht so sehr an ihrem »Ausmaß« als vielmehr an ihrer Form und Bedeutung liegen: Das peronistische Argentinien war demnach nicht »zu egalitär« angesichts seiner wirtschaftlichen und institutionellen Möglichkeiten und der »Toleranz« der oberen Schichten; vielmehr handelte es sich um eine Gesellschaft, die andere, besonders problematische Faktoren in sich aufnahm. Faktoren, die zudem das allmähliche Verschwinden des egalitären Umfelds überdauerten, in dem sie anfangs zur Geltung kamen.

Zwei Umstände können diesbezüglich hervorgehoben werden. Zum einen der fragmentierte Charakter der Interessen, die in die staatliche Sphäre hineinwirken. Dies lag nicht so sehr am relativen Gleichgewicht zwischen Klassen und Interessen, als vielmehr an den Schwierigkeiten, Kooperationsformen zwischen diesen Klassen und Interessen zu finden und an der damit einhergehenden Reduzierung der Bindungen zwischen Gruppen und einzelnen Akteuren (nicht nur zwischen Arbeitern und Kapitalisten, sondern auch innerhalb dieser großen Gruppierungen) auf ein Nullsummenspiel: Was ein Akteur gewinnt, geht auf Kosten der anderen Akteure.

Auch muss man darauf hinweisen, wie der politische Kampf eigene destabilisierende Faktoren einführte, indem er die Neubestimmung der Identitäten und die Neuausrichtung der Akteure zu seiner wichtigsten und unmittelbaren Zielsetzung machte: Die Politik richtete sich auf diese Weise – während wie auch nach dem peronistischen Regime – fast permanent auf die Bildung eines »Wir« aus (wie dem »Wir« eines »Volkes«, der Identität als »Nation«) sowie auf die Gestaltung von Projekten, die aufbauend auf diesem Fundament auf einen Neuanfang abzielten. Diese Projekte wollten eine umfassende und endgültige Wiederherstellung des Parteiensystems erreichen und schenkten der Behebung alltäglicher und unmittelbarer Probleme und der Herausbildung darauf ausgerichteter spezifischer Konsense relativ wenig Beachtung. Damit wird auch verständlich, weshalb nach 1955, nach der Entmachtung des Peronismus, praktisch alle Regierungsprogramme – selbst jene, die, wie im Falle der halbdemokratischen Regierungen von Arturo Frondizi und Arturo Illia, die von dem entmachteten Regime geerbte Gleichheit erhalten wollten – es als ihre dringende Aufgabe verstanden, die politische Identität der Mehrheiten zu verändern, die daraus entstanden war. Und so wird auch verständlich, weshalb die seit den 70er Jahren zunehmende Ungleichheit, die sicher von einer Stärkung und Homogenisierung der vorherrschenden Akteure begleitet war, das Problem der Instabilität nicht behebt, sondern es vielmehr – vor allem und gerade in wirtschaftlicher Hinsicht – noch verschärft: Nie war die argentinische Wirtschaft so instabil wie während des von der letzten Diktatur vorangetriebenen Prozesses der Desartikulation der unteren Gesellschaftsschichten, der im Zuge der sukzessiven Krisen in den darauffolgenden Jahren die Einkommen und Chancen der Unterschicht verschlechterte.

2. Für Historiker wie Halperin Donghi und Staatsforscher wie O’Donnell bestehen die entscheidenden Faktoren zur Erklärung der markanten Wirtschaftszyklen wie auch der Schwierigkeiten, das politische Leben in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in stabile Bahnen zu lenken, in der Schwäche der öffentlichen Institutionen gegenüber einer mobilisierten und zugleich gespaltenen Gesellschaft sowie in der Präsenz politischer Bewegungen, die auf einen Neubeginn ausgerichtet sind und insofern ausschließenden Charakter haben. Die Schwäche des Staates wird dabei hier nicht in Zusammenhang mit seiner Größe gesehen, sondern mit dem Mangel an staatlicher Autonomie und Kohäsion: Ein Staatsapparat wie in den 50er und 60er Jahren, der in einer Vielzahl von Bereichen intervenierte, ohne die Fähigkeit zur effizienten Regulierung dieser Bereiche und zur Lösung von Konflikten zu besitzen, war bereits ein schwacher Staat. Und er blieb es auch während der darauffolgenden autoritären und halbdemokratischen Experimente.

Aus dieser Perspektive betrachtet bestünde das Charakteristische an dieser Periode kritischer Instabilität darin, dass der Staat zum bevorzugten Terrain für Auseinandersetzungen jeglicher Art wurde und sich zunehmend in Konflikte verwickelt sah, die er selbst nicht lösen konnte. Damit ließe sich zugleich erklären, weshalb der Prozess der »Ungleichmachung« nicht von der Etablierung einer stabilen Ordnung begleitet wurde, sondern von einer Abfolge von Anpassungen, die allesamt mehr oder weniger chaotisch waren und aus denen keine neuen Institutionen oder Spielregeln hervorgingen, sondern lediglich zunehmend ungleiche Machtverhältnisse, die mangels Legitimität und Einigung zwischen den wichtigsten politischen und sozialen Akteuren prekär blieben.

So kam es, dass Argentinien nach und nach das einst vorhandene Maß an Gleichheit und Integration verlor und gleichzeitig an Fähigkeit zu kollektivem Handeln einbüßte – und zwar nicht ausschließlich, aber vor allem in den untersten Gesellschaftsschichten: Die sektorale und institutionelle Fragmentierung sollte schließlich auch Auswirkungen auf die konservativen Parteien, die katholische Kirche, die Arbeitgeberverbände und die Streitkräfte haben. Und das Land gewann nicht an Stabilität, sondern bewahrte weitgehend jene Züge von Instabilität, die es schon vorher gekennzeichnet hatten, und in einigen Bereichen, wie z. B. in den Wirtschaftsbeziehungen, kamen gar neue Faktoren von Instabilität hinzu. Hieraus folgt zudem, dass die Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Klassen sowie zwischen den Klassen und dem Staat nicht allein aufgrund ihrer Ungleichheit, sondern auch wegen ihres prekären Charakters problematisch sind. Und dass wir damit nicht nur einem wachsenden Problem der Ungerechtigkeit, sondern auch der Unordnung gegenüberstehen: Beide Probleme, Unordnung und Ungerechtigkeit, hatten sogar die Tendenz, sich wechselseitig zu begünstigen.

Dies veranlasst den Autor, die Prämisse zu hinterfragen, wonach die Wirtschaft, die Politik und die argentinischen Institutionen starr und «resistent gegenüber Veränderungen» sind, und die Instabilität auf einen lang andauernden und unentschiedenen Kampf zwischen »innovativen Kräften« und denen der Ordnung zurückzuführen ist. Das politische und wirtschaftliche Leben Argentiniens hat im Verlauf der Jahre ausreichend unter Beweis gestellt, wie erfolglos Veränderungsprozesse sind, die momentanen Nutzen aus einer labilen Situation ziehen, bis sich diese Situation gegen sie selbst wendet. Projekte, die auf Veränderungen abzielen und die Konsens erreichen, bestätigen sich in der Regel nicht, wenn sie auf den Widerstand eines starren, reaktiv agierenden Status quo stoßen, sondern dann, wenn sie sich im Zeitverlauf bewähren und mit festen Fundamenten versehen werden, und dies in einem Umfeld, das sich schnell verändert und in dem sich die Neuheiten von gestern immer wieder unter dem Einfluss anderer, aktuellerer Ereignisse relativieren.Überhaupt muss man sich fragen, ob sich in diesem komplizierten Szenarium, das sich gegen alle Anstrengungen zugunsten des Aufbaus stabiler Institutionen geradezu verschwört, nicht auch einige permanente Züge erkennen lassen. Was überdauert diese Zyklen und wie gelingt dies? Was vor allem überdauert, das sind die bereits erwähnten ursächlichen Faktoren dieser Situation: die Fragmentierung der sektoralen Akteure, die immer wieder auf einen völligen Neuanfang ausgerichteten Politiken und die Schwäche der öffentlichen Institutionen. Wenn man nun betrachtet, welche Erfahrungen seit 1983 mit der Demokratie gemacht wurden, ist leicht zu erkennen, dass genau diese Faktoren weiter wirksam sind. Die erste demokratische Regierung unter Raúl Alfonsín setzte sich zumindest anfangs zum Ziel, die erworbene demokratische Legitimität für eine Wiederherstellung der in der vorangegangenen Dekade verlorenen sozialen und wirtschaftlichen Gleichheit einzusetzen. Alfonsíns Nachfolger, Carlos Menem, entschied sich demgegenüber für den entgegengesetzten Weg: Er akzeptierte die wirtschaftliche Ungleichheit als Ausgangspunkt für die Gestaltung eines neuen Beziehungsgefüges zwischen den einzelnen Wirtschaftsakteuren sowie zwischen diesen und dem Staat. Beide Versuche hatten gemein, dass sie die Schwäche der staatlichen Institutionen ebenso wenig überwinden konnten wie die Ausnutzung dieser Schwäche durch sektorale Interessen, und hier insbesondere – wenn auch nicht nur – durch die stärksten.

Diese Defizite traten im Verlauf der Zeit wiederholt auf. Die »Stabilität« bestimmter Akteure und Institutionen, denen es gelang, ihr Fortbestehen zu sichern und ihre Ressourcen und Einflussbereiche inmitten des Demokratisierungsprozesses zu erhalten, begünstigte zugleich den Fortbestand der Voraussetzungen für die Instabilität: Zwei zutreffende Beispiele hierfür sind das Gewerkschaftsmodell und das System zur Verteilung der Bundessteuern. In beiden Fällen handelt es sich um Institutionen, die Verhaltensweisen fördern, die wenig kollaborativ sind, nämlich Nullsummenspiele in der Verteilung öffentlicher Ressourcen sowie in den Verhandlungen zwischen den einzelnen Wirtschaftsakteuren und zwischen diesen und dem Staat. Und in beiden Fällen handelt es sich um »Überlebende« der politischen und ökonomischen Reformen in den 80er und 90er Jahren. Beide spielten eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung von Regierungsbündnissen, die nicht nur hinsichtlich ihrer Legitimität problematisch waren, sondern auch zu starr, um auf Krisensituationen antworten zu können: Zwei gute Beispiele sind die »Informalisierung« eines Großteils der Arbeitsverhältnisse seit Beginn der 80er Jahre und die erzwungene Neuregelung des Finanzausgleichs in den 80er und 90er Jahren, die sich für den Staatshaushalt als langfristig nicht haltbar erwies.Zusammenfassend kann man daher sagen, dass – obgleich einige Formen extremer Instabilität wie der Konflikt zwischen verschiedenen Legitimitätsprinzipien und die Hyperinflation überwunden werden konnten – sich die Institutionen in diesem Prozess nicht so weit konsolidiert haben, um ein Fortbestehen der strukturellen Faktoren der Unordnung und damit erneute tiefgreifende politische und Wirtschaftskrisen verhindern zu können. Dies ist das Szenarium, das uns die Dekaden der Demokratie hinterlassen haben.

Ein weiteres Merkmal, das die politischen Projekte der demokratischen Phase sowohl untereinander als auch mit vorangegangenen Projekten gemein hatten, bestand in der ständigen Ambition, das politische System neu zu begründen, diesmal mittels einer umfassenden Neuformierung der Akteure, die den politischen Kräften eine neue Dynamik verleihen bzw. ihre Identität und ihre Abgrenzung untereinander neu bestimmen sollte. Diese Ambition ist in Wirklichkeit so alt wie die großen Parteien selber; auch heute noch ist sie stark präsent, und eine ihrer gängigsten Formen wird als »Transversalität« bezeichnet.

Transversalität ist die Formel, mit der eine Koalitionsbildung unter Einbeziehung aller vorhandenen politischen Kräfte – kleiner wie großer, alter wie neuer – gefördert wird, um sie auf diese Weise zu schwächen und die Formierung neuer Kräfte zu begünstigen, die sodann eine zentrale Rolle in einer neuen Etappe des nationalen politischen Lebens spielen und eine «neue Politik» machen sollen, sowohl hinsichtlich ihres Stils als auch hinsichtlich ihrer Agenda und ihrer Programme. Vorläufer dieser Transversalität finden sich zu Zeiten der Herausbildung des Radikalismus und des Peronismus sowie in den jeweiligen Blütezeiten dieser Bewegungen. Dabei wird von der nicht unbegründeten Annahme ausgegangen, dass die Interessen und Ideologien sich in den bestehenden politischen Parteien nur schlecht widerspiegeln – die Arbeiter unterstützen die Konservativen, die besser gestellte Mittelschicht sympathisiert mit sozialreformerischen Parteien usw. – und dass dies eine der zentralen Ursachen unserer politischen Instabilität ist. Für eine bessere Politik muss man folglich die Akteure »richtig zu gruppieren«, also in einer Koalition oder politischen Kraft all jene Kräfte zusammenzuführen, die – obgleich sie unterschiedlichen Parteien angehören – bei vorrangigen Themen der politischen Agenda ähnliche Positionen vertreten könnten. Wenn wir unsere jüngste Geschichte Revue passieren lassen, wird sichtbar, dass alle Regierungen und Führer der letzten Jahrzehnte einen bedeutenden Teil ihrer Energie darauf verwendet haben, diese Art von Neuformierung in die Praxis umzusetzen: Die Radikalen taten es mit den Peronisten, die Peronisten mit den Radikalen, die Linke und die Rechte mit beiden. Und das Ergebnis war stets enttäuschend. Bisweilen konnten sie die tradierten politischen Formationen schwächen, sie scheiterten jedoch wiederholt mit ihrem Versprechen, sie hinsichtlich Programmen, Interessen und der Identitätsstiftung durch nachhaltigere und produktivere zu ersetzen. Die Hoffnung, durch eine Neuordnung des Parteiensystems die »alte Politik« zu überwinden und neue, stabilere Akteure mit stabileren Spielregeln zu bilden, ist immer wieder gescheitert. Nach fast drei Jahrzehnten demokratischen Lebens zeigt sich als Ergebnis vielmehr ein System, das – obgleich es sich um zwei große Parteien und in den letzten Jahren zunehmend um eine einzige vorherrschende Kraft, den Peronismus, dreht – keines der Wesensmerkmale konsolidierter Systeme ausweist: Diese Kräfte sind kaum mehr als Konglomerate von Führern und Gruppierungen, die keinen inneren Zusammenhalt, keine internen Spielregeln haben und die sich je nach den Umständen, je nach Bedarf oder Vorteil, auflösen und neu formieren.

3. In der jüngsten Geschichte finden sich einige Beispiele politischer, wirtschaftlicher und institutioneller Innovationen, die in einem Umfeld relativer Stabilität möglich wurden. Dagegen gibt es auch Beispiele politischer Innovationen, die gerade wegen der herrschenden Instabilität scheiterten. Zum ersten Fall lassen sich folgende Beispiele hervorheben: die in den 80er Jahren mit Nachbarländern erreichten Vereinbarungen (Grenzabkommen mit Chile, Handelsabkommen mit Brasilien); die parteiübergreifenden Übereinkünfte zur Reformierung der Streitkräfte Ende der 80er Jahre (mit den Verteidigungs- und Sicherheitsgesetzen); die Innovationen zur Stärkung der Zentralbank und zur Rationalisierung der Finanzverwaltung und des Staatshaushalts ab 1992; oder die Finanz- und Währungsreformen, die ab 2002 eine lange Phase wirtschaftlichen Aufschwungs einleiteten. Natürlich kann man diese Neuerungen auch als Ausnahmen betrachten, und deshalb als prekäre oder partielle Erscheinungen in einem ansonsten von Instabilität dominierten Umfeld, das sie in einem gewissen Ausmaß neutralisierte. Aber das ändert nichts daran, dass sie langfristige Wirkungen hatten, die bis heute andauern.

Es handelt sich dabei zudem um Veränderungen, die sich in fast allen Fällen auf Nebenschauplätzen der politischen Auseinandersetzung vollzogen, während auf der politischen Bühne andere Fragen diskutiert und viel aufsehenerregendere und beeindruckendere Initiativen vorangetrieben wurden, welche in vielen Fällen als Bestandteil von Kämpfen oder Projekten mit epochaler Reichweite dargestellt wurden, die auf einen Neuanfang abzielten und ein für allemal das politische und Wirtschaftsleben des Landes ändern sollten. Die Abkommen mit den Nachbarstaaten und das Verteidigungsgesetz wurden beschlossen, während in der politischen Arena die Stabilisierungsmaßnahmen des »Plan Austral«, die Generalstreiks der Confederación General del Trabajo (CGT) und die Rebellionen rechtsgerichteter Militärs, der »Carapintadas«, diskutiert wurden. Die Veränderungen in der staatlichen Geld-, Haushalts- und Finanzverwaltung wurden vereinbart, während im Eiltempo Privatisierungen und andere Maßnahmen umgesetzt wurden, die deutlich mehr Ablehnung oder auch Zustimmung hervorriefen. Und die Vereinbarung der Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft im Jahr 2002 erfolgte, während die Gesellschaft gegen die politische Elite und die Banker mobil machte und die Regierung und der Kongress versuchten, die Folgen des Endes der Konvertibilität in den Griff zu bekommen. Zweifelsohne bedeuteten auch diese Entscheidungen je nach Fall Fortschritt oder Rückschritt, Kosten oder Nutzen für den einen oder anderen Sektor und für den Staat. Langfristig sollten sie jedoch weniger nachhaltig sein als die »zweitrangigen« Entscheidungen, die von ihnen verdeckt wurden.

Dies veranschaulicht die zu Beginn dieses Artikels aufgestellte These, wonach Instabilität gemeinhin keinen fruchtbareren Boden für Wandel bietet als Stabilität. Jedenfalls legen die Erfahrungen Argentiniens seit Mitte des 20. Jahrhunderts nahe, dass ihr diese Funktion nur in äußerst geringem Maße zukommt. Damit wird nichts behauptet, was die moderne Institutionentheorie nicht schon mehrfach nachgewiesen hätte. Diese Theorie bietet mehrere überzeugende Argumente, um die Grundannahmen der Kultur der Instabilität in Zweifel zu ziehen: Wenn die Machtverhältnisse zwischen den Akteuren labil sind, büßen sie alle ihre Fähigkeit ein, grundlegende und unaufschiebbare Probleme des Kollektivs zu lösen, auch wenn sie sich je nach Umständen in einzelnen Bereichen Vorteile verschaffen können oder in bestimmten Konflikten als Sieger sehen. Sie alle können sich Hoffnung machen, ihre »15 Minuten« zu erleben, müssen in Erwartung dieser Gelegenheit aber enorme Ressourcen aufwenden, und noch einmal so viele, wenn die Gelegenheit verstrichen ist.

Dies sind die Regeln der »Politik der Instabilität«, die so sehr unsere Aufmerksamkeit weckt und das gesamte oder nahezu gesamte öffentliche Leben bestimmt, und die mit einer Überbetonung der Rolle des Willens in Prozessen des Wandels einhergeht: Der Wille, so diese Annahmen, ist per Definition die »Kraft des Wandels«, die »den Unterschied macht«, »den Ausschlag gibt« in die eine oder andere Richtung. Wenn es uns nicht gelingt, die gewünschten Veränderungen durchzusetzen, dann, so könnte man annehmen, weil «es an Willen fehlt». Gegen diese Annahme sprechen zudem Jahrhunderte demokratischen und republikanischen Denkens, das uns lehrt, dass das entscheidende Mittel für wirksame Veränderungen und vor allem deren Erhaltung nicht im Willen der Führer oder der Massen zu finden ist, sondern in der Existenz von Institutionen, die offen für Reformen sind. Die Existenz dieser besonderen Art von Institutionen, die in der Lage sind, den in einer Gesellschaft, im Staat und in ihnen selbst sich vollziehenden Wandel zu verarbeiten, bedingt eine «demokratische Ordnung». Und an diesen Begriffen müsste man unsere politische Kompetenz und die innovativen Fähigkeiten unseres praktischen Handelns und unserer Kultur messen.

Dies führt zur Betrachtung eines letzten Punktes: dazu, wie heute die wirtschaftliche und die politische Instabilität zusammenhängen. Nicht wenige Wirtschaftsanalysen gehen davon aus, dass die Faktoren hinter den Stop-and-go-Zyklen (fehlende Außenfinanzierung und Verschlechterung der Terms of Trade, Verteilungsdruck und Druck auf die relativen Preise, was die die Handelsbilanz schwächte und zur Wahl zwischen Überbewertung oder Inflation zwang) nach der Hyperinflation von 1989-1990 und noch mehr nach der Anpassung in Folge der Freigabe des Wechselkurses dazu tendierten, vollständig oder zumindest teilweise an Einfluss zu verlieren. Wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, inwieweit die politischen Faktoren diesen Kontextwandel begleitet haben. Und falls nicht, warum und welche Wege es gibt, damit sie es tun.

Wenn die politischen Faktoren der Instabilität in der Gegenwart einen entscheidenden Einfluss auf die Wirtschaftszyklen ausüben, dann kommt der Behebung einiger seit Jahrzehnten in diesem Bereich vorhandener Probleme (z. B. im Parteien- und Wahlsystem, im föderalen System und in der Gewerkschaftsbewegung), eine neue, viel dringlichere Bedeutung zu. Eines dieser Probleme besteht in der Beziehung zwischen »politischem und sozialen Wandel« und Populismus. Aufgrund der Merkmale, die die argentinische Gesellschaft und Politik vor einem Jahrhundert aufwies (ihre Jugend, der bedeutende Einfluss der Einwanderung, die territoriale Heterogenität usw.), war der Populismus womöglich eine notwendige Erscheinung auf dem Weg zu Demokratie und Gleichheit. Seit die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen jedoch einen radikalen Wandel durchmachten, seit sie geschwächt und zugleich deutlich starrer wurden, scheint der Populismus keine Lösungen mehr für die vorhandenen Probleme anzubieten, sondern vielmehr eine Rechtfertigung für sein Scheitern. Er ist keine Kraft des Wandels mehr, sondern steht für eine auf Ressentiments begründete Kultur und Politik.

Neben diesen politischen und institutionellen Herausforderungen konfrontiert uns die erneute Diskussion über Wandel und Stabilität mit einer im engeren Sinne intellektuellen Herausforderung: Als Folge dieser Phase tiefgreifender, in den Jahren der Demokratie noch verstärkter Instabilität, tendierte man dazu, nationale Probleme aus einer politisierten, von der jeweiligen Konjunktur abhängigen Perspektive zu reflektieren. Dieser Trend hatte zweifelsohne seine Daseinsberechtigung: Denn die unzähligen aufeinanderfolgenden, ausweglos erscheinenden Problemlagen der letzten Jahrzehnte wurden vor allem durch den Einsatz der politischen Kunst auf die ein oder andere Weise überwunden. Zugleich erschwerte dies aber die Möglichkeit, jene Fragestellungen, die in der Blütezeit des Desarrollismo, der Modernisierungssoziologie und der Sozialgeschichte als »strukturell« bezeichnet wurden, nun aus der richtigen Perspektive zu sehen. Die akademische und öffentliche Debatte sollte heute einen neuen, aufmerksamen Blick auf den Wandel dieser Strukturen werfen.

  • 1. Entre la equidad y el crecimiento. Ascenso y caída de la economía argentina 1880-2002, Siglo xxi, Buenos Aires, 2004.
Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2010, ISSN: 0251-3552


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