Artículo
NUSO Nº Januar 2009

Die Krise aus globaler Sicht und ihre Bedeutung für Brasilien

Zusammenfassung | Die globale Krise stellt uns vor eine Reihe von Herausforderungen, die auch als Chancen verstanden werden können. Dieser Artikel spricht sechs davon an, die sowohl global als auch für Brasilien von besonderer Bedeutung sind: Die Neudefinition des energetisch-produktiven Paradigmas, den Kampf gegen die sozialen Unterschiede, die Wiederherstellung der zentralen Rolle des Staates, die Neuausrichtung der Kredite auf produktive und sozial nützliche Aktivitäten, die Ankurbelung der Wirtschaft, um die Produktion anzuregen und das Entwickeln von politischen Strategien, die in ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht kohärent sind. Es handelt sich zusammenfassend um umfassende und komplexe Herausforderungen, die über technische Lösungen oder solche, die auf wirtschaftliche Aspekte beschränkt sind, hinausgehen und die langfristig geplant werden müssen.

Die Krise aus globaler Sicht und ihre Bedeutung für Brasilien

Drei Jahrzehnte lang forderten – und erhielten – die Unternehmen völlige Handlungsfreiheit, wobei sie garantierten, dass sie ohne den Staat besser auf die globalen Probleme reagieren könnten und dass der Markt und die Selbstregulierung das wirtschaftliche Gleichgewicht ausreichend gewährleisteten. In der Tat reduzierte die Oligopolisierung des Systems drastisch den Wettbewerb zwischen den Unternehmen und brachte die Märkte aus den Fugen, wobei sich die Selbstregulierung im Wesentlichen als Fiktion erwies. Mit der Schwächung des Staates und seiner Planungs- und Steuerungsinstrumente auf der einen und der Erosion der Marktmechanismen und der Selbstregulierung auf der anderen Seite entstand einfach nur Zerstörung, ein Verlust systemischer Governance und gleichzeitig wurden die Herausforderungen nur größer.

1. Neudefinition des energetisch-produktiven Paradigmas

Wir sollten hier nicht unsere Tragödien auflisten. Doch ist es eine Tatsache, dass wir mit einigem Abstand betrachtet nicht mehr eine reine Branchenkrise sehen, sondern eine umfassende Governancekrise auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene. Es gibt eine Konvergenz der sich akkumulierenden Probleme, deren Synergie sie noch bedrohlicher macht und deren gemeinsame Wurzel letztlich die Tatsache ist, dass unsere derzeitigen Governance-Mechanismen nicht ausreichen. Mit der Globalisierung, der Unterordnung unter den Finanzsektor und der Oligopolisierung großer Bereiche der Wirtschaft beschleunigte sich die Erosion der Steuerungsfunktionen des Marktes. Und die Alternativen, insbesondere die Organisation von internationalen Koordinationsinstanzen, die Wiederherstellung der Planungs- und Interventionsfähigkeit des öffentlichen Sektors, der Ausbau von partizipativen und dezentralisierten Formen integrierter lokaler Verwaltungen, die Einführung horizontal vernetzter Verwaltungen mit Allianzen und Partnerschaften, befinden sich noch in Kinderschuhen. Die zentrale Rolle des Staates muss wieder hergestellt werden, doch mit einer sehr viel horizontaleren und partizipatorischeren Sicht, in der er eine Vermittlerrolle im Ganzen übernimmt.

Ignacy Sachs sieht eine Konvergenz der Finanzkrise und der Energiekrise und damit die Notwendigkeit einer systemischen Auseinandersetzung mit unserem Entwicklungsmodell. Dies ist kein übertriebener Idealismus, sondern bewertet nur unsere Herausforderungen mit kühlem Kopf.

Das Diagramm zeigt einen Überblick über die Makrotrends in einem historischen Zeitraum von 1750 bis zur Gegenwart. Die Skalen mussten leicht angepasst werden und einige der Linien stellen Prozesse dar, für die uns nur neuere Zahlen vorliegen. Aber insgesamt erlaubt die Grafik, traditionell getrennt untersuchte Bereiche zu verbinden, wie Bevölkerungsentwicklung, Klima, Kfz-Produktion, den Papierverbrauch sowie die Wasserverschmutzung, die Ausbeutung der Fischgründe und andere Faktoren. So wird sowohl die Synergie dieses Prozesses als auch das Ausmaß der ökologischen Herausforderungen deutlich1.. Im folgenden Kommentar aus dem New Scientist über diese Makrotrends geht es unmittelbar um unser eigenes Wachstumskonzept: »Die Frage gründet sich auf ein dauerhaftes Problem: Wie können wir die begrenzten Ressourcen der Erde mit der Tatsache in Einklang bringen, dass bei wachsender Wirtschaft die Höhe der für eine Aufrechterhaltung des Wachstums erforderlichen Ressourcen ebenfalls wachsen muss? Wir haben die gesamte Menschheitsgeschichte gebraucht, damit die Wirtschaft ihre jetzige Größe erreichte. In der derzeitigen Form wird wird es nur 20 Jahre dauern, bis sie sich verdoppelt«2.

Dabei wird die Konvergenz der Spannungen für den Planeten offensichtlich. Wir können uns nicht mehr dazu beglückwünschen, dass die Fangzahlen steigen, wenn wir dabei sind, das Leben in den Meeren zu vernichten, oder uns über den Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion freuen, wenn wir das Grundwasser in Gefahr bringen und die weltweiten Süßwasserreserven zerstören. Ganz zu schweigen von der Erhöhung der Kfz-Produktion und dem Ausbau der anderen Produktionsketten, die zur globalen Erwärmung beitragen. Wenn wir von der Finanzkrise sprechen, glauben wir zweifellos, dass es sich um ein Subsystem handelt, das instabil geworden ist und wir uns deshalb »in einer Krise befinden«. Aber mit etwas mehr Weitblick wird uns klar, dass es sich vor allem um ein System handelt, das bereits unhaltbar war solange es funktionierte. Die Lösung muss systemisch sein. Diese umfassendere Sicht kann – und kann eben nur – tiefere Änderungen ermöglichen, indem uns die Herausforderungen bewusster werden.

Ignacy Sachs gibt eine ausgezeichnete Zusammenfassung dieses Dilemmas: Welche Art von Entwicklung wollen wir? Und welche staatlichen Maßnahmen und Steuermechanismen sind notwendig, damit diese Entwicklung möglich wird? Das Ausmaß dieser Herausforderungen darf nicht bagatellisiert werden. Mit 6,8 Milliarden Einwohnern – und jährlich kommen 76 Millionen hinzu –, die einen zunehmend ungezügelten Verbrauch anstreben und mit immer leistungsfähigeren Technologien umgehen, zeigt unser Planet seine ganze Labilität. Die grundlegende Frage, die sich für die Neuordnung des Systems der Finanzintermediation stellt, ist doch, dass es absurd ist, unsere Ersparnisse und das weltweite Finanzierungspotenzial im globalen Casino zu verschwenden, wenn wir vor so großen und so dringlichen sozialen und ökologischen Herausforderungen stehen, die ganz dringend Ressourcen benötigen.

2. Der sozialen Ungleichheit ins Auge sehen

Die Unterordnung der Wirtschaftsprozesse unter den Finanzsektor nährt sich schon seit Jahrzehnten völlig unausgewogen von der Aneignung der Produktivitätsgewinne aus der derzeitigen technologischen Revolution. Wir wollen diesen Prozess hier nicht näher erläutern, doch soll daran erinnert werden, dass die Konzentration des Reichtums auf der Erde absolut obszöne Schwellenwerte erreicht3.

Der Champagnerkelch lässt dies ausgesprochen deutlich werden. Er zeigt, welchen Anteil jeder Einzelne tatsächlich vom gesamten weltweiten Einkommen erhält, und im Allgemeinen ist uns die Tragweite dieser Tragöde gar nicht bewusst. Die Reichsten 20% der Weltbevölkerung verfügen über 82,7% des weltweiten Einkommens. Die zwei Drittel der Ärmsten grob nur über 6%. Im Jahre 1960 hatten die reichsten 20% der Weltbevölkerung 70 mal soviel wie die ärmsten 20%, im Jahr 1989 hat sich dieses Verhältnis bereits auf 140 mal erhöht. Die Einkommenskonzentration ist absolut skandalös und zwingt uns, uns sowohl mit dem ethischen Problem, der Ungerechtigkeit und der Tragödie von Milliarden Menschen als auch mit dem wirtschaftlichen Problem auseinanderzusetzen, denn wir schließen Milliarden von Menschen aus, die nicht nur besser leben, sondern auch mit ihren produktiven Fähigkeiten mehr beitragen könnten. Es wird keine Ruhe auf der Erde einkehren, solange die Wirtschaft nur für ein Drittel der Weltbevölkerung funktioniert.

Diese Konzentration ist nicht nur allein durch die Finanzspekulation entstanden, auch wenn diese einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hat und es vor allem absurd ist, das Kapital von den offensichtlichen Prioritäten dieser Erde wegzulenken. The Economist hat ein beeindruckendes Bild über die Aneignung des vor allem durch die technologischen Fortschritte in der Produktion erzeugten gesellschaftlichen Überschusses durch die »Industrie der Finanzdienstleistungen« gegeben: »Die Branche der Finanzdienstleistungen ist zu einem brutalen Schrumpfungsprozess verurteilt. In Amerika stieg der Anteil dieses Wirtschaftszweiges an den Unternehmensgewinnen seit den frühen 1980er Jahren von 10% auf 40% auf ihrem Höhepunkt im Jahr 2007«4. Es ist eine klare Kluft zwischen denen entstanden, die technologische Innovationen hervorbringen und sozial nützliche Güter und Dienstleistungen herstellen – den Prozessingenieuren sozusagen « und dem System der Finanzvermittler, die sich den Überschuss aneignen und die Richtung des Ganzen verzerren5.

So stellt die Krise durch ihre starke Wirkung einfach eine grundlegende Wahrheit wieder her: Das Finanzsystem ist kein Ziel, sondern nur ein Mittel, das gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten erleichtern muss mit einer angemessenen – aber nicht übermäßig hohen – Entlohnung des Prozesses, da es sich um Kosten handelt. Sogar The Economist, der während so vieler Jahre als Verteidiger der »spekulativen Investoren« aufgetreten ist, weist auf dieses Dilemma hin: »Tatsächlich ist die Wahl an die Interessen der Wirtschaft insgesamt gebunden. Denn es sind schlussendlich die Steuerzahler und Sparer, die für die Finanzkrisen zahlen«. Der Bericht zitiert auch James Tobin: »Ich fürchte, dass wir mehr und mehr Ressourcen, darunter die Besten unserer Jugend, in finanzielle Aktivitäten weitab der Produktion von Waren und Dienstleistungen vergenden, Tätigkeiten, die zu hohen privaten Gewinnen führen, aber kein gemeinsames Maß mit der sozialen Produktivität haben«6. Es handelt sich um ein System, das eine tiefe Kluft zwischen denen erzeugt hat, die produktiv zur Gesellschaft beitragen und denen, die daran verdienen.

Im Zeitraum 2001-2008 gelangten weniger als die Hälfte der Gewinne an Arbeitsproduktivität in die Hände des Arbeiters selbst. Die ungleiche Beziehung zwischen dem Anstieg der Arbeitsproduktivität und der Bezahlung (Lohnstückkosten) wird in der Studie des brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística, IBGE) und in den Kommentaren des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada, IPEA) ganz deutlich:

Die Vergütung der Arbeitnehmer hat nicht in vollem Umfang die Entwicklung der Produktivitätsgewinne in der brasilianischen Wirtschaft begleitet. Wenn sich die Löhne nicht in vollem Umfang an die Produktionsgewinne anpassen, sind auch keine Anzeichen von Druck auf die Produktionskosten festzustellen, was einen Inflationsdruck bedeuten könnte. Ohne eine volle Übertragung der Produktivität auf die Arbeitnehmer wird die obere Schicht in der Einkommensverteilung Brasiliens noch größer.7

Dieser Prozess beschleunigt nur einen historischen Trend. Hier verbindet sich die konzentrierende Wirkung der Finanzintermediation mit der Nichtübertragung der gestiegenen Arbeitsproduktivität an die Arbeiter. In Brasilien hat der Prozess in den Jahren 1995-2004 zu einem starken Rückgang des Anteils der Löhne am Volkseinkommen geführt, schneller noch als in Industrieländern, die wir vorher gesehen haben, und auf ein absolutes Niveau, das absurd gering ist8. Die Kapitalflüsse, die sich – wie The Economist ausgezeichnet zum Ausdruck bringt – aus unseren Steuern und Ersparnissen speisen, müssen für soziale Ziele und Umweltziele verwendet werden.

3. Die zentrale Rolle des Staates wiederherstellen

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Ressourcenallokation durch Intermediäre geschieht, seien es Regierungen, Banken, Versicherungen, Pensionskassen, Krankenkassen oder die planetarischen Giganten, die wir institutionelle Anleger nennen. Alle diese Institutionen sammeln aus verschiedenen Gründen Mittel ein. Aber sie sind nur Vermittler, das heißt sie müssten diese Mittel bestimmten Zielen zuführen.

Die wichtigste Vermittlungsinstanz, die Regierung, weist Ressourcen anhand eines im Parlament diskutierten und gesetzlich verabschiedeten Haushaltsplans zu. Wichtiger Fakt: Die Regierung muss das Aufbringen der Mittel sicherstellen, die sie investieren will. Die Steuerpolitik (Finanzen) und die Verwendung (Planung) müssen bei der Budgetplanung Hand in Hand gehen. Überall auf der Welt sind die Regierungen die größten Verwalter von Ressourcen und je reicher das Land ist, desto größer ist der Anteil der Regierung an dieser Vermittlung.

Die untenstehende Tabelle ist interessant, weil sie die enge Korrelation zwischen dem Entwicklungsstand und dem Staatsanteil zeigt. In Ländern mit niedrigem Einkommen beträgt der Anteil der Zentralregierung am BIP 17,7%; dieser erhöht sich nach und nach bis wir bei den Ländern mit hohem Einkommen ankommen9. Schlecht von den Regierungen zu sprechen, scheint ein globaler Konsens zu sein, doch wird die Regierung immer wichtiger, auch die der Vereinigten Staaten.

Man beachte, dass es sich in der obigen Tabelle nur um die Ausgaben der Zentralregierung handelt, die öffentlichen Ausgaben insgesamt sind sehr viel höher. »Vor zehn Jahren betrugen die Ausgaben der US-Regierung 34,3% des BIP, was einem Unterschied von 14 Punkten zum europäischen Raum gleichkommt (dort sind es 48,2%), im Jahr 2010 werden US-Ausgaben von 39,9% des BIP erwartet, in Europa sind es im Vergleich dazu 47,1%: ein Unterschied von weniger als acht Prozentpunkten«10. Wir erinnern daran, dass die entsprechende Zahl in Brasilien 36% beträgt. In Schweden, und niemand wird behaupten, dass dieses Land schlecht regiert wird, sind es dagegen 66%. Und dies sind die Zahlen vor der staatlichen Intervention zur Rettung der Banken. Unabhängig von der jeweiligen Politik ist von entscheidender Bedeutung, die Qualität der Ressourcenallokation durch den größten Akteur, die Regierung, sicherzustellen. Die Korrelation zwischen Wohlstandsniveau des Landes und Staatsanteil ist in keiner Weise rätselhaft: Die Welt verändert sich einfach. Früher, als die Menschheit überwiegend aus verstreut lebender ländlicher Bevölkerung bestand, lösten die Familien viele ihrer Probleme selbst. Sie fanden ihr Wasser im Brunnen und entsorgten den Abfall im Wald. In der Stadt sind alle von den sozialen Investitionen betroffen, denn wir brauchen Wasser- und Kanalnetze, Bordsteine und Gullys, Schulen, Sicherheit, Müllabfuhr und so weiter, wobei natürlich der öffentliche Sektor stets eine grundlegende Rolle spielt.

Bei dieser weltweit so stark zunehmenden Präsenz des öffentlichen Sektors müssen wir auch die sektorübergreifende Zusammensetzung unserer Aktivitäten berücksichtigen. Noch vor einigen Jahrzehnten dachte man bei produktiven Aktivitäten vor allem an Industrie, Landwirtschaft und Handel. Heute hat sich der soziale Bereich eine Führungsrolle erobert. So ist zum Beispiel der größte Wirtschaftssektor in den Vereinigten Staaten nicht etwa, wie man denken könnte, die Waffen- oder die Automobilindustrie, sondern – mit 16% des BIP und einem zunehmenden Trend – der Gesundheitssektor. In Brasilien bilden Schüler, Lehrer und Verwaltungsangestellte im Bildungsbereich, wir sprechen von 60 Millionen Menschen, fast ein Drittel der Bevölkerung. Der soziale Sektor stellt aufgrund seines kapillaren Charakters (das Gesundheitssystem muss alle Menschen erreichen) und seiner Beschäftigungsintensität stets einen wichtigen Faktor für die strukturellen Veränderungen in der Gesellschaft dar. Es handelt sich um Bereiche, bei denen mit Ausnahme bestimmter einkommensstarker Nischen der öffentliche Sektor klar an erster Stelle steht, wobei er oft mit Organisationen der Zivilgesellschaft zusammenarbeitet, ein weiterer wachsender Bereich, der einen nichtstaatlichen öffentlichen Sektor darstellt.

Ein dritter Bereich, der sozialem Wandel unterliegt, ist die Entwicklung zur Wissensgesellschaft. Fast alle Bereiche erleben heute eine starke Technologieabhängigkeit, von Wissen aller Art und von all dem, was wir als »immaterielle Werte« bezeichnen. Wenn der wesentliche Wert einer Ware in dem in sie eingeflossenen Wissen besteht, dann ändern sich auch die entsprechenden Organisationsformen. Die Basis bildet ein breiter gesellschaftlicher Prozess, der die Forschung in den verschiedenen Sektoren umfasst sowie den breiten Zugang zu Bildung und die Systeme zur Verbreitung von Informationen, die die Wissensdichte in der Gesellschaft als Ganzes erhöht, wobei es auf allen Ebenen eine starke Beteiligung der öffentlichen Mittel gibt. Der natürliche Trend zeigt, dass das Wissen zu einem öffentlichen Gut wird (Creative Commons), weil es durch die moderne Technologie sehr leicht zu verbreiten ist und weil das Verständnis wächst, dass Wissen sich besser verbreitet, wenn man es mit anderen teilt.

Das sind die Megatrends, d.h. die Makrotendenzen, die die Gesellschaft verändern und die von uns stärker diversifizierte, dezentralere und flexiblere Managementsysteme verlangen. Wir steuern auf die vernetzte Gesellschaft, auf hochgradig interaktive und kooperative Systeme zu. Bündnisse und Partnerschaften zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Segmenten, an denen – auf verschiedenen territorialen Ebenen – sowohl öffentliche als auch private Bereiche beteiligt sind, werden weiter ausgebaut. Die Urbanisierung führt zu einer beschleunigten Dynamik in der lokalen Verwaltung, in denen die Gemeinschaft die Verantwortung für ihre Entwicklung übernimmt. Die Sozialpolitiken generieren partizipative Prozesse, die Wissensgesellschaft führt uns zur Zusammenarbeit in einem Netzwerk.

Es vollzieht sich in Wirklichkeit ein allgemeiner Zukunftsschock: Der Fall der Berliner Mauer förderte ebenso wie die unverantwortlichen Machenschaften an der Wall Street zunächst bei den Linken und später auch bei den Rechten die Einsicht, dass das System verändert werden muss. Business as usual auf beiden Seiten des politischen Spektrums ist nicht mehr möglich. Die Produktionsbeziehungen im weitesten Sinne wandeln sich, und damit sind auch die derzeitigen Steuermechanismen zum großen Teil obsolet geworden. Es geht nicht mehr nur darum, das Funktionieren der Finanzintermediation zu gewährleisten. Es geht darum sicherzustellen, dass die Geldmittel dahin fließen, wo sie gebraucht werden.

Die Rolle des Staates erscheint so, auch angesichts des globalen Ausmaßes der Krise, als zentral. Angesichts der extremen Schwäche der weltweiten Instrumente der »Global Governance« werden die neuen Steuerungssysteme strategisch eher aus einer Artikulation nationaler Politiken entstehen als auf globaler Ebene. Die Aufgaben des Staats werden sich dabei stärker auf das interne Gleichgewicht und neue Spielregeln zwischen den Nationen beziehen.

4. Die Rolle der Kredite neu definieren

Die Finanzintermediation spielt in Brasilien eine besondere Rolle. Dabei dominieren wenige Gruppen den Markt. Die brasilianische Vereinigung der Führungskräfte im Finanz-, Verwaltungs- und Rechnungswesen (Associaçao Nacional dos Executivos de Finanças, Administração e Contabilidade, ANEFAC) veröffentlicht monatlich den durchschnittlichen effektiven Zinssatz für Kredite an natürliche und juristische Personen11.

Aus den Tabellen unten wird deutlich, dass sich der Zinssatz für natürliche Personen im Durchschnitt bei 140% bewegt und für Dispositionskredite, Kreditkarten und persönliche Darlehen auf astronomische Sätze gestiegen ist. In Europa liegen diese Sätze höchstens bei 6% bis 7% (pro Jahr). Für juristische Person liegt der jährliche Zinssatz in den letzten drei Jahren bei 68%, die entsprechenden Zinsen in Europa dagegen betragen 3% pro Jahr. Man muss daran erinnern, dass der Diskontsatz in diesem Zeitraum von 19,75% auf 13,75%, bzw. um sechs Prozentpunkte, sank (ein Rückgang von 30,4%), ohne dass die Durchschnittszinsen für juristische oder natürliche Personen auf dem Finanzmarkt gesunken wären.

Die Lage stellt sich hier völlig anders dar als bei den Banken der Industrieländer, die mit niedrigen Zinsen und einem hohen Leverage-Effekt arbeiten. Für uns ist wichtig, dass in Brasilien Zinsen in einer Größenordnung von tausend Prozent der international üblichen nur deshalb möglich sind, weil im Finanzsektor eine faktische Kartellbildung stattgefunden hat. Die Banco Real (Tochter der spanischen Banco de Santander in Brasilien) erhebt zum Beispiel auf den Dispokredit in Brasilien Zinsen von 146%, während es in Spanien 0% für sechs Monate bei Beträgen bis zu 5.000 Euro sind. Die Gewinne der ausländischen Firmen in Brasilien unterhalten so ihre Stammhäuser im Heimatland. Die Tabelle der ANEFAC zeigt dabei nur die Zinsen, von den Gebühren ist hier gar nicht die Rede. Eine andere Studie des brasilianischen IPEA hat ergeben, dass die Realzinsen für natürliche Personen (unter Abzug der Inflation) der HSBC in Brasilien 63,42% betragen, in Großbritannien dagegen nur 6,60%. Bei der Banco de Santander betragen die entsprechenden Zahlen 55,74% bzw. 10,81%. Für die Citibank sind es 55,74% bzw. 7,28%. Für juristische Personen kassiert die HSBC in Brasilien 40,36% und in Großbritannien 7,86%12. Die Ergebnisse sind die beeindruckenden Spreads und Gewinne aus einem Kreditvolumen, das in einem Land wie Brasilien insgesamt recht begrenzt ist (39% des BIP). Die Finanzintermediation hat sich zu einem zentralen Faktor für den sogenannten »custo Brasil« entwickelt, ein Begriff, der die besonderen Kostennachteile für Unternehmen in Brasilien beschreibt. Sie trägt in hohem Maß zur Einkommenskonzentration bei und bremst damit auch die Entwicklung der Produktion. Die Gewinne sind so beeindruckend, dass sich unter dem Schutz dieses Kartells heute selbst der Handel auf das Kredit- und Versicherungsgeschäft konzentriert13.

Brasilien hat natürlich einen wichtigen Trumpf in der Hand, nämlich die Möglichkeit, die staatlichen Banken zur Wiedereinführung des Wettbewerbs auf dem kartellisierten Markt zu nutzen und damit durch Anreize für Konsum und Investitionen gleichzeitig die Wirtschaft anzukurbeln. Dies wird, so scheint es, schrittweise auch umgesetzt. Die Finanzintermediation der großen Gruppen muss sich hin zu mehr Konkurrenz entwickeln, auch weil die Kartellbildung illegal ist. Ein zweiter großer Trumpf ist die Möglichkeit, den Diskontsatz zu senken, was zweierlei bewirken würde: Indem die Gewinne aus Renten sinken – das betrifft vor allem die Banken, die in Staatsanleihen investiert haben – sind diese gezwungen, Alternativen im produktiven Sektor zu suchen. Dies bedeutet, Geld in die reale Wirtschaft zu injizieren und – indem die Zinsen für die Schulden der öffentlichen Hand sinken – Ressourcen für öffentliche Investitionen freizugeben. Bedenken wir, dass dies bei einer Verschuldung von rund 1,3 Billionen Reais und einem Schuldendienst (Zinsen und Tilgung) in der Größenordnung von 180 Milliarden Reais pro Jahr ein leistungsfähiges Instrument ist, auch wenn es nur schrittweise angewendet werden darf14.

Auf kurze Sicht aber scheint klar, dass eine vor Wettbewerb geschützte Gruppe von Giganten mit sehr hohen Gewinnen paradoxerweise mehr Stabilität erzeugt als die übermäßige Risikobelastung der Banken in den Industrieländern. Das Problem ist, dass wir hier keine Finanzintermediäre haben, die wirtschaftliche Initiativen fördern, sondern Zwischenhändler, die sie verteuern. Der Finanzsektor hat sich zu einem wichtigen Instrument der Einkommenskonzentration und sozialer Ungleichgewichte entwickelt.

In der Regel sind sowohl in den Industrieländern als auch in Brasilien die Unternehmensgewinne immer mehr dazu bestimmt Zwischenhändler zu ernähren und schaffen so eine breite Klasse von Rentenbeziehern. Die Frage »wer bezahlt das?« wandelt sich in den Augen der Gesellschaft immer mehr zur Frage »wen bezahlen wir?«. Es handelt sich um die Ersparnisse der Bevölkerung. Dieser Punkt ist essentiell, denn da es sich um ein mit dem Geld der Bevölkerung betriebenes Casino handelt, kann der Schutz der Spekulanten legitimerweise als Schutz der Bevölkerung dargestellt werden. Es steht ja ihr Geld auf dem Spiel. Dies schafft natürlich eine entsprechende Machtposition (das Argument too big to fail) und verstellt den Blick auf die wirklich wichtige Frage in Bezug auf die Kanalisierung von Ersparnissen: nicht ob die Banken Geld verdienen oder verlieren, sondern welche wirtschaftlichen Akteure sollen diese Spargelder nutzen, für welche Aktivitäten und welche Art von Entwicklung mit welchen Umweltkosten? Genügt es sicherzustellen, dass ein System nicht zusammenbricht, dessen Endprodukt nichts für die notwendigen wirtschaftlichen Aktivitäten tut?

Was die antizyklische Politik angeht, wird offensichtlich, dass die Finanzintermediation notwendigerweise der Wirtschaft dienen muss und nicht umgekehrt. Das ist nicht nur unser Problem. Der IWF stellt fest, dass »die Hälfte der Weltbevölkerung, fast drei Milliarden Menschen, die in Armut leben, keinen Zugang zu grundlegenden Finanzdienstleistungen hat«15. In Brasilien haben im informellen Sektor, der 51% der Beschäftigten repräsentiert, nur 16% Zugang zu Krediten16. Ein teueres und elitäres System, das einfach seine in der Verfassung festgelegten Aufgaben nicht erfüllt. Conceição Tavares merkt dazu an: »Wenn man sie nicht zwingt, werden sie auch nichts ändern«.

5. Die Wirtschaft durch produktive Teilhabe ankurbeln

Das Problem ist insgesamt recht einfach: Wenn wir die unterschiedlichen Finanzmanipulatoren, die die Krise erzeugt haben, nun finanziell retten, ohne die Spielregeln zu ändern, dann kehren wir an den Anfangspunkt der Krise zurück. Dadurch werden wir das Problem nicht lösen. Nach der Einschätzung von Amir Khair trug »die Finanzspritze für die Banken – in der Größenordnung von 100 Milliarden Reais –, dadurch dass die Zentralbank die Mindestreserven gesenkt hat, (…) wenig zur Erhöhung des Kreditangebots der privaten Banken bei, die angezogen von den hohen Zinsen lieber in Papiere der Bundesregierung investiert haben«17.

In den USA stärkte das in die großen Finanzinstitute fließende Geld die Reserven der Banken und kam nicht in Form von Krediten den Produzenten oder Konsumenten zugute. Der Analyse von Michel Chossudovsky nach, Leiter des kanadischen Zentrums für Globalisierungsforschung Global Research, werden die »größten Banken in den USA dieses vom Himmel gefallene Geld dazu nutzen, die Kontrolle über ihre schwächeren Konkurrenten zu gewinnen, um so ihre Position zu konsolidieren. Die Tendenz ist also eine neue Welle von Übernahmen und Fusionen bei den Finanzdienstleistern«18.

Das Thema ist von zentraler Bedeutung, denn Ziel ist nicht, die Finanzintermediäre zu alimentieren, sondern die Wirtschaft zu schützen und mit der wegen der sozialen und ökologischen Tragödien erforderlichen Umstrukturierung fortzufahren. Und wenn die in das Finanzsystem injizierten Mittel nicht zu Krediten, d.h. eine Ankurbelung der Wirtschaft werden, dann erreichen die Bemühungen einfach nicht ihr Ziel. In diesem Sinne ist die Intervention von Präsident Lula auf dem Internationalen Seminar über Entwicklung zu verstehen: »Verteilung ist notwendig, damit die Wirtschaft wächst«. Wirtschaftspolitik, so Lula, »heißt Produktion, Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommensverteilung«.

Mit anderen Worten, statt mehr Liquidität in leckende Systeme zu stecken, geht es darum, die Wirtschaft von der Basis her zu fördern. Die USA haben in noch größerem Maßstab mit demselben Dilemma zu kämpfen. Sie stehen zwischen der Entscheidung die Finanzintermediäre mit frischer Liquidität auszustatten oder die Wirtschaft von der Basis her anzukurbeln, indem die Finanzierung gewissermaßen den Zwischenhändlern entzogen und dafür gesorgt wird, dass die Mittel unmittelbar diejenigen erreichen, die sie in Nachfrage, Produktion und Beschäftigung verwandeln. Beispielsweise ist das Programm der Zugangserweiterung zu Gesundheitsdiensten in Höhe von 650 Milliarden US$ eine Initiative dieser Art, wenn auch eine sehr kleine (es handelt sich um ein auf zehn Jahre ausgelegtes Programm, das sind 65 Milliarden pro Jahr) im Vergleich zu den den Spekulanten gewährten Finanzhilfen. Es ist eine Frage der Kräfteverhältnisse.

In Brasilien war die Option eindeutig die Ankurbelung der Wirtschaft von der Basis her. In den von der Ministerin Dilma Rousseff vorgelegten Zahlen spielt für den Schutz der brasilianischen Wirtschaft die Konvergenz einer Reihe von Initiativen eine zentrale Rolle: Während der Regierung Lulas wurde der Mindestlohn real um 51% erhöht, was sowohl die unteren Lohngruppen (26 Millionen Menschen) als auch die Renten begünstigt, die an den Mindestlohn gekoppelt sind (ca. 18 Millionen Menschen). Die Erweiterung des Sozialprogramms Bolsa Família, sowohl was die Geldmittel als auch was die Reichweite betrifft, kommt fast 50 Millionen Menschen zugute. Das Programm Pronaf, das landwirtschaftliche Familienbetriebe unterstützt, fördert die Nachfrage nach Konsumgütern ebenso wie die Nachfrage nach Produktionsgütern. Das Sozialprogramm Territórios da Cidadania stellt finanzielle Mittel in der Größenordnung von 20 Milliarden Reais zur Verfügung, die direkt den Kommunalverwaltungen der ärmsten Regionen zugute kommen. Andere Programme, wie zum Beispiel Luz para Todos oder Prouni (berufliche Ausbildung), integrieren mehr Menschen in die Wirtschaft und stärken die Binnennachfrage. Das Programm zur Wachstumsbeschleunigung (Programa de Aceleração do Cresci-mento, PAC) wiederum kurbelt die Wirtschaft über Investitionen an, die entweder direkt in Bauprojekte fließen oder indirekt die Zulieferindustrie fördern. Eine weitere große Investition, die auf der Konferenz angekündigt wurde, ist das Programm zum Bau von einer Million Wohnungen, was sich im Wesentlichen an die Nachfrage der sozial schwachen Bevölkerung richtet. Die Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social (BNDES) ist heute mit 168 Milliarden Reais einer der Hauptmotoren für die wirtschaftliche Reaktivierung, sei es durch Großprojekte oder durch direkte Stärkung des Privatsektors. Insgesamt handelt es sich um eine Vision, die in gewisser Weise die in der Krise entstandenen Chancen nutzt. Einkommensverteilung, produktive Kredite und Infrastrukturprojekte entsprechen eindeutig den Erfordernissen des Landes, aber sie verringern auch die Krisenanfälligkeit. In der unteren Etage der Wirtschaft legt niemand sein Geld an und wartet auf den Gewinn; das Geld wird sofort in Umlauf gebracht und verwandelt sich in Konsum, Nachfrage und Beschäftigung. Die Banken, die sich an das Arbeiten mit einem geringen Kreditvolumen, hohem Spread und extrem hohen Gewinnen gewöhnt haben, werden sich nach und nach anpassen müssen.

6. Konvergente wirtschaftliche, soziale und ökologische Strategien schaffen

Es werden plötzlich viele Vorschläge für die Reparatur des Systems gemacht, die nicht in seine Logik eingreifen. Wir wollen deutlich zeigen, dass es in Zukunft anders sein wird, denn wir werden strengere und sparsamere Regierungen haben, die Ergebnisse einfordern werden. Im reformierten System werden Haltung und Ethik einen hohen Stellenwert haben. Und die Gruppen, die für dies alles verantwortlich sind, die übrigens wenig in den Medien erscheinen, wenn es keine Probleme gibt, werden sich sozialverträglich verhalten. Die Vorschläge entstehen auch ohne große institutionelle Basis oder technische Finesse, denn eine Masse von Sparern – von der Mittelklasse aufwärts – ist weltweit durch das Wegschmelzen ihrer Ersparnisse und ihrer Hoffnungen für den Ruhestand direkt betroffen. In dem Maß wie das von Spekulanten geschaffene Finanzchaos die Produzenten von Waren und Dienstleistungen trifft, leidet das ganze Volk unter den Folgen. Innerhalb des Systems gibt es ein klares Bewusstsein der politischen Volatilität der Lage. Folglich werden schnell Vorschläge gemacht. Doch ihre Umsetzung – solange es nicht die Billionen für die großen Bankengruppen sind – folgt einem anderen Rhythmus.

Das systemische Chaos, also der klare Verlust wirtschaftlicher Governance bringt angesichts der Verzweiflung einer riesigen Masse von Menschen, die darunter leiden, ein neues politisches Klima hervor. Es eröffnen sich neue Möglichkeiten, umfassendere Vorschläge auf den Tisch zu legen – Vorschläge für eine Entwicklung, die Hand und Fuß hat. Genauer gesagt, es entsteht ein Raum für Entwicklungsalternativen, und dafür – und dies scheint kein unerreichbares Ziel – dass unser eigenes Geld nützlichen Zwecken dient. Man sollte nicht zu viel träumen – viel von den neuen politischen Spielräumen hängt von der Tiefe der Krise ab, und die ist ungewiss. Und doch ist es wichtig, systemische Alternativen zu finden, denn die kurz- und mittelfristige Strukturkrise, die wir erleiden, steht innerhalb eines breiteren Krisenkontextes, der – vor allem in den Bereichen Gesellschaft, Klima, Energie, Nahrung und Wasser – schon vor der Tür steht.

Die Ideen kommen von Leuten wie Jeffrey Sachs, der vorschlägt, die finanziellen Ressourcen formell an die Umsetzung der Millennium-Ziele zu binden. Laut Stiglitz muss sich die Ressourcenallokation an der Lebensqualität orientieren und nicht nur am sogenannten Bruttoinlandsprodukt. Hazel Henderson weist auf die Bedeutung der Tobin-Steuer hin, einer Steuer auf spekulative internationale Transaktionen zur Finanzierung einer sozial gerechten Entwicklung. Und wie oben schon erwähnt, sieht Ignacy Sachs eine Konvergenz der Finanzkrise und der Energiekrise sowie die Notwendigkeit zu einer systematischen Auseinandersetzung mit unserem Entwicklungsmodell. Es handelt sich hier nicht um übertriebenen Idealismus, sondern um eine nüchterne Bewertung der Herausforderungen vor denen wir stehen.

Dass Menschen, die produktiv waren, ihre Arbeitsplätze verlieren, weil einige Unverantwortliche mit den Spargeldern der anderen Geld verdienen wollen, erzeugt Wut. Der Verlust der Lebensgrundlage von etwa 300 Millionen von der Fischerei lebenden Menschen weltweit, weil die großen Fischereiunternehmen das Leben in den Meeren auslöschen, schafft weitere politische Irritation. Das Klimachaos zeigt erste Zeichen seines Potenzials und bringt noch mehr Verzweiflung, aber sorgt auch für ein zunehmendes Bewusstwerden. Die Verschmutzung des Süßwassers durch übermäßigen Chemieeinsatz, schreiende Mängel in der Wasserversorgung und -entsorgung und die Erschöpfung des Grundwassers führen zu einer Reihe von Krisen in diesem Bereich: Die Ausmaße erstecken sich von der Reduzierung der Fischgründe, über die Tragödie von 1,8 Millionen Kindern, die jährlich sterben, weil sie keinen Zugang zu sauberem Wasser haben, bis hin zur Bedrohung der ländlichen Gebiete, die von einer zweiten Ernte mit Bewässerung abhängen. Die Krise auf ihre finanziellen Dimensionen zu beschränken, ist eine radikale Vereinfachung der Herausforderungen. Die gegenwärtige Verschwendung finanzieller Ressourcen ist niederschlagend. In einem Bericht der Vereinten Nationen heißt es »gemessen in der Kaufkraftparität des Jahres 2000 betragen die Kosten für die Beseitigung der extremen Armut – d.h. der nötige Betrag, um eine Milliarde Menschen über die Armutsgrenze von 1 US$ pro Tag zu heben –, 300 Milliarden US$«19. In Wirklichkeit ist es so, dass der Grenznutzen des Geldes – im Sinne seiner Fähigkeit, Lebensqualität zu schaffen – umso schneller sinkt je höher das Einkommen steigt. Mit anderen Worten, je mehr Ressourcen zu den Menschen mit niedrigem Einkommen gelangen, desto größer der Nutzen. Nüchtern gesagt, bringen sie einen höheren Ertrag. Es macht Sinn weltweit ein Mindesteinkommen sicherzustellen, denn es ist eine einfache Art und Weise mit den heutigen Technologien den realen Wert der Ressourcen zu erhöhen. Darüber hinaus werden die Ressourcen, die an der Basis der Pyramide ankommen, zu effektiver Nachfrage und nicht zu Spekulation führen und stimulieren so die Produktion und die Beschäftigung. Die systemische Produktivität der Ressourcen selbst erhöht sich. Die Lösung, die es erlaubt, gleichzeitig die sozialen Tragödien, die ökologischen Herausforderungen und die Rationalität bei der Verwendung von wirtschaftlichen Ressourcen anzugehen, liegt darin, eine schlüssige Antwort auf die dringendsten Bedürfnisse an der Basis der Pyramide zu finden. Wir leben in einer Epoche der Verschwendung. Es ist an der Zeit, unsere Ressourcen produktiver zu nutzen.

Alternativen entstehen nicht über Nacht. Einige Maßnahmen liegen auf der Hand und werden bereits umfassend erörtert: Dazu gehören unter anderem die Steueroasen zu kontrollieren, Spekulationsgeschäfte zu besteuern, Kontroll- und Steuerungssysteme für die Finanzintermediäre zu schaffen, die eigentliche Tätigkeit der Banken wieder vom Investment Banking zu trennen und lokale Finanzsysteme aufzubauen. Aber aus einer umfassenderen Sicht müssen wir uns darüber bewusst sein, dass wir vor dem Aufbau einer ganz neuen Institutionalität stehen. Der Planet überlebt nicht – und noch weniger der kurioserweise Homo sapiens genannte Zweibeiner – ohne umfassende Zusammenarbeit, langfristige Visionen, Planungen und systemische Interventionen. Der Staat muss wieder eine führende Rolle spielen, nicht mehr als Retter unverantwortlicher Unternehmen, sondern als Motor einer gerechteren und nachhaltigeren Entwicklung mit einer starken Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sondern notwendig. Die Herausforderung für die progressive Welt ist es, die Chancen zu nutzen, die uns die Finanzkrise eröffnet, um systematisch über Alternativen nachzudenken. Wir müssen zeigen, dass man anders managen und verwalten kann.

Ist das machbar? Leider ist das nicht das Problem. Die Maßnahmen müssen auch umgesetzt werden. Die globale Erwärmung, zum Beispiel, existiert und es geht nicht um die Frage, ob wir etwas dagegen tun wollen oder nicht, sondern wie das geschehen soll. Die Finanzkrise bietet nur eine Chance – sie ist keine Garantie –, dass wir es schaffen, eine Konvergenz jener gesellschaftlichen Kräfte zu Stande bringen, die an einer wirtschaftlich minimal machbaren, sozial ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung interessiert sind.

Schlussbemerkungen

In der vorliegenden Studie haben wir eine Reihe von Ansichten geordnet, die sechs Herausforderungen betreffen, die sich – wie uns scheint – aus der laufenden Diskussion ergeben. Die ökologische Herausforderung und das energetisch-produktive Paradigma, die Tragödie der Ungleichheit, die Rolle des Staates, die Neuausrichtung der Kreditvergabe einschließlich produktiver Kredite und schließlich die Konvergenz der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Triebkräfte. Die Diskussion wird heute weltweit geführt. Wir alle suchen eine Richtung, eine konstruktive Vision, bei der die Schlüsselprobleme wirklich in der Absicht angegangen werden, sie zu lösen.

  • 1. Diese Abbildung ist auch online verfügbar unter http://dowbor.org/ar/ns.doc. Den vollständigen Artikel finden Sie unter www.newscientist.com/opinion, die unterstützenden Tabellen und Primärquellen sind unter http://dowbor.org/ar/08_ns_overconsumption.pdf zu finden. Zur Entstehung des Artikels trugen Tim Jackson, David Suzuki, Jo Marchant, Herman Daly, Gus Speth, Liz Else, Andrew Simms, Suzan George und Kate Soper bei.
  • 2. New Scientist, Titel 18.10.2008, S. 40.
  • 3. Zu diesem Thema gibt es umfangreiche Literatur: Beim Champagnerkelch (siehe Abbildung 2) hat sich nur der Stiel verdünnt, erhebliche Veränderungen sind nicht eingetreten. Eine ausgezeichnete Analyse der jüngsten Verschärfung dieser Zahlen findet sich in dem Bericht Report on the World Social Situation 2005, The Inequality Predicament, United Nations, New York, 2005; Weltbank: The Next 4 Billion (ifc, Washington, 2007). Es wird geschätzt, dass 4 Milliarden Menschen, nicht von den Vorteilen der Globalisierung profitieren können, dies ist auch interessant, wir reden hier von über zwei Drittel der Weltbevölkerung. Für eine umfassendere Analyse des Prozesses vgl. Ladislau Dowbor: Democracia Econômica, Vozes, Petrópolis, 2008, sowie den Artikel «Inovação Social e Sustentabilidade», beide sind online unter http://dowbor.org zu finden.
  • 4. «A Special Report on the Future of Finance» in The Economist, 24.1.2009, S.20.
  • 5. Ebd.
  • 6. Ebd. S. 22. Der Ausdruck »spekulative Investoren« (speculative investors), der vom Economist verwendet wird, ist interessant, da er das Unbehagen des Economist zeigt, der die finanzielle Spekulation als Faktor des Kapitalflusses stets unterstützte und, wie Greenspan und andere, den Diskurs jetzt neu anpassen muss.
  • 7. ipea: «Pobreza e Riqueza no Brasil Metropolitano», Comunicado da Presidência Nr. 7, August 2008, S. 11, verfügbar unter www.ipea.gov.br/sites/000/2/comunicado_presidencia/ReducaoPobreza_CPresi7.pdf.
  • 8. Dieser Vorgang ist global. In den Industrieländern ist das durch Arbeit erzielte Einkommen des Staatseinkommens von 68% im Jahr 1980 auf 62% im Jahr 2005 gesunken (Quelle: imf: Finance and Development, 6/2007, S. 21); in Brasilien sprechen wir von einem Anteil, der zwischen 1995 und 2004 stark abgenommen hat, wobei der Vergleich aufgrund der neuen Methodologie im Jahr 2001 schwierig ist. Dies betrug bereits 45%. Im 1999 waren es 38,3%, im Jahr 2006 gab es durch die Politik der derzeitigen Regierung eine leichte Erholung auf 40,9%.
  • 9. George Schieber, Lisa Fleisher und Pablo Gottret: «Gettting Real on Health Financing» in Finance and Development Vol. 43 Nr. 4, 12.2006, www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2006/12/schieber.htm.
  • 10. The Economist, 14-20.3.2009, S. 37, es werden Angaben aus Newsweek zitiert.
  • 11. S. Pesquisa Mensal de Juros [monatliche Studie zur Zinsentwicklung], www.anefac.com.br/m3_preview.asp?cod_pagina=10782&cod_idm=1.
  • 12. ipea: «Transformações na Indústria Bancária Brasileira e o Cenário de Crise», Comunicado da Presidência Nr. 20, April 2009, S. 15, verfügbar unter www.ipea.gov.br/sites/000/2/pdf/09_04_07_ComunicaPresi_20_Bancos.pdf.
  • 13. Nach einer Branchenstudie, die von der Tageszeitung Estado de S. Paulo veröffentlicht wurde, waren »[die Ausgaben für Zinszahlungen] im Durchschnitt zwischen Oktober und Dezember, der schärfsten weltweiten Krise, die die Finanzierungskosten ansteigen ließ, (…) 11% höher als die Ausgaben für Löhne und Gehälter«. Quelle: eine Studie des Industrieverbands des Bundesstaates São Paulo (fiesp) über Ausgaben der brasilianischen Industrie für Zinszahlungen (O Estado de S. Paulo, 2.2.2009, die vollständige Studie ist verfügbar unter www.fiesp.com.br/competitividade/downloads/fiesp_Custo_Capital_Competitividade_090130.pdf). Die Gewinne einer Gruppe, der Bradesco, lagen bei 7,6 Milliarden Reais im Jahr 2008, wohingegen das Budget für das brasilianische Sozialprogramm Bolsa Família, von dem 48 Millionen profitieren, 11 Milliarden vorsieht. Der »Assistencialismo« liegt offensichtlich nicht dort, wo man von ihm spricht. Sogar eine Person wie Marcos Cintra protestiert gegen das Bankenkartell in Brasilien und die skandalösen Spreads. Siehe M. Cintra: «It’s the Spread, Stupid» in Folha de São Paulo, 2.2.2009, S. 3.
  • 14. Diese Vorschläge sind weithin bekannt, doch werden sie durch ein opportunistisches Argument gebremst: Die hohen Zinsen würden uns vor der Inflation schützen. Zur Widerlegung dieses Arguments siehe die Artikel von Paul Singer und von Amir Khair.
  • 15. iwf: Finance and Development 6/2007, S. 44.
  • 16. ibge: Economia Informal Urbana, ibge, Rio de Janeiro, 2005, S. 29-30.
  • 17. «Consumo Interno de Ativação da Economia» in Estado de São Paulo, 1.3.2009.
  • 18. «America’s Fiscal Collapse» in Global Research, 3.3.2009, S. 2.
  • 19. «Measured in 2000 purchasing power parity terms, the cost of ending extreme poverty – the amount needed to lift 1 billion people above the $1 a day poverty line – is $300 billion.» undp: Human Development Report 2005, ebd., S. 38. Zum Mindestlohn und seiner Universalisierung s. die Arbeiten von Eduardo Suplicy, insbesondere Renda de Cidadania, Cortez / Perseu Abramo, São Paulo, 2006.
Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2009, ISSN: 0251-3552


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