Artículo
NUSO Nº Januar 2012

Wirtschaft, Politik und die Mittelschicht in Lateinamerika

Trotz großer Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern nimmt die Mittelschicht in Lateinamerika zu. Dies ist ein Ergebnis der positiven Wirtschaftsentwicklung und der Politik der Einkommensumverteilung. Dabei sind neue Phänomene aufgetreten, u. a. ein Wachstum der unteren Mittelschicht. Dieser Artikel untersucht das politische Verhalten der Mittelschicht, ihre Erwartungen und ihre Ablehnung bestimmter Regierungsstile. Anschließend wird geschlussfolgert, dass trotz der Schwierigkeit, die Mittelschicht politisch zu repräsentieren, die politische Kommunikation zwischen ihr und der Bevölkerungsmehrheit mithilfe von Programmen, die Wirtschaftswachstum und soziale Kohäsion verbinden, gefördert werden sollte.

Wirtschaft, Politik und die Mittelschicht in Lateinamerika

Das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik scheint offensichtlich, da Wahlentscheidungen und politische Meinungen der Bürger durch ihre soziale Position und ihre wirtschaftlichen Interessen bestimmt werden. Es ist jedoch nicht leicht, die Plausibilität dieser Annahme auf die wirtschaftliche Dynamik und die Realität wirtschaftlicher Prozesse zu übertragen. So unterscheidet man zwischen einer wirtschaftlich motivierten, retrospektiven Wahl, bei der die Wähler ihre Stimme von der wirtschaftlichen Entwicklung während der Regierungsperiode unmittelbar vor der Wahl abhängig machen, und einer prospektiven Wahl, bei der die Einschätzung der künftigen, wirtschaftlichen Entwicklung je nach möglicher Regierung die ausschlaggebende Rolle bei der Stimmabgabe spielt.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Bürger die wirtschaftliche Entwicklung nicht immer anhand ihrer persönlichen Situation beurteilen (egotropisches Wählerverhalten). Häufig legen sie mehr Wert auf die globale wirtschaftliche und soziale Lage (soziotropisches Wählerverhalten) und unterstützen die Regierung, die diese verbessert hat, auch wenn sie die individuellen Probleme des Wählers nicht lösen konnte.

Eine Prognose oder zumindest Erläuterung des politischen Verhaltens der Mittelschicht ist noch komplizierter. Der Grund liegt auf der Hand: Unter dem Obergriff »Mittelschicht« werden so unterschiedliche soziale Identitäten wie Arbeitnehmer, Selbstständige und Kleinunternehmer zusammengefasst. In den meisten Fällen gehören sie lediglich der gleichen Einkommensklasse an1.

Die Mittelschicht in Lateinamerika erlebt derzeit aus verschiedenen Gründen eine neue Realität. Zunächst lässt sich ihr Wachstum feststellen2, auch wenn es zwischen den einzelnen Ländern große Unterschiede gibt und verschiedene Messkriterien eine objektive Bewertung dieses Phänomens erschweren.

Die Entstehung einer neuen unteren Mittelschicht geht auf eine Politik zurück, die direkten Transferleistungen und anderen Umverteilungsmaßnahmen den Vorzug gegeben hat, basierend auf einem wirtschaftlichen Wachstum von nahezu einem Jahrzehnt. Trotz der Krise von 2009 erlebte die Region das Gegenteil dessen, was die pessimistischen Voraussagen der 90er Jahre prophezeiten, nämlich dass das neue Wirtschaftsmodell das Dilemma der Mittelschicht geradezu hervorrufen und diese zu weiten Teilen in eine »neue Armut« stürzen würde3. In Argentinien wurden in den 90er Jahren sieben Millionen aus der Mittelschicht, d. h. 20% der Bevölkerung, zu Armen4.

Die Mittelschicht gewann in verschiedenen Ländern der Region politisch an Gewicht, wenn man den Medien Glauben schenken darf. Die Opposition zu Hugo Chávez in Venezuela und zu Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien setzt sich hauptsächlich aus der städtischen Mittelschicht zusammen. Die Proteste gegen die von der argentinischen Regierung beschlossenen Exportabgaben vereinten die städtische Mittelschicht und die neue ländliche Mittelschicht, die zuvor Néstor Kirchner unterstützt hatte. In Ecuador protestierte die städtische Mittelschicht gegen die Manipulation des Obersten Gerichtshofs und die sogenannte »Rebellion der Forajidos« führte im April 2005 zum Sturz des Präsidenten Lucio Gutiérrez.

Es ist interessant, dass dieser politische Protagonismus sich weitgehend in oppositionellen Aktivitäten und »destabilisierenden« Protestaktionen äußert und im Widerspruch zum traditionellen Ruf der Mittelschicht steht, Garant politischer Stabilität zu sein. Doch schon zu einem früheren Zeitpunkt machten bestimmte Ereignisse in Lateinamerika deutlich, dass das politische Verhalten der Mittelschicht nicht per se stabilisierend und demokratisch ist. In der Vergangenheit und ganz besonders im Cono Sur und in Brasilien haben weite Teile der Mittelschicht Militärregime als eine Alternative zu politischer und sozialer Unruhe unterstützt.

Von der stabilisierenden Rolle der Mittelschicht sprach schon Aristoteles in seinem Werk Politica. Demnach ist die Mittelschicht hinsichtlich ihres Lebensunterhalts und sozialen Status’ nicht von der Oberschicht abhängig. Sie leitet beide Aspekte von ihrem kleinem Eigentum oder ihrem Bildungsgrad ab und lehnt daher expandierende Projekte der Oberschicht ab, die ihre eigenen Interessen gefährden könnten. Mit anderen Worten, die Mittelschicht verhält sich dann demokratisch, wenn ihre Interessen »mit der Oligarchie nicht vereinbar« sind.

Die Mittelschicht kann sich jedoch auch in dem Moment mit der Oberschicht verbünden, wenn die Mobilisierung der »unteren Schichten« ihre Interessen gefährdet. Diese Art von Bündnis ist die häufigste Erklärung für die Unterstützung eines Putschs und Militärregimes in Lateinamerika. Aber diese Begründung ist zu einfach, denn sie setzt die Bedrohung durch eine soziale Revolution mit der einer andauernden sozialen und politischen Krise gleich.

Die Bürgerkriege in Zentralamerika galten als eine solche reale, revolutionäre Bedrohung. Auch der in Chile durch die Regierung des Wahlbündnisses der Unidad Popular initiierte Prozess wurde als der Beginn einer radikalen, sozialen Transformation eingeschätzt. Die Militärputsche wurden, auch wenn man sie als Reaktion auf eine revolutionäre Bedrohung rechtfertigte, von der Mittelschicht wegen der politischen und sozialen Krise unterstützt.

In Brasilien gab es 1964 keine reale, revolutionäre Bedrohung, auch wenn die Kubanische Revolution von 1959 zur Rechtfertigung des Militärputschs angeführt wurde. Die chilenische Krise war möglicherweise sowohl 1973 in Uruguay als auch 1976 in Argentinien präsent, vielleicht vor allem, weil die Militärs versuchten, ihren chilenischen Vorbildern nachzueifern. Das Gleiche gilt für den Staatsstreich in Argentinien im Jahr 1966, dessen Vorbild der brasilianische Putsch von 1964 war. Unabhängig von den Argumenten der Putschisten ist es möglich, dass die Mittelschicht ihre Unterstützung auf die sozialen Missstände gründete und dass sie dabei dem Motto folgte, das Marx der französischen Bourgeoisie beim Sturz von Louis Napoleon Bonaparte zuschrieb: »Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende«.

Die Aussage, die Interessen der Mittelschicht seien anders gelagert als die der Oberschicht, trägt der strukturellen Heterogenität der Ersteren keine Rechnung. Das neue Wirtschaftsmodell der 90er Jahre hin zur globalisierten Wirtschaft verdeutlicht die Heterogenität. Während die öffentlichen Angestellten, die Fachkräfte und Kleinunternehmer des Binnenmarkts zu Verlierern wurden, gingen die im wettbewerbsintensiven Sektor tätigen Angestellten und Fachkräfte als die Gewinner hervor.

Dank des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums im letzten Jahrzehnt entstand eine Flut von formalen Arbeitsverhältnissen, in vielen Ländern auch im öffentlichen Dienst. Die mittlere Mittelschicht kehrte zurück und dank der Politik der Umverteilung und der Zunahme von Arbeitsplätzen entstand gleichzeitig eine neue untere Mittelschicht. Man kann also durchaus von einem Wachstum der Mittelschicht sprechen, das auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist, wie die »Rückkehr des Staates«, die positiven Ergebnisse des neuen Wirtschaftsmodells, zunehmende Exporte und höhere Preise für Primärexporte.

Der Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 ließ befürchten, es könnte in der Region zu einer neuen Wachstumsunterbrechung kommen, wie es zuvor viele Male der Fall gewesen war. Doch diese Befürchtung trat nicht ein. Dank des Impulses der florierenden, chinesischen Wirtschaft fielen die Rohstoffpreise im historischen Vergleich nur gering; wenngleich sie nicht mehr das Preisniveau von Mitte 2008 erreichten. Auch hatten die Regierungen aufgrund größerer wirtschaftspolitischer Umsicht mehr Spielraum für antizyklische Maßnahmen. So erklärt es sich, dass auch wenn die Wirtschaft 2009 in der gesamten Region um 1,9% schrumpfte, für 2010 ein Wachstum von 5,9% verzeichnet wurde5.

Wenn es durch den gegenwärtigen, möglicherweise überstürzten Ausgleich der Länderdefizite in der Europäischen Union nicht zu einer zweiten Talsohle in der globalen Rezession kommt, kann man davon ausgehen, dass sich die Tendenz hält und die Mittelschicht entsprechend wächst. Zwischen den Ländern der Region gibt es jedoch große Unterschiede, vor allem zwischen südamerikanischen Ländern auf der einen und Zentralamerika und Mexiko auf der anderen Seite. Letztere sind wirtschaftlich und wegen der Geldüberweisungen der Immigranten noch immer vom schwachen US-amerikanischen Markt abhängig.

Die Situation der Mittelschicht ist von Land zu Land ebenfalls sehr verschieden; einerseits wegen unterschiedlicher historischer Entwicklungshintergründe und andererseits wegen verschiedener Ursachen ihrer politischen und wirtschaftlichen Krisen. Das politische Verhalten der Mittelschicht lässt sich nur erklären und für die Zukunft im Rahmen des Möglichen voraussehen, wenn verschiedene Faktoren wie ihre Größe, ihre Erwartungen und davon ableitend ihre früheren Erfahrungen berücksichtigt werden.

Die neue untere Mittelschicht

Der entscheidende, aus der Umverteilungspolitik und dem Wirtschaftswachstum resultierende Wandel des letzten Jahrzehnts war nicht nur die Minderung der Armut, sondern vor allem die Bildung einer neuen unteren Mittelschicht. Der nachfolgende Vergleich zwischen Brasilien und Venezuela verdeutlicht die Unterschiede dieses Phänomens in beiden Ländern.

In Venezuela kam es in den Jahren 2004 bis 2008, auch wenn die Zahlen umstrittenen sind, zu einem starken Wirtschaftswachstum, das gepaart mit Sozialprogrammen (den sog. »Missionen«) die Armut und die extreme Armut stark minderte: Der Prozentsatz an armen Haushalten sank laut den Zahlen des venezolanischen Statistikamts im ersten Halbjahr 2009 auf 31,6% gegenüber 49,99% im ersten Halbjahr 1999, und die extreme Armut fiel im gleichen Zeitraum von 19,86% auf 8,70%6.

Die soziale Struktur hat sich dagegen laut Aussage des venezolanischen Meinungsforschungsinstituts Datanálisis von 1998 bis 2007 nicht wesentlich verändert. Die Klasse C (Mittelschicht) stieg von 18% auf 18,3%, wobei der Rückgang von mehr als fünf Punkten in der Klasse D (Unterschicht, in 2007 bei 33,6%) von einer Zunahme in der Klasse E aufgehoben (45,7% in 2007) wurde. Innerhalb der Klasse C kamen die größten Lohnerhöhungen im öffentlichen Bereich der Untergruppe C zugute, d. h. den Staatsbeamten, dem Militär und insbesondere hohen Militäroffizieren und Unternehmern, die mit der Regierung kooperierten.

Die Sozialpolitik von Chávez gilt in Bezug auf das Verhältnis von Investitionen und ihrem Wirkungsgrad als ineffizient. Es ist offensichtlich, dass die hohe Inflation und das unzureichende Management der öffentlichen Verwaltung vor allem der einkommensschwachen Bevölkerung schaden. Die Starrheit der sozialen Struktur und der sich durch die zunehmende Schicht E manifestierende Rückschritt überraschen. Die Entstehung einer neuen unteren Mittelklasse zeichnet sich nicht ab.

In Brasilien ist die Situation eine andere. Von 2004 bis 2007 stieg die »Klasse C« aufgrund der wirtschaftlichen Expansion und der öffentlichen Politik von 39,85% auf 47,6%. Maria Herminia Tavares und E. Nunes de Oliveira argumentieren:

Nicht nur in den Bundeshauptstädten mit einem großen Armutsvorkommen, wie Recife und Salvador, ist ein bedeutendes Wachstum der unteren Mittelschicht zu verzeichnen. In den politisch bedeutendsten Bundeshauptstädten, wie Rio de Janeiro, São Paulo und Belo Horizonte, gehört bereits die Mehrheit der Bevölkerung zur »Klasse C« (…) In den Jahren 2007 und 2008 kam es zu einer Verschiebung und circa 30% der Brasilianer stiegen von der Klasse D in die Klasse C auf.7

Dieses einkommensbedingte Wachstum erklärt das allgemeine Klima der Euphorie in der öffentlichen Meinung Brasiliens und die große Unterstützung, die Luiz Inácio Lula da Silva zuteil wurde, dessen Regierung nicht nur mit der Umverteilungspolitik gleichgesetzt wird (direkte Transferleistungen an Familien), sondern auch mit der positiven Entwicklung der Wirtschaft, selbst wenn diese weitgehend der günstigen, internationalen Wirtschaftslage zuzuschreiben ist: virtù e fortuna.

Die Klasse C unterstützt nicht nur Lula (2008 bewerteten 63,5% seine Regierung als gut oder sehr gut), sondern identifiziert sich auch in hohem Maße mit der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT): 47,4% dieser Klasse haben politische Präferenzen für eine Partei und nahezu die Hälfte davon sieht sich politisch durch die Regierungspartei (PT) vertreten. Außerdem verhält sich die Klasse C trotz des offensichtlich geschädigten Ansehens des Parlaments und der »politischen Klasse« weiterhin demokratisch. Das lässt darauf schließen, dass für diesen Sektor die sog. »Ergebnisse« der Demokratie entscheidend sind, d. h. nicht nur ihr sozialer Aufstieg, sondern auch und vor allem positive Zukunftserwartungen dank der sehr guten Erfahrungen der vergangenen Jahre.

Laut Angaben aus dem Jahr 2009 wurde dahingegen Chávez in Venezuela von nur 20% der Mittelschicht unterstützt, während 40% sich gegen ihn aussprachen und weitere 40% ihm »neutral« gegenüberstanden. Dies ist um so überraschender, wenn man bedenkt, dass Chávez zu Beginn seiner Regierungszeit bei der Mittelschicht sehr populär war (91,4% im Jahr 1999). Die Analyse von Hidalgo deutet darauf hin, wie das Vorgehen von Chávez in der Regierungsperiode vor 2010 der Mehrheit der Mittelschicht das Gefühl gab, die Regierung hätte ihren Lebensstil eingeschränkt. Eine solche Einschätzung war in Brasilien nicht der Fall.

Der Vergleich zeigt aber noch einen anderen bedeutenden Unterschied: In Venezuela vergrößerte sich die Mittelschicht nicht durch einen sozialen Aufstieg der Unterschicht. Chávez wird auch weiterhin von der breiten Bevölkerung unterstützt, doch die Mittelschicht hat unter seiner Regierung nicht zugenommen. Für das Misstrauen und die Feindseligkeit der »gepeinigten« Mittelschicht gibt es kein Gegengewicht einer aufsteigenden, neuen unteren Mittelschicht.

Skepsis gegenüber dem Verhalten der Regierungen

Es ist wichtig, sich die starke Unterstützung der Mittelschicht zu Beginn der Regierung von Chávez vor Augen zu halten. Der Zusammenbruch der politischen Parteien und die Ablehnung der traditionellen Politik waren der Nährboden, auf dem seit 1998 in einigen Ländern neue Regierungsstile entstanden, die häufig als populistisch und plebiszitär bezeichnet werden; eine Meinung, die von der Mittelschicht maßgeblich geteilt wird.

Wann distanzierte sich die Mittelschicht von den neuen Regierenden? Die Hauptursache mag einfach ihre Enttäuschung über die Wirtschaftsergebnisse gewesen sein. Hohe Kreditverfügbarkeit oder subventionierter Konsum reichen nicht aus, wenn der inflationäre Druck oder die Eingriffe der Regierung in das wirtschaftliche und soziale Leben wie ein Angriff auf den eigenen »Lebensstil« erlebt wird, der über Einkommen und Konsum hinaus den Kern der Identität der Mittelschicht darstellt.

Zu diesem Lebenstil gehört auch der Respekt gegenüber liberal-demokratischen Werten. Die Massenproteste gegen Lucio Gutiérrez in Ecuador 2005 waren eine Antwort auf den Versuch der Regierung, den Obersten Gerichtshof zugunsten des ehemaligen Präsidenten Abdalá Bucaram zu manipulieren. Auch die Ablehnung der Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner durch die Mittelschicht von Buenos Aires scheint sich aus einem Regierungsstil zu erklären, der versucht, das Parlament zu kontrollieren, trotz anfänglicher glaubwürdiger und positiver Schritte zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz.

Es ist also möglich, dass nicht nur die Politik, sondern auch der Regierungsstil die Ablehnung der Mittelschicht hervorruft. Sie lehnt »plebejische« Regierungen von der Warte ihres höheren Bildungsgrads und ihres politischen Wissens ab, während sich das Volk aus den gleichen Gründen mit ihnen identifiziert. Eine solche Argumentation kann aber nicht erklären, warum Carlos Menem von der Mittelschicht während der guten Jahre der Konvertibilität unterstützt wurde, obwohl weder sein Regierungsstil noch sein Habitus besonders kultiviert waren.

Die Entscheidungen der Mittelschicht werden also vor allem von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierungen beeinflusst. Die Gesetzesinitiative in Sachen Bildung von Chávez im Jahr 2001 mobilisierte die Mittelschicht; sie bedrohte in ihren Augen die Privatbildung, d.h. den Garanten dafür, dass der entsprechende soziale Status auch für die nächste Generation gesichert ist8.

Warum kommt es aber auch dann zu Konfrontationen, wenn weder der Status noch das Einkommen der Mittelschicht in Gefahr sind? Der Widerstand der ländlichen Mittelschicht Argentiniens gegen die Erhöhung der Exportabgabe ist leicht nachzuvollziehen; die Gründe für die Ablehnung der Kirchners in der Stadt Buenos Aires sind vielschichtiger. Abgesehen von demokratischen Grundwerten oder der Ablehnung der populistischen Haltung der Regierung bringen jedoch die Inflation und die Manipulation des Nationalen Instituts für Statistik und Volkszählung (Instituto Nacional de Estadística y Censos, INDEC) der Mittelschicht als Verbraucher, Sparer und Rentner Nachteile.

Es gibt jedoch eine noch weiter reichende Erklärung: die negativen Erwartungen aufgrund bisheriger Erfahrungen. Für Argentinien heißt dies, dass auf ein wirtschaftliches Hoch neue Krisen folgen, wie z.B. beim Zusammenbruch der Konvertibilität 2001. Die Denkweise scheint folgende: Je heterogener die Maßnahmen sind, die in der Wirtschaft angewendet werden, desto mehr wachsen logischerweise die negativen Erwartungen. Denn diese Heterogenität könnte die Ursache für die nächste Krise sein.

Trotz der positiven wirtschaftlichen Konjunktur und einer Politik, die die Auswirkungen der Inflation auf die Mittelschicht in den großen Städten dämpfen sollte, wählte diese bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2007 nicht Cristina Kirchner, sondern zog eine zersplitterte Opposition vor, der es nicht gelang, sich als Alternative zur Regierungspartei zu etablieren. Die Forderung der Mittelschicht nach mehr Transparenz in Regierungsanlegenheiten, Korruptionsskandale, die gescheiterte politische Modernisierung, die Manipulation der offiziellen statistischen Daten und der prekäre Charakter eines Wachstums, dem es mehr um die Stärkung persönlicher Macht als um Grundlagen für eine nachhaltige Entwicklung geht, sprachen gegen die Regierungspartei9.

Die Mittelschicht unterscheidet sich von der Unterschicht durch in die Zukunft gerichtete Interessen, die über das reine Überleben und den unmittelbaren Konsum hinausgehen. Sie möchte ihren Status und ihre soziale Position für sich und ihre Kinder aufrechterhalten. Diese Art der Kontinuität wird von Regierungen gefährdet, die heute oder morgen Ungleichgewichte verursachen könnten, selbst dann, wenn die aktuelle wirtschaftliche Lage positiv ist. Die Erinnerung an die Krisen, die ihre soziale Position und ihr Einkommen ernsthaft bedrohten, ist noch zu lebendig; möglicherweise ist das die entscheidende Ursache für das Misstrauen, das die Mittelschicht in diesem Fall der argentinischen Regierung entgegenbringt.

Erstarrung und Privilegien

Die Angst vor künftigen Risiken könnte die Unbeweglichkeit der Mittelschicht erklären, die sich in einer sozialen Lage befindet, die eigentlich einen radikalen Wandel der Politik verlangt. Diese Furcht der Mittelschicht kann auf Erfahrungen beruhen oder auf einem Gefühl der Unsicherheit aufgrund ihrer zu großen Distanz zu den niedrigeren Schichten und deren limitierten Aufstiegsmöglichkeiten, insbesondere bei geringen wirtschaftlichen Erwartungen im Land.

In welchen Ländern ist die Mittelschicht eine Minderheit in einem Kontext von extremer Armut? Dies ist in Nicaragua, Honduras und Guatemala der Fall. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Angst vor Veränderung um so größer ist, je dünner die Mittelschicht ist. Es bedarf nicht einmal einer tief greifenden Transformation der sozialen Ordnung, sondern bereits Politiken und Steuern zur Einkommensverteilung empfindet sie als Bedrohung.

Wenn die Interessen der Mittelschicht denen der Oberschicht näher sind, kann nur ein ernsthafter Konflikt mit dieser dazu führen, dass sie dem herrschenden Regime ihre Unterstützung entzieht. Das geschah 1978 in Nicaragua, als der Mord an Pedro Joaquín Chamorro durch Anastasio Somoza zum Aufstand der sandinistischen Befreiungsbewegung führte. Diese wurde von dem Großteil der Mittel- und Oberschicht, der nicht direkt vom Militär abhing oder sich von dem Kleptokraten bedroht fühlte, unterstützt. Möglicherweise gilt dies auch für die gegenwärtige zweite Amtsperiode von Daniel Ortega und das zunehmende Abdriften seiner Regierung in die Illegalität.

Aufgrund der wirtschaftlichen Reformen der Neunzigerjahre muss zwischen Verlierern und Gewinnern unterschieden werden. Die öffentlichen Angestellten und die Kleinbesitzer des nicht wettbewerbsfähigen Binnenmarkts sind die Gegner der liberalisierenden Wirtschaftsreformen, die den konkurrenzfähigen Privatsektor favorisieren. Die Mittelschicht, die sich durch qualifizierte Arbeits-, Führungs- oder Fachkräfte und einem aus der Mittelschicht stammenden Kundenkreis auszeichnet, gehört eben diesem »modernen« Sektor an und zeigt sich demzufolge Veränderungen gegenüber positiv eingestellt, auch wenn sie mit Politiken oder Steuermaßnahmen zur Umverteilung nicht immer einverstanden sein muss. Das Panorama in Costa Rica, in dem die Mittelschicht in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine große Bedeutung erlangte, zeigt deutlich ihre Spaltung in Verlierer und Gewinner.

Die Veränderungen haben einen Spaltungsprozess der Mittelschicht angestoßen (…) Es hat vorwiegend in der freien Wirtschaft operierende »Gewinner« und die meist im staatlichen Bereich tätigen »Verlierer« gegeben. Diese Spaltung ist ein Ergebnis der Individualisierungstendenzen, die sich aufgrund des hohen Risikos der unberechenbaren, globalen Märkte abzeichnen. Und die Mittelschicht ist am meisten von diesem Risiko betroffen, da die Eliten ausreichende Mittel haben, um die Globalisierung und die damit einhergehende Unsicherheit zu überstehen.10

Gleichzeitig hat sich die Oberschicht von den Gewinnern der oberen Mittelschicht distanziert. Der Abstand zwischen der Mittelschicht und den unteren Schichten hat zugenommen. Einer anderen Analyse zufolge fand in der oberen Mittelschicht eine »Elitisierung« statt; auch wenn die Mittelschicht zugenommen haben mag, ist ihre Wahrnehmung eine andere: Sie erlebt Rückgang und Krise verstärkt durch ein Gefühl der (öffentlichen) Unsicherheit. Darauf könnte die abnehmende Stimmenzahl der Mittelschicht für die traditionellen Parteien (Partei der Nationalen Befreiung – Partido de Liberación Nacional, PLN– und der Christlich Demokratischen Partei – Partido Unidad Social Cristiana, PUSC) zurückzuführen sein11.

In Mexiko ist die Lage durch den Effekt der Finanzkrisen, die als der sog. »Fluch des Sexenios« (der sechsjährigen Amtszeit) bekannt sind und durch das katastrophale Ende der Regierungsperioden der Präsidenten José López Portillo und Carlos Salinas de Gortari noch schwieriger zu fassen. Der hohe Preis dieser Krisen und der von Salinas durchgeführten Reformen haben die mexikanische Mittelschicht offensichtlich dazu gebracht, grundlegenden Reformen gegenüber sehr negativ eingestellt zu sein. Dennoch ist die Mittelschicht eindeutig für die Demokratisierung, nicht nur aus Überzeugung, sondern auch um die Willkür der Regierungen in Schach zu halten.

Seit diesen Reformen ist die Einkommenskonzentration noch höher, die soziale Struktur noch starrer und Ungerechtigkeit existiert nach wie vor. In diesem Zusammenhang und ganz im Gegensatz zu dem, was unter so widrigen wirtschaftlichen Bedingungen zu erwarten gewesen wäre, nahm die Mittelschicht nicht nur zu, sondern konsolidierte sich und gewann so an politischem Einfluss (...). Die Demokratisierung wurde durch eine Allianz der Mittelschicht und der politischen Elite angestoßen, durch die die Hegemonie der PRI [Partido Revolucionario Institucional] zu bröckeln begann. Nachdem die politischen Veränderungen umgesetzt waren, blieb diese Allianz weiter bestehen, jedoch mit einer anderen Zielsetzung: Stabilität und Kontinuität wurden zur obersten Priorität.12

Ungenügende politische Vertretung

Das politische Verhalten der Mittelschicht ist auch durch die Abwesenheit von Parteien, von denen sie sich politisch vertreten fühlt, zu erklären. Solange die Mittelschicht ein Oberbegriff für bestimmte Einkommensklassen und eben nicht eine soziale Schicht ist, d. h., solange sie beruflich so heterogen bleibt, wird sie nicht mit einer politischen Stimme sprechen.

Dennoch besteht historisch gesehen kein Zweifel daran, dass die argentinische Partei Radikale Bürgerunion (Unión Cívica Radical, UCR) oder die costa-ricanische Partei der Nationalen Befreiung (Partido de la Liberación Nacional, PLN) zu einem bestimmten Zeitpunkt von weiten Teilen der Mittelschicht unterstützt wurden. Die Reformen der Neunzigerjahre bewirkten die Spaltung der Mittelschicht in Gewinner und Verlierer. Die »neuen Armen« und die Teile der Mittelschicht, die sich von der Liberalisierung und der Globalisierung der Wirtschaft bedroht fühlen, werden hinsichtlich ihrer Interessen oder ihrer politischen Meinung kaum mit den Gewinnern der Mittelschicht übereinstimmen.

Die Allianz zwischen der UCR und dem linken Parteienbündnis in Argentinien zeigte jedoch auch, dass es möglich ist, ein Programm aufzustellen, dass an die Interessen der »Verlierer« wie auch an das Wohlergehen der »Gewinner« appelliert. Das verheerende Ende der Regierung von Fernando de la Rúa machte deutlich, dass die Aufrechterhaltung der Konvertibilität, die den Kern seines Regierungsprogramms darstellte, nicht durchführbar war. Dennoch sollte es möglich sein, so realistische Programme zu erstellen, die die Interessen der verschiedenen Mittelschichten mit denen der sozialen Mehrheit verbinden.

Solche wären dann in der Tat »sozialdemokratische Programme«. Nach der Weltwirtschaftskrise von 2009 scheint Lateinamerika nun der historischen Aufgabe gewachsen zu sein, den Teufelskreis der Ungleichheit endgültig zu durchbrechen und dank einer positiven internationalen Wirtschaftslage nicht nur die Armut zu mindern. Die Grundlagen für einen neuen politischen und sozialen Konsens sind vorhanden, um Wirtschaftswachstum und soziale Kohäsion zu verbinden und es gibt ein politisches Programm, das über den Washington Konsensus und die »Reformen der zweiten Generation« hinausgeht.

Die Schwierigkeit besteht darin, ein Programm aufzustellen, das sowohl die Interessen der Mittelschicht, der Arbeiter und verschiedener Randgruppen anspricht. Nur in sehr wenigen Ländern bestehen glaubwürdige, politische Entwürfe, aus denen sozialdemokratische Programme entstehen können. Ein wesentliches Hindernis stellt der Wettstreit zwischen autoritären und plebiszitären Konzepten dar, auch weil er den Konservativen Argumente liefert, mit denen sie die Mittelschicht wieder auf ihre Seite zu holen versuchen, beispielsweise indem sie jegliche Initiative zur Umverteilung und zur vermehrten (und besseren) Intervention des Staates als eine »populistische« Bedrohung darstellen.

Dank des positiven wirtschaftlichen Kontextes sollte eine neue Generation von lateinamerikanischen Politikern jetzt den Versuch unternehmen, den Bürgern nicht nur Parolen, sondern Programme mit Inhalten vorzustellen, die das Interesse der Allgemeinheit vertreten, für soziale Kohäsion sorgen und eine Gesellschaft ermöglichen, in der sich die Mittelschicht nicht mehr zwischen Gewinnern und Verlierern teilt oder sich von einer neuen Armut bedroht fühlt.

  • 1. Maria Herminia Tavares de Almeida und E. Nunes de Oliveira: «Nuevas capas medias y política en Brasil» in L. Paramio (Hrsg.): Clases medias y gobernabilidad en América Latina, Pablo Iglesias, Madrid, im Druck.
  • 2. Martín Hopenhayn: «¿Cómo cambió la clase media en América Latina? Elementos para el debate» in L. Paramio (Hrsg.): Clases medias y gobernabilidad en América Latina, a.a.O.
  • 3. Alberto Minujín und Gabriel Kessler: La nueva pobreza en la Argentina, Planeta, Buenos Aires, 1995.
  • 4. Liliana De Riz: «La clase media argentina: conjeturas para interpretar el papel de las clases medias en los procesos políticos» in L. Paramio (Hrsg.): Clases medias y gobernabilidad en América Latina, a.a.O.
  • 5. Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Comisión Económica para América Latina y el Caribe, cepal): Estudio económico de América Latina y el Caribe 2010-2011, cepal, Santiago, 2011. Daten nach Angaben von cepal durch die Redaktion von Nueva Sociedad aktualisiert.
  • 6. M. Hidalgo: «Clase media y conflictos sociopolíticos en Venezuela (1998-2009): una exploración» in L. Paramio (Hrsg.): Clases medias y gobernabilidad en América Latina, a.a.O.
  • 7. Op. cit.
  • 8. M. Hidalgo: op. cit.
  • 9. L. De Riz: op. cit., Hervorhebung des Verfassers.
  • 10. Minor Mora Salas und Juan Pablo Pérez Sáinz: Se acabó la pura vida: amenazas y desafíos sociales en la Costa Rica del siglo xxi, San José de Costa Rica, flacso, 2009, zitiert in Manuel Rojas Bolaños: «Las clases medias en Costa Rica» in L. Paramio (Hrsg.): Clases medias y gobernabilidad en América Latina, a.a.O.
  • 11. Mylena Vega: «Evolución de las clases en Costa Rica: ¿desaparece la clase media?» in Víctor Hugo Céspedes und Ronulfo Jiménez: Distribución del ingreso en Costa Rica, 1988-2004, Academia de Centroamérica, San José de Costa Rica, 2007.
  • 12. Soledad Loaeza: «Las clases medias mexicanas y la apuesta por la estabilidad» in L. Paramio (Hrsg.): Clases medias y gobernabilidad en América Latina, a.a.O.
Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2012, ISSN: 0251-3552


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