Artículo
NUSO Nº Januar 2007

Boliviens wirtschaftliche Optionen nach dem Neoliberalismus

Zusammenfassung | Die Verstaatlichung von Erdgas und Erdöl bildete die wichtigste wirtschaftspolitische Entscheidung der Regierung von Evo Morales, erhöhte die Staatseinnahmen und ließ das BIP auf über 10 Mrd. Dollar ansteigen. Diese Maßnahmen sind aber bei weitem noch nicht ausreichend. Bolivien wechselte in der Vergangenheit bereits mehrmals seine Wirtschaftsordnung. Dabei rückte das Land jedoch nie von einem Entwicklungsmodell ab, das auf der Ausbeutung von Bodenschätzen beruht – sei es unter dem Vorzeichen des Staatsinterventionismus oder des Neoliberalismus. Bolivien steht nach Abschluss der neoliberalen Phase vor der Herausforderung, seine Wirtschaft auf eine breitere Basis zu stellen, die mehr Akteure einbezieht, den Exportsektor diversifiziert sowie die internen und externen Wirtschaftsakteure stärker miteinander verkettet.

Boliviens wirtschaftliche Optionen nach dem Neoliberalismus

Die bolivianische Volkswirtschaft macht ähnlich wie die Gesellschaft und das politische System des Landes einen tiefen Wandel durch. Im Mai 2006 wurde mit der Verstaatlichung von Erdgas und Erdöl ein neuer Wirtschaftszyklus eingeleitet. Mit der parlamentarischen Bewilligung von 44 neuen Verträgen mit 12 multinationalen Konzernen wurde dieser bis April 2007 konsolidiert. Allerdings hat das Land noch eine Reihe von Problemen zu lösen, die nur zum Teil mit den Verstaatlichungen in Verbindung stehen. Nach dem Ende der neoliberalen Politik steht die bolivianische Wirtschaft vor zahlreichen Herausforderungen: Wie kann eine Wirtschaftsordnung geschaffen werden, die die Erdgaswirtschaft konsolidiert und zugleich die Basis für eine Wirtschaft bereitstellt, die auch über diese hinaus Arbeitsplätze schafft und Einkommen sichert? Wie kann verhindert werden, dass sich die Jahrhunderte langen Erfahrungen mit der Ausbeutung von Silber, Zinn und anderen Bodenschätz en auch in der boomenden Erdgasbranche wiederholen, und wieder einmal die Erträge den wirtschaftlichen Eliten zugute kommen, während am unteren Ende der Pyramide Armut verteilt wird? Wie kann man die Armut in einem Land reduzieren, das in diesem Jahr zwar um 4 Prozent wächst, in dem aber zugleich die Anzahl der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen um 130.000 ansteigt? Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die sich abzeichnende neue Wirtschaftsordnung, die auf eine Verstaatlichung einzelner Sektoren setzt, auch einen Beitrag zur Umsetzung eines neuen Entwicklungsmodells leisten muss.

Die Herausforderungen nach Ende der neoliberalen Phase bestehen darin, über die theoretische Debatte zur Zukunft des Konsenses von Washington hinauszugehen und eine Wirtschaftsordnung umzusetzen, die systematisch Tausende von kleinen und mittleren Unternehmern im informellen Sektor mit wettbewerbsfähigen Akteuren der neuen Ökonomie ermöglicht, und dem Weltmarkt verbindet und dabei vor allem auf nicht traditionelle Exporte mit hohem Mehrwert, auf Marktnischen (wie etwa den Handel mit Bioprodukten) und auf Fair Trade-Initiativen setzt. Diese Herausforderungen zu meistern würde bedeuten, ein neues, den Anforderungen einer kleinen aber dynamischen Wirtschaft wie der Boliviens gerecht werdenden Entwicklungsmodells zu schaffen.

Das neue Modell: Verstaatlichung von Erdgas und Erdöl

Vor einer tieferen Analyse der Wirtschafts- und Entwicklungsmodelle soll eingangs die »Nationalisierung« der fossilen Energieträger beschrieben werden. Das Verstaatlichungsprojekt wurde über zwei gesetzliche Regelungen konkretisiert: durch das Gesetz 3058 vom Juli 2005 und das Präsidialdekret 28701 vom Mai 2006. Es ist bereits das dritte Mal in den letzten hundert Jahren, dass Bolivien Erdöl und Erdgas verstaatlicht: Zuvor wurde bereits 1937 die Produktion der Standard Oil und 1969 die der Gulf Oil verstaatlicht. Im Gegensatz zu den Maßnahmen der Vergangenheit handelt es sich nun jedoch um eine »Nationalisierung«, die auf eine Enteignung des Besitzes der multinationalen Konzerne verzichtet.

Die zwischen den Unternehmen und der Regierung ausgehandelten und im April 2007 vom Kongress gebilligten Verträge stellen eine Kombination aus Verträgen über eine gemeinsame Förderung und Vereinbarungen über einen Betrieb durch oder einen Zusammenschluss mit der staatlichen Erdgas- und Erdölgesellschaft Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) dar. Die staatliche Gewinnbeteiligung wird mittels eines Verfahrens festgelegt, das dem in Peru angewandten »Faktor R« ähnelt. Der Staat erhält dabei einen Anteil am Ertrag aus der Erdölgewinnung, nachdem die private Betreibergesellschaft ihre laufenden Betriebs- und Kapitalkosten gedeckt hat.

Nach den neuen Bestimmungen ist der Staat wie folgt beteiligt: Er erhält Royalties in Höhe von 18 Prozent des an einem bestimmten Messpunkt festgelegten Gaspreises und eine direkte Steuer - Impuesto Directo de Hidrocarburos - in Höhe von 32 Prozent. Die Betriebskosten des Förderunternehmens werden zu einem jeweils im Einzelfall vereinbarten Prozentsatz vom Verkaufspreis abgezogen und der Gewinn zwischen dem Betreiber und der staatlichen YPFB aufgeteilt. Dabei findet eine Formel Anwendung, die die Investitionen und Abschreibungen, den Verkaufspreis des Gases und das Produktionsvolumen berücksichtigt. So schwankt der Staatsanteil zwischen 65 Prozent des Bruttoproduktionswertes bei einem Preis von einem US-Dollar pro Million BTU und 75 Prozent, wenn der Preis pro Million BTU auf 4,5 US-Dollar steigt. Er liegt somit etwas über den im Gesetz 3058 vorgesehenen 50 Prozent und etwas unter den im Verstaatlichungsdekret festgelegten 82 Prozent.

Das bolivianische Verstaatlichungsmodell weist ein Jahr nach seiner Einführung zwei positive Aspekte auf. Zum einen konnte die bolivianische Volkswirtschaft im Jahr 2006 beim Bruttoinlandsprodukt die Schwelle von 10 Mrd. US-Dollar überschreiten, wovon 2 Mrd. Dollar auf Exporte des Erdgas- und Erdölsektors entfielen. Zum anderen stiegen 2006 die Haushaltseinnahmen aus Steuern und dem Direktverkauf von Erdgas auf über 1,6 Mrd. Dollar, womit erstmals seit 20 Jahren die Steuereinnahmen des Landes ein Dreifaches der Hilfeleistungen ausmachen, die Bolivien im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit erhält. Bolivien gehört zur Gruppe hoch verschuldeter Entwicklungsländer, die von der sog. HIPC-Initiative (Heavily Indebted Poor Countries) profitieren können und nun die historische Chance haben, ihre Abhängigkeit von Hilfeleistungen des Auslands schrittweise abzubauen.

Als Nachteile des Verstaatlichungsmodells sind drei Aspekte hervorzuheben. An erster Stelle, dass die Dynamik der Erdgaswirtschaft derzeit stärker vom Preiseffekt denn vom Produktions- bzw. Produktivitätseffekt abhängt. 2006 lagen die Durchschnittspreise bei den Erdgasexporten um den Faktor 5,4 über dem Preisniveau von vor acht Jahren, und um das Dreifache über dem der Preise von vor drei Jahren. Und obgleich sich die Preise weiterhin auf einem hohen Niveau bewegen, ist der aktuelle Boom durchaus der Gefahr einer Verlangsamung der Preisentwicklung bzw. eines starken Rückgangs der regionalen und internationalen Erdgaspreise ausgesetzt. Zweitens erscheint eine Ausweitung der Investitionen für Projekte zur Exploration und Förderung von fossilen Brennstoffen in den kommenden Jahren keineswegs gesichert. Die neuen Verträge, die eine Steigerung der Exporte nach Argentinien und Brasilien vorsehen, erfordern eine gewisse Sicherheit über die Ausweitung der Investitionen, zu der sich bisher weder Petrobras noch Repsol verpflichtet haben. Und zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass Bolivien sein Engagement auch auf Märkte in Übersee erweitern muss, wenn die Spannungen auf dem internationalen Energiemarkt anhalten. Dies würde die Entwicklung einer energiepolitischen Integration in den Staaten des Cono Sur implizieren, und zugleich verbesserte Verbindungen zu Häfen für die Verflüssigung und Regasifizierung am Pazifik und Atlantik erfordern.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Verstaatlichungen kurzfristig positiv auswirken, da sie die Konsolidierung eines Motors für die wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen, der die im 20. Jahrhundert für die Belebung eines Großteils der bolivianischen Wirtschaft verantwortliche Zinnproduktion ersetzt. Problematisch ist jedoch, dass die derzeitige Strategie viele Fehler der Vergangenheit wiederholt, da sie auf nur einen Motor und damit auf ein Entwicklungsmodell mit schmaler Basis setzt. Um den Übergang von einem alten zu einem neuen Entwicklungsmodell zu schaffen und die bolivianische Wirtschaft auf eine breitere Basis zu stellen, müssen Märkte diversifiziert und die Anzahl der Wirtschaftssubjekte deutlich vergrößert werden.

Das überkommene Entwicklungsmodell: eine Wirtschaft mit schmaler Basis

Warum reicht es nicht aus, auf einen verstaatlichten Erdgassektor zu setzen? Worin besteht ein Entwicklungsmodell auf schmaler Basis und inwieweit beeinträchtigt es die Entwicklung der bolivianischen Wirtschaft? Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt in einem ersten Schritt mit einem Blick in die bolivianische Wirtschaftsgeschichte und schließlich anhand einer Auflistung der aktuellen Konsequenzen der wirtschaftlichen Konzentration. Dabei vertreten wir die These, dass Bolivien weiterhin eines der ärmsten, von sozialen Disparitäten gekennzeichnetes Land bleiben wird, wenn sich kein Entwicklungsmodell durchsetz, das die engen Grenzen der liberalen, nationalistischen oder Mischvarianten des Modells überwindet.

Worin unterscheidet sich eine Wirtschaftsordnung von einem Entwicklungsmodell? Warum ist es wichtiger, das Entwicklungsmodell zu ändern als ständig über die ideologische Ausrichtung des Wirtschaftssystems zu diskutieren? Unter dem Entwicklungsmodell verstehen wir die Art und Weise, wie die Produktionsfaktoren einer Ökonomie in einem Umfeld von Wettbewerbsvorteilen und Wettbewerbsnachteilen funktionieren, miteinander verbunden sind, zusammenarbeiten oder sich blockieren und dabei die Produktion beleben oder aber hemmen. Das Entwicklungsmodell beschreibt sowohl die vorhandenen Produktionsfaktoren (Kapital, Technologien, Arbeitskräfte, Rohstoffe) als auch die Form der Integration in internationale Märkte (Grad der Marktöffnung und der Handelsliberalisierung, Suche von Marktnischen mit Wettbewerbschancen). Die Wirtschaftsordnung gibt demgegenüber den Rahmen vor, in dem das Entwicklungsmodell implementiert wird. Es kann von einem starken, interventionistischen Staat umgesetzt werden, unter einer Perspektive, die den Marktkräften mehr Spielraum lässt, oder aber in einer Mischform, die staatliche Intervention mit den Marktkräften kombiniert. Die Wirtschaftsordnung ist die Form, wohingegen das Entwicklungsmodell den Inhalt, die Substanz bereitstellt.

Bolivien hat bereits mehrmals seine Wirtschaftsordnung geändert, dabei jedoch niemals versucht, auch sein Entwicklungsmodell zu transformieren. Zwischen 1900 und 1920 war die Entwicklungsstrategie unter dem Vorzeichen des Liberalismus stark von der Zinnproduktion abhängig, so wie sie vorher vorwiegend auf Silber, Kautschuk oder Paranüsse ausgerichtet war. Im Jahr 1937 wurde mit der Enteignung der Standard Oil und der Gründung des Staatskonzerns YPFB zwar eine Tendenz zugunsten von Verstaatlichungen eingeleitet, nicht jedoch die Fokussierung auf den Rohstoffabbau überwunden. Ein zweites bedeutendes Datum stellt das Jahr 1952 mit der Nationalisierung des Zinnsektors und der Gründung der staatlichen Bergbaugesellschaft Comibol dar. In den 60er Jahren wendete sich der Trend wieder in Richtung Liberalismus und begünstigte neue Privatinvestitionen im Bergbau, im Erdgas- und im Erdölsektor, bis dann im Oktober 1969 mit der Verstaatlichung der Gulf Oil das letzte Kapitel der staat-lichen Intervention zugunsten eines auf Monoproduktion ausgerichteten Modells besiegelt wurde. Zwischen 1985 und 2005 eröffneten sich neue, leider ungenutzte Chancen für eine Diversifizierung der Wirtschaft und eine Verbreiterung der Unternehmerbasis in wettbewerbsfähigen Sektoren. Mit der Verabschiedung des Gesetzes über fossile Brennstoffe (Ley de Hidrocarburos) im Jahr 2005 und des damit einhergehenden »Erdgasmodells« wurde ein neuerlicher Wandel in der Wirtschaftsordnung eingeleitet, die jedoch weiterhin auf das bestehende Entwicklungsmodell mit seiner Rohstofforientierung setzt.

Ungeachtet der Aktivitäten der Staatsbetriebe Comibol und YPFB, der neuen Investitionsgesetze und der Privatisierungen kann festgestellt werden, dass die bolivianische Volkswirtschaft weiterhin einen Großteil ihrer Anstrengungen auf die Ausbeutung und Nutzung eines begrenzten Spektrums an Rohstoffen konzentriert. Es besteht also weiterhin ein Modell, das sich unter verschiedenen ordnungspolitischen Vorzeichen auf den Export einer begrenzten Anzahl von Produkten beschränkt, zumeist auf Rohstoffe.

Das offensichtlichste Resultat eines langfristig auf eine Monoproduktion ausgerichteten Entwicklungsmodells besteht in einer Ökonomie auf einer »schmalen Basis«. Darunter verstehen wir eine besondere Form der Produktionsstruktur. In Bolivien sind 83 Prozent der Erwerbstätigen des verarbeitenden Gewerbes in Familienbetrieben, Kleinstbetrieben mit weniger als fünf Mitarbeitern oder bäuerlichen Betrieben beschäftigt. Dieser Sektor bringt jedoch nur 25 Prozent der Einkommen. Demgegenüber erwirtschaften die nur 7 Prozent der Erwerbstätigen in Betrieben mit mehr als 50 Angestellten 65 Prozent der Einkommen. Diese doppelte Pyramide trennt Beschäftigung von Einkommen. Dazwischen befinden sich mittlere Betriebe, die etwa 10 Prozent der Arbeitskräfte beschäftigen und 10 Prozent des Gesamteinkommens erzeugen.

Dieses Entwicklungsmodell auf schmaler Basis muss aus drei Gründen umgestaltet werden. Ein erster zentraler Grund ist das historisch betrachtet niedrige Wachstum der bolivianischen Volkswirtschaft (siehe Abbildung 1). Trotz stabiler wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und einer die Konjunktur belebenden Phase wirtschaftlicher Öffnung war Bolivien nicht in der Lage, der Entwicklung des Landes den notwenigen Impuls zu geben und die Armut zu bekämpfen. Die durchschnittliche Wachstumsrate belief sich zwischen 1950 und 2005 auf 2,8 Prozent, was einem Pro-Kopf-Wachstum von 0,5 Prozent entspricht - angesichts der enormen sozioökonomischen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten ein äußerst niedriger Wert. Bolivien verzeichnete zudem in den vergangenen 20 Jahren niedrigere Wachstumsraten als in den 60er und 70er Jahren. Dafür verantwortlich sind Faktoren wie Fluktuationen bei den Terms of Trade, eine niedrige Produktivität, die negativen Folgen des fehlenden Zugangs zum Meer, eine extreme Finanzknappheit und die damit einhergehende hohe Verschuldung, sowie eine niedrige Sparquote, die die Kluft zwischen Ersparnisbildung und Investitionsbedarf noch erhöht.

Der zweite Grund besteht in der hohen Konzentration einiger weniger Exportprodukte. 2006 entfielen 49 Prozent der Exporte auf Erdgas und Erdöl und 19 Prozent auf den Bergbau. Aufgrund der begrenzten Größe Boliviens ist die Weltmarktintegration von entscheidender Bedeutung für das Wirtschaftswachstum des Landes. Diese muss gewährleisten, dass der Beitrag der Exporte am Wirtschaftswachstum konstant bleibt und nicht in Abhängigkeit der Entwicklung der Außenkonjunktur ständigen Schwankungen unterliegt. Historisch betrachtet ist es Bolivien weder gelungen, den Wert seiner Exporte zu erhöhen, noch sein Produktangebot zu diversifizieren. Zwar zeigt die Entwicklung der Exportstruktur mit der Zunahme der nicht-traditionellen Exportgüter seit Mitte der 90er Jahre substantielle Veränderungen, das zugrunde liegende Modell blieb jedoch unverändert.

Der dritte Grund für einen entwicklungspolitischen Kurswechsel sind die anhaltende Armut, Ungleichheit und geringe soziale Mobilität. Das Wachstum ist nicht in der Lage, einen Trickle-down-Effekt zu erzeugen, der es Bolivien ermöglichen würde, seinen Platz unter den Ländern mit der höchsten Armutsrate und den größten sozialen Disparitäten in Lateinamerika zu verlassen. Laut Ergebnissen einer Umfrage über die Verbesserung der Lebensbedingungen im Rahmen des Mecovi-Programmes (2005) rutschen Jahr für Jahr 174.419 Menschen unter die Armutsgrenze. Im Zeitraum von 1999 bis 2002 verzeichnete die Wirtschaft eine durchschnittliche Wachstumsrate von 1,76 Prozent, die in Armut lebende Bevölkerung wuchs jedoch von 5 auf 5,5 Millionen Personen. 3,5 Millionen in extremer Armut. Schätzungen zufolge wäre ein Wirtschaftswachstum von 6 Prozent erforderlich, um dieser demografische Entwicklung entgegen zu wirken. Da die tatsächliche Wachstumsrate deutlich unter diesem Wert liegt und der Gini-Koeffizient 0,614 beträgt, kann das bolivianische Wachstumsmodell als eindeutig armutsfördernd bezeichnet werden. Eine Berechnung auf der Grundlage von Prognosen zum demografischen und wirtschaftlichen Wachstum kommt zu dem Ergebnis, dass Bolivien bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Wachstum von 0,3 Prozent etwa 178 Jahre brauchen würde, um die Armut zu überwinden. Mit anderen Worten, unter diesen Voraussetzungen werden auch die kommenden neun Generationen in Bolivien in Armut leben. Zudem ist die soziale Mobilität in Bolivien stark eingeschränkt, was Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zur Förderung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums erschwert.

Eine neue Wirtschaftsordnung für ein neues Entwicklungsmodell

Wie können die historischen gewachsenen Abhängigkeiten Boliviens überwunden und zugleich die Chancen genutzt werden, die das neue Verstaatlichungsmodell eröffnet? Die Antwort findet sich im Aufbau einer diversifizierten Wirtschaft, die sich zum einen den Herausforderungen der Verknüpfung von externer und interner Wirtschaft stellt und zugleich versucht, das Problem der unzureichenden Cluster-Bildung von Tausenden von Wirtschaftssubjekten zu beheben. Bolivien benötigt eine neue Wirtschaftsordnung und eine neue Entwicklungsstrategie, um eine Form von Wirtschaftswachstum zu überwinden, die statt Wohlstand mehr Armut erzeugt. Erste Ansätze hierzu sind glücklicherweise bereits erkennbar.

Eine kürzlich erschienene Untersuchung typisiert die bolivianische Ökonomie hinsichtlich ihrer strukturellen Heterogenität. An erster Stelle steht, dass die bolivianische Wirtschaft in den letzten 50 Jahren durchschnittlich ein reales Pro-Kopf-Wachstum von nur 0,5 Prozent auswies, also stagnierte. Zweitens befinden sich unter den gängigen Ursachen für die niedrigen Wachstumsraten strukturelle Probleme – wie etwa die Binnenlage, die markanten geografischen Unterschiede im Land, die unzureichende Qualifikation der Arbeitskräfte und bürokratische Hindernisse –, die zu einer landesspezifisch bedingten Verteuerung der Exporte führen und sich damit wachstumshemmend auswirken. Schließlich gilt trotz dieser Einschränkungen, dass – verwendet man die internationale Warennomenklatur SITC – in den vergangenen 20 Jahren etwa 156 Warengruppen ihre Position auf dem Weltmarkt verbessern konnten und 23 Warengruppen ihre Führungsposition auf dem Weltmarkt durchgehend behaupten konnten.

Was zeichnet diese Wachstumsbranchen aus? Neben dem Erdgas gibt es mindestens drei weitere Bereiche mit ökonomischen Verflechtungen in der bolivianischen Wirtschaft. Der erste findet sich im Bereich der Exporte von Commodities, also von homogenen Rohstoffen wie Soja und anderen Ölfrüchten. Hier bildet sich eine Verzahnung mit kleinbäuerlichen Wirtschaftsformen her aus, wobei jedoch die Wettbewerbsfähigkeit mehr auf billigen Rohstoffen und Arbeitskräften, als auf technologischem Wandel und Wertschöpfung beruht. Die entsprechenden Branchen verzeichneten 2006 ein Exportvolumen von ungefähr 371 Millionen Dollar. Einen zweiten Typ der Verkettung von Produktionsprozessen bilden die nicht-traditionellen Exporte mit Preisvorteilen, darunter Schmuck, Lederwaren und Tropenhölzer, also Produkte, die auch eine Verflechtung mit – der (städtischen) – informellen Wirtschaft fördern und in einzelnen Bereichen der Exportkette eine zusätzliche Wertschöpfung ermöglichen. Diese Sparte verbuchte im Jahr 2006 Ausfuhren in Höhe von 534 Mio. Dollar. Der dritte Typ wirtschaftlicher Verflechtung beruht auf nicht-traditionellen, qualitätsorientierten Exporten, wie etwa auf der Möbelfabrikation, hochwertigen Schmuckartikeln, Lebensmitteln aus biologischem Anbau und Fair Trade-Produkten, die Mehrwert erzeugen und eine horizontale und vertikale Verflechtung von Produktivprozessen begünstigen. Mit einem Exportvolumen von 174 Mio US-Dollar im Jahr 2006 nehmen sich diese Nischensegmente noch relativ klein aus, besitzen jedoch durchaus Potential für eine künftige Expansion.

Die Frage ist daher also nicht, wie ein Wachstum der bolivianischen Wirtschaft erreicht werden kann. So gesehen führt uns die Frage zu einer Überprüfung von Ansätzen, die auf der langsamen und komplexen Konvergenz von Wettbewerbsfaktoren gegenüber den Nachbarstaaten und Industrienationen beruhen. Die entscheidende Frage ist: Weshalb wachsen bestimmte Wirtschaftsbranchen, obwohl sie mit den gleichen strukturellen Hindernissen zu kämpfen haben wie die übrigen? Dieser Ansatz würde einen Brückenschlag zwischen einem neuen Modell, das Überschüsse aus der Erdgaswirtschaft für Investitionen und Transferleistungen nutzt, und einer Entwicklungsstrategie ermöglichen, die langfristig Arbeitsplätze und Einkommen für die benachteiligten Bevölkerungsschichten schafft.

Nach dem Neoliberalismus: drei Herausforderungen für die politische Agenda

Der Übergang von einer Ökonomie auf schmaler Basis, die ausschließlich auf den Export von Erdgas setzt, zu einer diversifizierten Wirtschaft mit breiter Basis und einer großen Anzahl von Wirtschaftssubjekten und wettbewerbsfähigen Produkten erfordert die Formulierung und Umsetzung einer politi-schen Agenda, die weder den statischen Staatsinterventionismus der 50er und 60er Jahre noch die laissez faire-Politik der 80er und 90er Jahre wiederholt. In einer derartigen Agenda müssen sowohl die Weltmarktintegration als auch die Schaffung von Arbeitsplätzen im unteren Einkommensbereich einen hohen Stellenwert haben. Bolivien bietet sich heute eine historische Gelegenheit, in beiden Bereichen Fortschritte zu erzielen und die Hindernisse aus der Vergangenheit zu überwinden. Dazu muss das Land jedoch drei Herausforderungen bewältigen.

Die erste besteht darin, mit drei Geschwindigkeiten am Aufbau einer diversifizierten Wirtschaft »auf breiter Basis« zu arbeiten, die die natürlichen Ressourcen schützt und der Produktion einen besonderen Herkunftsstempel aufdrückt. Bolivien kann von seiner strukturellen Heterogenität profitieren. Dazu gilt es, eine Agenda zu entwickeln und umzusetzen, die differenzierte Maßnahmen für die verschiedenen Wirtschaftsbereiche (alternative Industrialisierung und internationale Marktintegration), sowie allgemein zur Reduzierung der landesspezifischen strukturellen Strukturprobleme (Transportwesen, Integration, Bildung von Humankapital) und der damit verbundenen kostentreibenden Faktoren umfasst.

Spezifische Prioritäten zum Umweltschutz, zur Förderung interkultureller Identität bei Produktion und Vermarktung wie auch zur Verbesserung der Entwicklungschancen an der wirtschaftlichen Basis müssen sich nicht per se widersprechen. Im Gegensatz zu den Nachbarstaaten kann sich Bolivien den Luxus erlauben, einzelne Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung zu »überspringen«. Man muss nicht untätig 178 Jahre verstreichen lassen, bis per Trickle-down-Effekt der wirtschaftliche Wohlstand bis zu den ärmsten Bevölkerungsschichten durchsickert, und auch keine 70 Jahre, bis sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit dem europäischen Durchschnitt an-nähert. Der Aufbau einer aufstrebenden Wirtschaft für das 21. Jahrhundert kann jederzeit beginnen.

Die zweite Herausforderung besteht in der Intensivierung der Beziehungen zwischen den informellen Kleinbetrieben und den exportierenden Unternehmen, um Wertschöpfungsketten gleichberechtigter Produzenten aufzubauen, wo bisher Ungleichheit vorherrscht. Die kritische Masse der »Wirtschaft jenseits des Erdgassektors« beträgt derzeit etwa 330.000 Arbeitskräfte, also etwa 10 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Diese kritische Masse verbindet das zentrale Hochland mit dem tropischen Tiefland, den Norden mit dem Süden – jene, die Rohstoffe liefern mit denen, die etwa zehn Produktgruppen industriell verarbeiten. Die Verbreiterung dieser Basis an Wirtschaftssubjekten hängt davon ab, welche wirtschaftlichen Verflechtungen und Beziehungen die bolivianische Wirtschaft in Zukunft bevorzugt fördern wird.

Das Dilemma bei der Schaffung neuer Verflechtungen zwischen dem kleinbetrieblichen, informellen Sektor und der Exportwirtschaft hat nichts mit dem politischen Willen zu tun, sondern mit dem wirtschaftlichen. Folglich gilt es, möglichst schnell bestehende rechtliche Beschränkungen für konkurrenzfähige Unternehmen und Produktgruppen abzubauen. Die Keimzellen für eine alternative Wirtschaft sind bereits vorhanden. Was fehlt, ist ein institutionelles Umfeld, das eine wirtschaftliche Entwicklung der drei Geschwindigkeiten begünstigt. Die Wirtschaftspolitik Boliviens ist noch immer zu sehr auf cinzelne Branchen und zu wenig auf wirtschaftliche Verflechtung ausgerichtet, zu sehr auf Akteure und Input (Kredite und Technologie) und zu wenig auf Produkte (alternative Exporte).

Die dritte Herausforderung besteht in der Öffnung neuer Märkte für Bioprodukte und Fairen Handel, wobei Bolivien eine Vorreiterrolle übernehmen sollte. Während die Länder Lateinamerikas und anderer Weltregionen die Verhandlungen um eine multilaterale Liberalisierung im Rahmen der Doha-Welthandelsrunde wieder beleben wollen, entstehen zugleich neue Märkte für Ökoprodukte und Initiativen für Fairen Handel, denen von den Ländern des Südens größere Bedeutung beigemessen werden sollte. Bolivien kann positive Initiativen für alternative Handelsformen vorweisen und dazu eine Agenda vorlegen, die eine schrittweise Umstrukturierung seiner Volkswirtschaft beinhaltet, wobei unter anderem dem Umweltschutz, der Abschaffung der Kinderarbeit und einer gerechteren Lohnpolitik Priorität einräumt wird – und dies auch in Wirtschaftsbranchen jenseits dem Erdgasgeschäft.

Bolivien könnte im Jahr 2012 zum ersten Land werden, das bei den nicht-traditionellen Exporten den Anforderungen des »Fairen Handels« gerecht wird, also bestimmte lohn- und umweltpolitische sowie sozial- und arbeitsrechtliche Standards erfüllt. Aufgrund der noch geringen Größe dieser Wirtschaftsbereiche könnte damit bei geringem Risiko ein zusätzlicher Motor für die bolivianische Wirtschaft entstehen. Die Verantwortung für diese alternative Agenda liegt in den Händen der Privatwirtschaft und der Regierung und umfasst Bereiche wie Ökotourismus, Biodiversität, Kunsthandwerk und ökologische Landwirtschaft.

Bolivien benötigt eine neue Wirtschaftsordnung, mit deren Hilfe das Land seine Integration in den Weltmarkt und die interne Verflechtung von großen, mittleren und kleinen Unternehmen neu gestalten kann: In diesem Sinne handelt es sich bei der postneoliberalen Herausforderung weder um eine theoretische Übung noch um die Festlegung neuer Richtlinien für eine Entwicklungsstrategie. Vielmehr gilt es, eine neue Form des Wirtschaftens unter Rückgriff auf bestehende Erfahrungen zu schaffen, und dabei die Wichtigkeit der Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Weltwirtschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Die Hoffnung auf den Erfolg einer neuen Agenda nach dem Ende des Neoliberalismus beruht auch darauf, dass Tausende von Wirtschaftssubjekten bereits neue alternative Märkte schaffen und für diese produzieren.

Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2007, ISSN: 0251-3552


Newsletter

Suscribase al newsletter