Artículo
NUSO Nº Januar 2007

Sieben Fragen und sieben Antworten zu Bolivien unter Evo Morales

Zusammenfassung | Ist Evo Morales Indigenista? Ist sein Projekt eine Alternative zum Neoliberalismus? Welche Rolle fällt den sozialen Bewegungen zu? Wie sehr ist er wirklich von Hugo Chávez beeinflusst? Was soll mit der Verstaatlichung der Öl- und Erdgasvorkommen erreicht werden? Was wird aus der Verfassungsgebenden Versammlung? Und was ist mit der Autonomie der Region Santa Cruz? Der Artikel wirft Fragen zu einigen der entscheidenden Aspekte der bolivianischen Gegenwart auf und versucht, erste Antworten zu finden. Unabhängig von der Tagespolitik und dem möglichen Ausgang der Ära Morales vermutet der Autor intuitiv, dass sich derzeit eine Wende in der Geschichte Boliviens anbahnt.

Sieben Fragen und sieben Antworten zu Bolivien unter Evo Morales

1. Ist Evo Morales Indigenista?

Diese Frage kann nur vor dem Hintergrund der die ganze Geschichte Boliviens durchziehenden ethnischen Spaltung geklärt werden. Neu ist, dass die Problematik sich seit der Machtübernahme durch Evo Morales im Januar 2006 genau umgekehrt darstellt als vorher. Seit neustem fühlen sich jetzt weiß-häutige Bolivianer (Kreolen) von einem »indigenen Rassismus« verfolgt. Gegen den drohenden neuen Fundamentalismus helfe nur zu erkennen, »dass wir Bolivianer alle Mestizen sind«. Aber was steckt hinter der Strategie, das Mestizentum so zu betonen?

Für die Positivsten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wie Alcides Arguedas oder Gabriel René Moreno war die ethnische Vermischung für die bolivianische Gesellschaft ein Fluch. Für den bolivianischen Nationalismus dagegen wurde das Mestizentum (das nicht mit der Dekolonisierung in Verbindung gebracht wurde) eine unerlässliche Voraussetzung für die Entstehung einer wahren Nation – insbesonders nach der traumatischen Niederlage im Chaco-Krieg (1932-1935). Bereits in den 90er Jahren übernahmen die bolivianischen Eliten den von den internationalen Finanzorganisationen geförderten multikulturellen Diskurs und verbanden ihn mit den damals in Mode gekommenen neoliberalen Postulaten. In diesem Zusammenhang wurde der Aymara-Führer Victor Hugo Cárdenas zum ersten indigenen Vizepräsidenten gewählt. Während seiner Amtszeit gab Bolivien seiner plurikulturellen und multiethnischen Realität Verfassungsrang.

Dennoch schlugen alle diese Versuche zur Bildung einer »wahren« Nation fehl. Sei es durch die faktische Ausmerzung der Indios im Zuge einer staatlich forcierten Akkulturation oder durch partielle Anerkennung der ethnischen Vielfalt bei gleichzeitiger Beibehaltung der materiellen bzw. symbolischen Strukturen der internen Kolonisation.

Heute erleben wir eine überraschende Rennaissance des »Indio«-Begriffs als Bindeglied einer breiten nationalbewussten Unterschichtsidentität, die aus verschiedenen historischen Lernprozessen heraus entstanden ist – dem Widerstand gegen die Kolonialherrschaft, der national-revolutionären Erfahrung und der noch frischen Erinnerung an den Neoliberalismus. Aus diesem Nationalismus indianischer Prägung kristallisieren sich die Movimiento al Socialismo (MAS, Bewegung zum Sozialismus) und die politische Führungsrolle von Evo Morales heraus. Darauf reagieren die Eliten, indem sie wieder einmal auf das Mestizentum als Herkunftsmythos der bolivianischen Identität zurückgreifen. In den 50er Jahren war das »Mestizentum« Teil eines antielitären, emanzipatorischen und gesellschaftsverändernden Diskurses. Heute dagegen nimmt es – angesichts einer (manchmal eher eingebildeten als tatsächlichen) Verdrängung der mittleren Schichten aus den ihre Lebensgrundlage bildenden öffentlichen Ämtern – eher defensiv-konservative Züge an. Und die einst mit dem Mestizentum verbundene emanzipatorische Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft für alle Bolivianer ist verloren gegangen. Die gebildeten städtischen Mittelschichten, die heute »Wir sind alle Mestizen« proklamieren, scheinen zu vergessen, dass es – wie H. Plaza bereits 1939 sagte – »weiße« und »indianische Mestizen« oder – moderner ausgedrückt – »Kreolen-Mestizen« und Cholos gibt.

Wenn also Evo Morales als Vorkämpfer der indigenen Bewegung bezeichnet werden kann, dann im Sinne dieses neuen Mestizentums, einer Unterschichtkultur, die von Klassenidentitäten (z.B. der Bergarbeiter), Modernisierung, Verstädterung, Akkumulationsformen, sozialer Differenzierung und kultureller Verschmelzung (Beispiele dafür sind die Cumbia oder der Rap) durchzogen wird. Zwar haben viele Indios die Einbindung in die ländlichen Gemein-schaften verloren (mehr als 60 Prozent der Bolivianer leben in Städten), verleugnen aber deshalb nicht unbedingt völlig ihre ländliche Herkunft und Aymara- oder Quechua-Kultur. Die Bolivianer sind zweifellos Mestizen, aber manche sind es mehr als andere.Evo Morales war als Kind mit seiner Familie in die Kokaregion Chapare gezogen und begann dort seine Karriere als Gewerkschafter und Politiker. Die Region ist ein Paradebeispiele für die Verschmelzung der gewerkschaftlichen Organisation der Kleinbauern – eine Reminiszens des revolutionären Nationalismus der 50er Jahre – mit den indigenen Gemeinschaftstraditionen, die die kulturelle Verschmelzung der verschiedenen indigenen Völker überlagert. Obwohl die traditionelle Organisation in Gemeinschaften in den Einwanderungsregionen weniger ausgeprägt ist, da das Land dort in Familienbesitz ist, haben jene unter neuen Vorzeichen in der politischen Praxis überlebt. Das führt dazu, dass die Gewerkschaften über ihre traditionellen Aufgaben hinaus in-zwischen zu einer Art Miniregierung auf kommunaler Ebene geworden sind. Evo Morales begann seine politische Karriere bei den Gewerkschaften der Kokabauern, zunächst als Verantwortlicher für sportliche Aktivitäten. Von dort stieg er zum Vorsitzenden der sechs Gewerkschaftsverbände des Regenwaldgebiets von Cochabamba auf, ein Amt, das er weiterhin innehat. Wenn Morales Indiointeressen vertritt, dann wirkt es manchmal als Mittel zum Zweck – zum Beispiel, wenn er den Kokaanbau international zu legitimieren versucht. Grundsätzlich geht es ihm weniger um die Forderung einer Rückkehr zum Ayllu (der Dorfgemeinschaft der Aymara) als um soziale Anerkennung, politische Partizipation und den Zugang zur Macht für eine aus rassischen Gründen diskriminierte Bevölkerungsmehrheit. Insofern bestehen Parallelen zu Nelson Mandela und seinem Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Die indigene Komponente wird zudem vom gewerkschaftseigenen Pragmatismus – Evo Morales würde ihn »Riecher« nennen – und frappierend antiimperialistischen (oder genauer gesagt antiamerikanischen) Einstellungen beeinflusst. Letztere haben ihren Ursprung in den Auseinandersetzungen der Kleinbauern mit der Polizei und den Streitkräften, die mit Unterstützung der USA die Kokaplantagen zu vernichten versuchen.

Dass er flexibel ist, heißt jedoch nicht, dass Evo Morales nicht die Gleichberechtigung der indigenen Bevölkerung zum Ziel hätte. Ganz im Gegenteil. Besonders am Herzen liegt ihm die Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Bevölkerungsschichten, deren Armut er aus seiner Kindheit in Orinoca kennt, einer Aymara-Gemeinde der Region Oruro nahe am Poopo-See. Dass Evo Morales es geschafft hat, der »erste Indiopräsident« Boliviens zu werden, ist eben gerade darauf zurückzuführen, dass es ihm (im Gegensatz zu Felipe Quispe) gelungen ist, ein über die Aymara-zentrische Perspektive hinausgehendes politisches Projekt für alle Bolivianerinnen und Bolivianer zu formulieren. Die radikalen Forderungen nach Autonomie der indigenen Bevölkerung und Wiederherstellung des Qollasuyo, der Aymara-Region im Inkareich, wurden von Morales im ersten Jahr seiner Regierung in den Hintergrund gestellt. Einige Intellektuelle beschweren sich, dass das »weiße Umfeld« um den Präsidenten ihn von seiner Bauernbasis abriegle und so dazu beitrage, »unter der Indiomaske« den Kolonialismus wieder aufleben zu lassen. In der Tat gehörten dem ersten Kabinett Morales nur zwei Minister an, die mit den indigenen Interessen zu identifizieren sind: Bildungsminister Félix Patzi, der im Januar 2007 nach wiederholten Konflikten mit der Katholischen Kirche und eher links orientierten Lehrern in den Städten den Hut nehmen musste, und Außenminister David Choquehuanca mit seiner von Mystik durchzogenen Politikauffassung. Choquehuanca ist das »Indiogesicht« Boliviens und das Bindeglied zwischen der Regierung und den Aymara-Organisationen im Altiplano. Die Außenpolitik wird dagegen direkt vom Präsidentenpalast aus gelenkt. Einige Ministerien mit strategischer Bedeutung – Energie, Bergbau, Wirtschaftsplanung und Präsidialamt (desses Inhaber faktisch der Ministerpräsident ist) – sind in Händen eines linken Wirtschaftswissenschaftlers, eines ehemaligen Maoistenführers, eines »unpolitischen« Ökonomen und eines nationalistischen ehemaligen Offiziers. Von einer generellen »Indianisierung« der Regierung oder des Staates kann also keine Rede sein, diese erfolgt in jedem Fall »in variabler Geometrie«, also viel flexibler als manche Beobachter – von der Rhetorik indigener Identität positiv oder negativ beeindruckt – annehmen.

Für uns ist die MAS ein neuer Nationalismus von unten, der die Modernisierung durch eine Neuauflage des desarrollismo, der Entwicklungsstrategie der 50er und 60er Jahre vorantreiben will, dessen traditionelle Dialektik von Volk/Oligarchie und Nation/Anti-Nation politisch um eine ethnische Perspektive erweitert wird. »Der indigene Diskurs ist archaisch in seiner Rhetorik aber modernisierend in seiner Praxis«, behauptet Vizepräsidente Álvaro García Linera. Und selbst Felipe Quispe sagte einmal: »Wir sind Indios der Postmoderne. Wir wollen Traktoren und Internet.« So lässt sich erklären, dass die zentralen politischen Maßnahmen von Evo Morales darauf abzielen, die »Moderne« auf dem Land einziehen zu lassen. Dazu gehören Krankenhäuser, Landstraßen, Traktoren, die finanzielle Unterstützung der Familien zur Vermeidung des Schulabbruchs, Alphabetisierung (mit der kubanischen Methode «Yo sí puedo»), die Senkung der Strom- und Telefontarife, Personalausweise und sogar die kostenlose Übertragung der Fußball-WM. All das kann nach Angaben der Regierung durch die Verstaatlichung von Erdöl und Erdgas finanziert werden.

Der bolivianische Präsident scheint also weit von jenem »Ethnofundamentalismus« entfernt, den ihm der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, die Unternehmereliten von Santa Cruz de la Sierra und bolivianische Intellektuelle vorwerfen – wozu sie bisweilen die Theorie bis ins Absurde verzerren, um die MAS-Regierung in das Schema des »Neofaschismus« pressen zu können. Ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher reicht, um in diesen Ansichten die alten Ängste und den Abscheu der Wohlhabenden vor dem »Populismus« und dem Ausufern der Massen wieder zu erkennen.

2. Haben wir es mit einer Alternative zum Neoliberalismus zu tun?

Die postneoliberalen Bestrebungen der Regierung Morales gehen nicht sehr weit: die staatliche Kontrolle über 30 Prozent des BIP, d.h. nach zwei Jahrzehnten Neoliberalismus soll der Staat wieder Einfluss auf die Wirtschaft nehmen. Dieses Vorhaben ist jedoch nicht zu unterschätzen: Bei anderen fortschrittlichen Regierungen in Südamerika wie Argentinien, Brasilien, Chile oder Uruguay steht es nicht einmal auf der Tagesordnung.

García Linera ist der Vordenker der derzeitigen Wirtschaftspolitik. Er nennt sie »Andenkapitalismus« – ein polemischer Begriff, den er als eine auf Produktion und Investitionen gegründete Marktwirtschaft mit klaren Spielregeln verstanden wissen möchte. Gleichzeitig lehnt er von der mit Hugo Chávez sympatisierenden Linken favorisierte Ziele wie den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ab:

Nur der Staat kann die Gesellschaft zusammenhalten, den allgemeinen Willen vertreten, strategische Rahmenbedingungen vorgeben und der ersten Wagen hinter der Lokomotive der Wirtschaft sein. Der zweite Wagon besteht aus den bolivianischen, der dritte aus ausländischen Investitionen, der vierte Wagen sind die Kleinstunternehmen, der fünfte die bäuerliche Landwirtschaft und der sechste die indigene Wirtschaft. Das sind die Prioritäten für die Umstrukturierung der bolivianischen Wirtschaft.

Der zentrale Aspekt der neuen Wirtchafts- ordnung ist die Verstaatlichung von Erdgas und Erdöl, den heute bedeutendsten bolivianischen Rohstoffen. Sie gilt als erster Schritt zur Wiedererlangung der Souveränität des Landes gegen über dem ausländischen Kapital. Es folgten die erneute Verstaatlichung der dem Schweizer Unternehmen Glencore gehörenden Gießerei Vinito und die Ankündigung, der bolivianische Staat würde das Aktienpaket der Telefon-gesellschaft Entel von der italienischen Telecom übernehmen. Im Hinblick auf soziale und Arbeitnehmerrechte arbeitet die Regierung an der Wiederverstaatlichung des Rentensystems und hat die in den 90er Jahren zugelassenen individuellen Arbeitsverträge wieder abgeschafft. Ansonsten gibt es in der Sozialpolitik kaum Neuerungen: Der Einkaufsgutschein Juancito Pinto (25 Dollar jährlich für alle Schüler staatlicher Schulen), der den vorzeitigen Schulabbruch verhindern soll, weist viele Parallelen zu Initiativen der 90er Jahre auf, wie z.B. zum Bonosol für die über 65jährigen.

Auf der konzeptionellen Ebene ist eine Renaissance traditioneller Entwicklungsstrategien feststellbar: Die Erträge aus Erdöl, Erdgas und Mineralerzen sollen »das Land industrialisieren« und Bolivien aus seiner historischen Verdammung zum reinen Rohstoffexporteur befreien. Gleichzeitig ist unterschwellig eine nostalgische Erinnerung an einen Wohlfahrsstaat spürbar, der im Fall Boliviens ohnehin nur ansatzweise existierte. Alles in Allem handelt es sich um einen »desarrollismo mit Haushaltsdisziplin« wie die Tatsachen der Regierung bescheinigen: Es wurden ein bedeutender Haushaltsüberschuss und Devisenreserven in einer Rekordhöhe von zirka vier Milliarden Dollar erreicht – ein Novum in der jüngsten bolivianischen Vergangenheit – und die Regierung kann stolz behaupten: »Jetzt bezahlen die Bolivianer ihre Steuern!«. Das gilt sogar für einige Wirtschaftszweige, die früher ganz von Steuern befreit waren, wie z.B. den Fernverkehr. Gleichzeitig blieben 2006 die Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst moderat. Sie betrugen z.B. bei Ärzten und Lehrern fünf bis sieben Prozent.

Für diese Strategie gibt es zwei einfache Erklärungen. Zum Einen wirkt noch die traumatische Erfahrung des Finanzchaos unter der Unidad Democrática Popular (UDP) nach, das wie anderswo in Lateinamerika in einer Hyperinflation endete. Dazu kommen 15 Jahre ideologischer Offensive des Neoliberalismus, während die Linke politisch totgeschwiegen wurde. Zum Anderen wider-strebt es der kleinbäuerlichen Mentalität von Evo Morales, »Geld auszugeben, ohne es zu haben«. Damit ist in der Finanzpolitik die Kontinuität zu den Jahren der neoliberalen Vorherrschaft am größten. Angesichts von Kritiken an der Rückkehr zu den entwicklungspolitischen Perspektiven der 40er und 50er Jahre argumentiert der Vizepräsident, es gehe ihm um eine pluralistische und nicht die gleichmacherische Modernität von damals. So sollen den ver-schiedenen Wirtschaftsbereichen – moderner Industrie, städtischen Kleinstunternehmern und kleinbäuerlichen Gemeinschaften – jeweils eigene Entwicklungsformen ermöglicht werden. Aufgabe des Staats ist dabei der Transfer von Überschüssen aus dem Primärsektor an die anderen beiden Sektoren. Insofern geht García Linera davon aus, dass der Kapitalismus in Bolivien noch 50 bis 100 Jahren fortbestehen wird. Unter diesem Vorzeichen strebt die Regierung eine neue Agrarreform an, bei der landlosen Kleinbauern Land aus Staats- und Großgrundbesitz zugeteilt werden soll, wenn letzterer seine »wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufgabe« nicht erfüllt. Es ist jedoch fraglich, ob die von aus linksgerichteten NRO stammenden Regierungspolitikern betriebene kollektive Landübergabe, die die Dorfgemeinschaften wiederbeleben soll, durchführbar ist. Den Zielen der Agrarreform widerspricht die Tatsache, dass das kollektive Landeigentum seit Jahren abnimmt und sich eine kleinbäuerliche, vorwiegend auf Familienbesitz beruhende Landwirtschaft etabliert – oft neben einer rechtlich und mit ihren politischen und sonstigen Organisationsstrukturen weiter bestehenden Gemeinschaft. Auch wird wenig dazu gesagt, wie die Agrarreform in West-bolivien durchgeführt werden soll, wo das Landeigentum in Kleinstparzellen bis hin zu einzelnen Ackerfurchen zersplittert ist.

Daraus ergeben sich weitere Fragen, auf die es bisher keine Antwort gibt: Ist Entwicklung ohne Aufhebung der Unterschiede möglich? Ist die familiäre Wirtschaft, deren Varianten zum Teil um ein Vielfaches (selbst)ausbeuteri-scher sind als der formale Kapitalismus, mit einem emanzipatorischen Projekt vereinbar? Bis zu welchem Punkt verschleiert der Name »Anden-Amazonas-Kapitalismus« nur rhetorisch eine Rückkehr zum alten Staatskapitalismus, wie ihn Bolivien nach der Revolution von 1952 erlebt hat?

Bisher sind die Debatte über ein Entwicklungsmodell für Bolivien und die Diskussion über Problematiken wie Umweltschutz und Erhalt ländlicher Lebensformen oder Impulse zur Produktivitätssteigerungen noch wenig differenziert und enden oft in Gemeinplätzen wie »die Indios verteidigen eben die Pachamama« oder »Bolivien ist ein reiches Land, es hat schließlich Rohstoffe«. Der Bauernführer und Vorsitzender der MAS-Fraktion in der Verfassungsgebenden Versammlung, Román Loayza, fasst es deutlich wenn auch nicht weniger naiv zusammen: »Mit dem Gas können wir es den Industrieländern nachmachen.«

3. Ist die Regierung von Evo Morales eine Regierung der sozialen Bewegungen?

Mit der Krise der Altparteien und dem Machtschwund der früher politisch zentralen Gewerkschaften (der sich besonders in der Schwächung der Dachgewerkschaft Central Obrera Boliviana zeigt) richtet sich die Aufmerksamkeit vermehrt auf die »sozialen Bewegungen«. Die Doppelrolle von Evo Morales als Präsident der Republik und Vorsitzender der Gewerkschaften der Kokabauern im Regenwaldgebiet von Cochabamba trägt ebenso dazu bei. So pauschalierend verwirrt die Bezeichnung aber eher und trägt kaum dazu bei, das Spannungsverhältnis zwischen Brüchen und Kontinuität in der Politik Boliviens zu erklären. Was meinen wir mit sozialen Bewegungen in Bolivien? Der Begriff steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Protestwellen, die zum Sturz der Regierungen von Gonzalo Sánchez de Lozada und Carlos Mesa geführt haben. Bei beiden sammelten sich Gewerkschaften, Indio- und Nachbarschaftsorganisationen hinter Zielen, die die Ablehnung der neoliberalen Politik als gemeinsamen Nenner hatten. Dazu gehörten die Preiserhöhungen der Versorgungsbetriebe (insbesonders der Wasserversorgung) und ein zunehmender Übergang der Privatwirtschaft in ausländische Hand (transnationale Kontrolle von Erdöl und Ergas). Höhepunkte der Protestaktionen waren der »Wasserkrieg« in Cochabamba 2000, die Aymara-Blockaden vor La Paz 2000 und 2001 und die »Gaskriege« von 2003 und 2005. Sie können als eine hegemoniale Expansion durch die Schaffung kollektiver Handlungsmuster gesehen werden, die die Konsolidierung von über Einzelinteressen hinausgehenden Abstimmungsinstanzen ermöglichten.

Die Phasen, in denen Interessenverbände zu soziale Bewegungen werden und dazu beitragen, die Grenzen des Institutionensystems auszuweiten, sind jedoch Ausnahmezustände. Ist die Mobilisierungsphase vorbei, ist normalerweise ein Rückzug auf die spezifischen korporativen Interessen und den Alltag als Kleinbauerngewerkschaften, Indiogemeinschaften oder Nachbarschaftsinitiativen zu beob-achten. Daraus ergibt sich eine der bedeutendsten Einschränkungen für eine Definition als »Regierung sozialer Bewegungen«, die Spannung zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialen Bewegungen auf Grund ihrer inneren Dynamik. Was geschieht in der Demobilisierungsphase? Haben wir es mit einer Regierung der sozialen Bewegungen zu tun? Oder handelt es sich um ein Bündnis von Interessenverbänden, die sich die Befriedigung ihrer Einzelinteressen durch den Staat erhoffen? Ist ein emanzipatorisches Projekt trotz aller »Differenzen« vorstellbar? Welchen Spielraum gibt es zur Herausbildung eines über die Einzelinteressen hinausgehenden kollektiven Willens?

Nach mehr als einem Jahr MAS-Regierung bestehen diesbezüglich mehr Zweifel als Gewissheiten. Evo Morales füllt die Lücken – soweit möglich – mit seiner charismatischen und proaktiven Führungspersönlichkeit. Das Verhältnis zwischen Staat und sozialen Organisationen bleibt aber derweil schwerfälling und ist nicht frei von Spannungen und Ambivalenzen. So prägten Eigeninteressen die Verhandlungen über die Kandidaten der MAS – eine Bewegung, die selbst zunächst ein Zusammenschluss von Gewerk-schaften und als Partei oft unberechenbar ist, und so von Evo Morales eher als Problem denn als Lösung empfunden wird. Auch stellten sich die »Vertreter der sozialen Organisationen« als Minister als recht konfliktiv heraus. Entweder erfolgte ihre Ernennung als Person und ihre Repräsentativität wurde angezweifelt wie bei Abel Mamani, dem ehemaligen Vorsitzenden der Nachbarschaftsinitiativen von El Alto und Minister für Wasserwirtschaft. Oder sie verloren die Gesamtperspektive und verteidigten einzelne Gruppeninteressen wie Bergbauminister Walter Villaroel, ein Vertreter der Bergbaukooperativen. Oder es kam zu ernsten organisatorischen Problemen wie bei Casimira Rodríguez, der Justizministerin und ehemaligen Gewerkschaftsführerin der Hausangestellten. Ein weiterer Widerspruch ist, dass ein Großteil der Streiks (z.B. der Ärzte und Grundschullehrer) als illegal erklärt wurde. Der Präsident sagte sogar einmal, er erlaube »keinen Protestkarnaval«. Ebenso betrieb Evo Morales bei der Kandidatenaufstellung für die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung eine Konzentration auf die MAS – kurz nachdem er die »Sitten und Gebräuche« der »Indios und Bauern« verteidigt hatte. Damit blieb das Monopol der politischen Parteien ebenso erhalten wie das System aus Direktmandaten und Mehrheitswahl.

Die »Koalitionsregierung« mit den sozialen Organisationen beschränkt sich damit inzwischen auf einige stellvertretende Minister, z.B. für Kokaanbau, Kleinstunternehmen und Soziale Verteidigung (Bekämpfung des Drogenhandels). Die Wirtschaftspolitik wurde »abgeschottet«, d.h. den sozialen Organisationen jegliche Teilhabe verwehrt. Gleichzeitig blieben nahezu 80 Prozent der Staatsdiener im Amt. Der Skandal um den Handel mit den von Parlamentariern, sozialen und Gewerkschaftsführern ausgesprochenen »Empfehlungen« für Stellen im öffentlichen Dienst zeigt, dass die – wenn auch im Zuge des Elitenwechsels jetzt »demokratisierten« – klientelistischen Praktiken weitergehen. Die Regierung versuchte der Krise zu begegnen, indem sie die »Empfehlungen« für ungültig erklärte. Gleichzeitig versäumte sie es aber, ein anderes Personal-auswahlverfahren für den öffentlichen Dienst vorzuschlagen. So verhindert die organisatorische und politische Laxheit der MAS das Entstehen von gegenseitigem Vertrauen und Fachkompetenz. Das Hauptargument für die geringe indigene Präsenz in der Regierung ist, dass es »keine Genossen gibt, die für diese Aufgaben vorbereitet sind«.Seit kurzem fördert der von den regierungsnahen Bauernorganisationen unterzeichnete Pacto de Unidad (»Einheitspakt«) die Schaffung einer »vierten gesellschaftlichen Gewalt«, einer potentiell innovativen Instanz, die nicht nur die Regierung kontrollieren, sondern auch an den Regierungsgeschäften beteiligt werden könnte. Diese Vorschläge für eine umfassendere Demokratisierung sind allerdings bisher noch nicht konkret ausformuliert worden. Damit können sie auch nicht institutionell umgesetzt werden, um repräsentative Demokratie mit Formen partizipativer und direkter Demokratie zu verbinden. Dabei sind letztere in den Traditionen des bolivianischen Volkes stark verwurzelt und haben mit den Protestaktionen ab 2000 eine Wiedergeburt erlebt.

4. Ist Evo Morales Hugo Chávez hörig?

Vor den Präsidentschaftswahlen bezeichnete Evo Morales Fidel Castro und Hugo Chávez als »Kommandanten der Befreiungsarmeen des Kontinents«. Seit seinem Amtsantritt hat er feste Beziehungen zu Kuba und Venezuela geknüpft und sympatisiert unverhohlen mit dem »Antiimperialismus« seines venezolanischen Kollegen. Auch stieg die venezolanische Wirtschaftshilfe im Rahmen der Alternativa Bolivariana para las Américas (ALBA, Bolivarianischen Alternative für Amerika) und finanzierte u.a. die Honorare der Anwaltskanzlei, die Bolivien bei der Ausarbeitung der neuen Ölverträge beriet. Und Evo Morales benutzt tagtäglich zwei von Chávez zur Verfügung gestellte und von venezolanischen Piloten geflogene Hubschrauber vom Typ Super Puma. Mehrere seiner Transatlantikflüge machte er mit von Caracas zur Verfügung gestellten Jets, da die Reichweite des bolivianischen Staatsfliegers nicht ausreicht. Und schließlich konnten die bolivianischen Kleinbauern dank der venezolanischen staatlichen Ölfirma PdVSA die letzte Fußball-Weltmeisterschaft im Fernsehen sehen. Die Venezolaner hatten dem bolivianischen Privatsender Unitel die Übertragungsrechte abgekauft und dem staatlichen Sender überlassen. Die vom ehemaligen Präsidenten »Tuto« Quiroga angeführte Rechte denunziert ohne Unterlass die angebliche Hörigkeit Boliviens gegenüber Venezuela. Auch die Eliten von Santa Cruz betrachten Chávez als populistischen Offizier, den Morales zum Vorbild nehme, um eine Diktatur zu errichten und sich unbegrenzt an der Macht zu halten. Der venezolanische Präsidente reagierte auf diese Anschuldigungen vor kurzem bei einem Festakt in Trinidad in Ostbolivien, wo er finanzielle Hilfeleistungen an Überschwemmungsopfer verteilte, und beschuldigte die Rechte, »zur gleichen Oligarchie zu gehören, die gegen Sucre und Bolivar konspirierte«. Es ist kein Zufall, dass jeder Ausrutscher von Chávez von den Medien groß aufgebauscht wird. So z.B. als er auf der Suche nach Evo Morales vor laufenden Kamaras fragte: »Wo ist denn der Indio?« Angesichts der erstaunten Gesichter fügte er dann schnell hinzu: »Der Indioboss! Evo ist mein Boss.« Der Botschafter Venezuelas in La Paz, Julio Montes, stellte seinerseits »venezolanisches Blut und Leben« zur Verteidigung der »bolivianischen Revolution« zur Verfügung. Entscheidend ist aber, dass Evo Morales dieses Bündnis als einen politischen, aber vor allem wirtschaftlichen Schutzpanzer betrachtet, falls wie in den 80er Jahren versucht werden sollte, das Finanzsystem zu destabilisieren.

Trotz alledem kann von einem bedingungslosen Anschluss an Caracas keine Rede sein. Der Begriff »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, Exportschlager der Boliviarianischen Revolution, überzeugt Morales nicht. Zumindest hat er ihn bisher nicht in seinen Wortschatz übernommen. Ein weiteres Zeichen von Unabhängigkeit war das Beharren Boliviens auf dem Fortbestehen Comunidad Andina de Naciones (CAN, Andengemeinschaft) als Venezuela im April 2006 aus Protest gegen die Unterzeichnung der Freihandelsabkommen zwischen Peru bzw. Kolumbien und den USA aus ihr austrat. Zirka. 40 Prozent der nicht traditionellen bolivianischen Exporte gehen in die CAN-Länder, womit es sich nicht leisten kann, aus der Gemeinschaft auszutreten. Vor nicht allzu langer Zeit relativierte der bolivianische Präsident die Chancen der von Venezuela initiierten Gas-OPEC – und Bolivien ist nach Venezuela das südamerikanische Land mit den größten Gasreserven: »Ich habe höchsten Respekt vor dem Vorschlag von Präsident Chávez, die erdgasproduzierenden Länder in einem Verband wie der OPEC zu organisieren. Wir haben alle das Recht, uns zu spezifischen Themen zusammen zu schließen. Aber diese Art von Organisation darf nicht dazu dienen, Ländern, die kein Erdgas oder sonst irgendein Produkt haben, eine bestimmte Politik aufzuzwingen«, argumentierte Evo Morales bei einem Staatsbesuch in Tokio. Dort sprach sich der bolivianische Präsident auch für den Abbau von Atomwaffen aus, um für seine von lateinamerikanischen Indioorganisationen vorgeschlagene Nominierung für den Friedensnobelpreis Punkte zu sammeln. Chávez dagegen ist mit dem Iran verbündet, der den Besitz von Atomwaffen als souveränes Recht verteidigt. Und im Rahmen seiner Lateinamerikapolitik entsandte Bolivien 288 Soldaten für die UNO-Mission nach Haiti, während Chávez diese Mission grundsätzlich ablehnte.

Im bolivianischen Kabinett kontrastiert García Linera am deutlichsten mit Chávez. Er spricht sich dafür aus, die Verbindungen mit Argentinien zu intensivieren, um so ein Gegengewicht zu Venezuela zu bilden. Als George W. Bush Brasilien besuchte während Chávez in Buenos Aires dagegen protestierte und den US-Präsidenten als »politische Leiche« bezeichnete, erklärte García Linera nicht zufällig ohne jede Ironie: »Ich halte es für ein gutes Zeichen, dass Präsident Bush sich mehr um den Süden kümmert und dem Kontinent näher kommt.«

5. Worin besteht die Verstaatlichung von Öl und Gas?

Am 1. Mai 2006 überraschte Evo Morales die Bolivianer mit der militärischen Besetzung aller Erdgas- und Ölfelder des Landes. Das Manöver war bis ins kleinste Detail geplant, insbesonders die Öffentlichkeitsarbeit. Das Ziel war es, die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, dass die Regierung – obwohl die ausländischen Firmen nicht des Landes verwiesen wurden – Erdgas und Erdöl tatsächlich verstaatlichte und damit ihr größtes Wahlversprechen erfüllte. Die mit einem Megaphon erfolgte öffentliche Verlesung des Dekrets »Helden des Chaco« (in Bezug auf den Krieg zwischen Bolivien und Paraguay, 1932-1935) zeigte Früchte: Die Beliebtheit von Evo Morales stieg im Mai auf 81 Prozent. Gleichzeitig kühlte die militärische Inszenierung auf dem von Petrobras ausgebeuteten Ölfeld San Alberto das Verhältnis zum brasilianischen Präsidenten Lula da Silva ab und rief wütende Proteste der Rechten in Brasilien hervor, die sich über die Schwäche ihrer Regierung gegenüber der »bolivianischen Invasion« aufregte.

Als Quintessenz des Dekrets 28.701 erhält der bolivianische Staat – unter der Erde wie über der Erde – »das Eigentum, die Verfügungsgewalt, die umfassende und vollständige Kontrolle« über Gas und Öl zurück. Und durch ein neues Besteuerungssystem erhält er einen höheren Gewinnanteil, der bei den großen Ölfeldern bei bis zu 82 Prozent des Produktionswertes liegt. Damit das neue System in Kraft treten konnte, mussten die zehn in Bolivien ansässigen transnationalen Konzern am 28. Oktober 2006 neue Verträge mit der Regierung unterzeichnen. Dennoch ist die staatliche Souveränität über das von Petrobras, Repsol-YPF und Total kontrollierte Erdgasgeschäft nicht so leicht zurück zu gewinnen. Die Maßnahme wurde einer Reihe von Schlampereien überschattet, die Zweifel am Inhalt des vor einem Jahr von der Regierung in einem höchstpatriotischen Akt unterzeichneten Dokuments hervorriefen. Dazu kommt die fehlende Kontinuität der Funktionäre im Energiebereich: ein Minister und jeweils drei Vorstandsvorsitzende der staatlichen Erdölgesellschaft Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) und der Energiekontrollbehörde traten zurück oder wurden des Amts enthoben. Der Rücktritt von Energieminister Andrés Soliz Rada im September 2006 machte die unterschiedlichen Strategien in der Energiepolitik deutlich und ebnete den Weg für eine gemäßigt nationalistische Linie. Soliz Rada, ein ehemaliger Parlamentarier und Ideologe der Partei Conciencia de Patria, begründete seinen Rücktritt mit regierungsinternen Konflikten über die Umsetzung des Verstaatlichungsdekrets. Sowohl die Erdölgesellschaften als auch die sozialen Bewegungen interpretierten – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven – den Rücktritt von Soliz Rada und die Ernennung des bis dahin als Planungsminister amtierenden Volkswirts Carlos Villegas als eine »Aufweichung« der Ölpolitik. Die Einen sahen darin ein Zeichen von größerer Flexibilität, die Anderen eine Schwächung der Nationalisierungspolitik der Regierung.

Die »pragmatische« Wende vollzog sich mit der Unterzeichnung der neuen Verträge, in denen eine Kompromissformel zwischen Dienstleistungsvertrag und gemeinsamer Produktion gefunden und der Steuersatz gesenkt wurde. Auch steht die Wiedererlangung der staatlichen Kontrolle über die Aktienpakete der kapitalisierten Ölgesellschaften (Chaco, Andina, Transredes) noch aus, von denen ausländische Firmen mehr als die Hälfte halten. Da der Staat es ablehnt, sich die Aktienmehrheit durch Enteignung zu sichern, konnte er nur die Aktien »der Bolivianer« in Händen der privaten Rentenversicherungsfonds (AFP) zurückgewinnen. Die Unternehmen leisteten erbitterten Widerstand gegen den Verkauf ihrer Aktienpakete, der aber die Voraussetzung für eine staatliche Mehrheit im Vorstand der Unternehmen ist. Es geht also darum, ob die neugegründete YPFB auf dem Markt nur eine untergeordnete Rolle spielen oder nach und nach die Kontrolle über die gesamte Wert-schöpfungskette von der Exploration bis zum Vertrieb übernehmen soll.

6. Welche (vorläufige) Bilanz zeigt die Verfassungsgebende Versammlung?

Die Verfassungsgebende Versammlung geht auf eine Initiative der indigenen Bevölkerung des ostbolivianischen Tieflandes von 1990 zurück. Sie gewann zunehmend an Unterstützung und ver-einte sich nach dem »Wasserkrieg« 2000 und dem »Gaskrieg« 2003 mit dem Ruf nach Verstaatlichung von Erdöl und Erdgas in einer landesweiten Forderung. Bei dieser ursprünglich »zur Neugründung des Landes« konzipierten Instanz unter Vorsitz der Kokabauernführerin Silvia Lazarte zeichnen sich Ermüdungserscheinungen ab, die schnell zum Legitimitätsverlust der neuen Verfassung führen könnten.

In acht Monaten erbitterter Auseinandersetzungen zwischen der Regierungspartei – die ca. 60 Prozent der Sitze innehat – und der Opposition ist es der Versammlung bisher nur gelungen, Verfahrensfragen zu klären. Bei den Differenzen ging es um den Stellenwert der Versammlung (ob sie einen »Neuanfang« darstellt oder sich ihre Macht aus den existierenden Gewalten ableitet) und das Verfahren zur Annahme der neuen Verfassung (absolute oder Zweidrittelmehrheit). Der Vorrang von legalen über inhaltliche Aspekte ließ die Bevölkerung das Interesse verlieren. Raúl Prada, ein über die MAS-Liste gewählter Unabhängiger, warnte vor den politischen Konsequenzen eines möglichen Scheiterns. Gleichzeitig wurde die politische Autorität der Abgeordneten der Regierungspartei durch ständige Einmischungen von Beratern des Präsidenten geschwächt, die auch in den Verhandlungen mit der Rechten für Verwirrung sorgten.

Schließlich einigten sich Regierung und Oppositon über das Abstimmungsverfahren und den Stellenwert der Verfassungsgebenden Versammlung.Dadurch kam es zwar zu einer politischen Debatte über ein »Projekt für Bolivien«, aber gleichzeitig drohte die Abhandlung der neuen Verfassung im »Schnellverfahren« und »von oben«, um das für deren Verabschiedung vereinbarte Datum, den 6. August 2007, einzuhalten – falls es nicht doch noch zu einer Verschiebung kommt. Bis jetzt fehlt jede begleitende öffentliche Debatte, die »einen neuen Gesellschaftsvertrag in Szene setzen« würde – um mit García Linera zu sprechen. Und damit besteht die Gefahr, dass die Verfassungsgebende Versammlung von großen Reden beherrscht wird, statt gesellschaftliche Kreativität und Empowerment von Bürgern und Bürgerinnen zu fördern. Bei vielen Organisationen werden Kommentare laut wie »Wozu brauchen wir denn eine Verfassungsgebende Versammlung, wenn wir schon an der Regierung sind?« Evo Morales’ Antwort darauf lautet, er fühle sich in den neoliberalen Gesetze gefangen.

Ansonsten wird die Verfassungsgebende Versammlung mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, den bereits eingeleiteten Veränderungen wie der Verstaatlichung von Öl, Erdgas und sonstigen Rohstoffen Verfassungsrang zu verleihen. Auf der politischen Ebene setzt sich die MAS für einen »plurinationalen Staat« ein, der nicht nur territoriale sondern auch ethnische Autonomien mit ihren jeweils eigenen politischen und rechtlichen Ordnungen anerkennen soll. Dazu gehört z.B. die Justiz der Indiogemeinschaften. Ihren Verteidigern zufolge dient diese der Versöhnung streitender Parteien und fördert die Wiedergutmachung, legitimiert aber nicht die in Bolivien häufigen Lynchaktionen. Die Einführung eines pluralistischen Rechtssystems erweist sich jedoch als nicht einfach. Die traditionelle Gemeinschaftsjustiz wird von ihren Gegnern in Frage gestellt, weil sie keine dem Verteidiger entsprechende Figur vorsieht und im Privatleben angesiedeltes Verhalten, wie z.B. Ehebruch, als Verbrechen ahndet. Zur Multikulturalität gehört auch die Religion. Sollte es der Regierungspartei gelingen sich durchzusetzen, dann verliert die Katholische Kirche ihre Privilegien. In einem den Abgeordneten von der Exekutive vorgelegten Entwurf heißt es: »Der plurinationale Staat ist weder religiös, noch gehört er einer Glaubensgemeinschaft an oder fördert irgendeine Religion. Keine einheimische oder ausländische Kirche oder religiöse Institution wird als Amtskirche anerkannt«. Daraufhin behauptete der Abgeordnete der konservativen Partei Podemos in der Verfassungsgebenden Versammlung, José Antonio Aruquipa, »die MAS will einen atheistischen und totalitären fundamentalistischen Quechua-/Aymara-Staat«. Vor kurzem kündigte Evo Morales für 2008 vorgezogene Wahlen auf der Grundlage der neuen Verfassung an. Dadurch konzentrierte sich die Verfassungsdebatte vorzeitig auf mit dem Wahlsystem zusammenhängenden Fragen, u.a. eine mögliche Wiederwahl des Präsidenten (die bisher untersagt ist). Wenn es Morales gelingt, die folgenden beiden Wahlen zu gewinnen, könnte er so bis 2018 im Rahmen eines »starken Präsidentialismus mit sozialer Kontrolle« im Amt bleiben. Die Verfassungsgebende Versammlung muss sich in den nächsten Monaten der Herausforderung stellen, die Macht der sozialen Organisationen in konkrete Vorschläge umzusetzen und so ein grobes Konzept für ein neues Demokratiemodell zu entwickeln.

7. Sind die Autonomiebestrebungen von Santa Cruz separatistisch?

Der Regionalismus von Santa Cruz hat eindeutig historische Ursachen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die Region vom restlichen Bolivien isoliert. Ein LKW benötigte sechs Tage, um die 500 km zwischen Santa Cruz und Cochabamba zurückzulegen. Erst in den 40er Jahren erhielt die Wirtschaft von Santa Cruz mit dem sog. Plan Bohan einen Entwicklungsschub. In den 50er Jahren entzündeten sich erste Autonomiebestrebungen an den erbitterten Kämpfen für eine elfprozentige Beteiligung des Departments an den Einnahmen aus den Ölexporten. Diese Kämpfe fielen mit konspirativen Aktionen der Falange Socialista Boliviana (FSB, Sozialistischen Falange Boliviens) gegen die Regierung der Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR, Nationalrevolutionären Bewegung) zusammen, die sich zwar die Ziele der Nationalen Revolution von 1952 auf die Fahnen geschrieben hatte, die Entwicklungsprojekte des Plan Bohan aber weiterführte. Politisch gesehen war das Comité Cívico Pro Santa Cruz (Bürgerkommitee für Santa Cruz), das als »moralische Regierung« der Region und Vorreiter der gegenwärtigen Autonomieoffensive gilt, von Anfang an eine Bastion der Falange. In den 60er Jahren wurde das Kommittee zum Auffangbecken der Parteigänger von General Hugo Banzer, der 1971 gegen die volksnationalistische Regierung von General Juan José Torres geputscht hatte und dann bis 1978 als Diktator regierte. In La Paz glauben nicht wenige, dass Santa Cruz die Geschichte mit Evo Morales neu auflegen will.

Wie auch immer – faktisch ist Santa Cruz heute das reichste Department Boliviens. Nach Angaben der Industrie- und Handelskammer (Cainco) erwirtschaftet Santa Cruz 30 Prozent des BIP und 62 Prozent der Devisen, produziert 50 Prozent der Exporte und erhält 47,6 Prozent der ausländischen Investitionen Boliviens. Die aktuellen Autonomieforderungen von Santa Cruz – gefolgt von den Departments Tarija, Beni und Pando, die den sog »Halbmond« bilden – begannen kurz vor der Regierungsübernahme durch die MAS. Die Krise von 2003 setzte nicht nur der neoliberalen Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada eine Ende, sie pulverisierte auch die Parteien und sonstigen Einrichtungen, die Santa Cruz die Einflussnahme auf die Nationalregierung gesichert hatten (einschließlich strategisch so wichtiger Behörden wie das mit der Agrarreform betraute Instituto Nacional de Reforma Agraria). Als Carlos Mesa inmitten der politischen und sozialen Krise und ohne eigene Partei die Präsidentschaft übernahm, verweigerte er den Eliten von Santa Cruz nicht nur ihre traditionelle Beteiligung am Kabinett, er sagte ihnen zudem »Provinzlermentalität« nach.

Inmitten dieser angespannten Atmosphäre nutzte die Spitze des Bürgerkommittees eine Benzinpreiserhöhung im Januar 2005, um die regionalpatriotrische und gegen La Paz gerichtete Stimmung anzufachen. Im Zuge einer aggressiven, von den regionalen Medien unterstützten Wahlkampagne erarbeitete sie ein von Autonomieforderungen beherrschtes Programm. Die »Januar-Agenda« setzte sich explizit mit der nationalistischen, die indigenen Interessen betonenden »Oktober-Agenda« der sozialen Bewegungen Westboliviens ab. Das Verlangen nach Autonomie wurde in einer am 2. Juli 2006 auf Grund eines Bürgerbegehrens durchgeführten Volksbefragung in den vier Departmenten des »Halbmondes« mit über 70 Prozent Ja-Stimmen bestätigt (auf nationaler Ebene allerdings mehrheitlich abgelehnt). Die Forderung nach Autonomie wurde auch auf mehreren Versammlungen unterstützt, bei denen sich im Dezember 2006 bis zu einer halben Million Menschen zusammenfanden.

In einer Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens hat man in Westbolivien den Verdacht, dass es bei den Autonomiebestrebungen letztendlich nur darum geht, den Grundbesitz und die Rohstoffe – vor allem Öl und Gas – zu kontrollieren. Währenddessen fürchtet man in Ostbolivien, dass der »indigene Populismus« versuchen könnte, den Cruceños ihr Land wegzunehmen und ihnen eine »chavistische Diktatur« aufzuzwingen. Vor diesem Hintergrund kam es zu gewaltsamen, rassistisch geprägten Auseinandersetzungen. Gleichzeitig entstand eine »offizielle Identität von Santa Cruz«, die auf dem Gegensatzpaar rückständige und gewalttätige Colla-Indios produktive und unternehmerische Cambas beruhte. García Linera hat einmal geschrieben, in den letzten Jahrzehnten habe »der wirtschaftliche Aufschwung sich trotz aller Einschränkungen von Westen nach Osten verlagert, die Fähigkeit zur politischen und gesellschaftlichen Mobilisierung dagegen im Westen zugenommen und so neue territoriale Ungleichgewichte in Bolivien hervorgerufen.« Seine Schlussfolgerungen lauten: »Während die Wirtschaftskrise im Westen mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht wurde, wurden die Probleme im Osten – wo die Unternehmer weiterhin politisch und kulturell dominieren – dem Zentralismus und nicht dem Wirtschaftsmodell zugeschrieben.«

Weniger akademisch aber dafür umso brutaler stellte die Miss Bolivia 2003, Gabriela Oviedo, die Unterschiede heraus: »In Bolivien sind nicht alle Indios; wir hier in Santa Cruz sind groß, weiß und können Englisch«.Dennoch wurde die Schwäche dieser regionalen Identität bei den Präsident-schaftswahlen offensichtlich. Die MAS appellierte in Santa Cruz an jene, die sich mit diesem stigmatisierenden Diskurs nicht identifizierten, vor allem in ländlichen Gegenden, u.a. die indigene Bevölkerung und zugewanderte Collas. So gelang es der Partei von Evo Morales, mehr als ein Drittel der Stimmen in der Region auf sich zu ziehen. Dennoch ist zweifellos das politische, ethnische und soziale Kräfteverhältnis in West- und Ostbolivien unterschiedlich, was die Regierung vor die Herausforderung stellt, eine wirkliche Vorherrschaft auf nationaler Ebene erst noch erreichen zu müssen. Mit diesem Ziel mäßigte der Präsident in letzter Zeit seinen Diskurs und akzeptierte die Autonomie der Regionen, nachdem er bei der Volksbefragung die Wähler noch dazu aufgerufen hatte, gegen sie zu stimmen.

Es ist also offensichtlich so, dass die Eliten von Santa Cruz trotz aller Alarmglocken in den Nachrichten nicht die Absicht haben, sich von Bolivien abzuspalten, das weiterhin ihr Hauptabsatzmarkt bleibt. Sie versuchen, eine politische und wirtschaftliche Umgestaltung aufzuhalten, von der sie negative Auswirkungen für ihre Interessen befürchten. So häufen sich die Beteuerungen des Bürgerkommitees, es handle sich nicht um eine Unabhängigkeitsbewegung. »1904, als wir die Eisenbahn forderten, fragte ein Abgeordneter für La Paz im Parlament: Wozu will Santa Cruz eine Eisenbahn? Etwa um sich abzuspalten wie Panama von Kolumbien? Ist es nicht pervers?«, sagt der Historiker Alcides Parejas. Der Verfasser des Autonomievorschlags der Bürgerinitiative, Juan Carlos Urenda, argumentiert dagegen, dass die Debatte auf »Vorurteilen der Straße« beruhe. Es bleibt also nur noch die winzige Gruppe Nación Camba de Liberación übrig, die als einzige offen für die Unabhängigkeit von Santa Cruz in Form eines »freien, assoziierten Staates« eintritt und die These vertritt, die Cambas seien »eine Nation ohne Staat«.

Das Bürgerkommittee dagegen argumentiert, keines der Länder mit Autonomiestatuten wie Spanien oder Kolumbien wäre auseinandergefallen, und fordert eine Umverteilung der Steuern, bei der zwei Drittel den Departments und Kommunen, ein Drittel der Zentralregierung zukommen soll. Urenda argumentiert, »die Rohstoffe gehören nicht zu den regionalen Kompetenzen«. Im Abschnitt zur konfliktreichen und für das Überleben der Eliten von Santa Cruz zentrale Frage des Landbesitzes legt das Projekt für ein Autonomie-statut dagegen fest, dass die von der zu schaffenden Landreformagentur auf Departmentebene ausgestellten Besitzurkunden »endgültig« und vom National-staat nicht mehr revidierbar sein sollen. Eine Art »Schutzpanzer« gegen die Agrarreform.

Vorläufige Schlussfolgerungen

Bolivien erlebt einen Moment bedeutender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen, die eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft und die Schaffung einer postkolonialen und postneoliberalen Vorstellungswelt mit sich bringen. Unabhängig von konjunkturellen Höhen und Tiefen steht fest, dass Bolivien nie mehr so sein wird wie früher. Evo Morales auf dem Präsidentensessel impliziert eine symbolische Revolution, die die frühere unterwürfige Rolle der Indiomehrheit auf den Kopf stellt. Fortschritte bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzung zu erzielen, die für eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Millionen von verarmten Bolivianern unablässig ist, ist weitaus komplizierter. Jedenfalls unternimmt Evo Morales nicht den ersten Versuch einer nationalbewussten und volksnahen Regierung mit Unterstützung der Massen. Die ganze bolivianische Geschichte seit den 40er Jahren kann als eine Abfolge von »liberalen« und »nationalistischen« Phasen gelesen werden, die trotz unleugbarer Fortschritte bei ihrem Versuch gescheitert sind, den Staat auf neue Grundlagen zu stellen und eine alle Menschen einbeziehende Nation ins Leben zu rufen. Diese Vorstöße in Richtung auf eine grundlegende Veränderung wurden durch die Konkurrenz der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen um die Gewinne aus der Ausbeutung der Rohstoffe – früher aus dem Bergbau und heute aus dem neuen »El Dorado« des Erdgases – immer wieder untergraben. Sie missglückten auch wegen der paternalistischen Staatsauffassung und weil es nicht gelang, Institutionen zu schaffen, die die emanzipatorischen Ziele zum Wohl der Bevölkerungsmehrheit politisch umsetzten. Heute bedrohen ähnliche Gefahren den indigenen Nationalismus an der Macht. Gefahren, die darauf hinweisen, dass der Weg der sozialen Veränderung von vielen Steinen gepflastert ist. Diese werden ihr von denen in den Weg gelegt, die an der Bewahrung der bestehenden Ordnung interessiert sind. Sie resultieren aber auch aus den begrenzten politischen und fachlichen Kompetenzen sowie konservativen Tendenzen derjenigen, die dazu erzogen wurden zu gehorchen – und sich heute in der neuen Rolle wiederfinden, einen ihnen bis dato immer fremden Staat lenken zu müssen. Es ist also in jedem Fall eine Geschichte mit offenem Ende.

Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2007, ISSN: 0251-3552


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