Artículo
NUSO Nº Januar 2007

Politischer Wandel und neue soziokulturelle Ordnung

Zusammenfassung | Bolivien befindet sich derzeit in einer komplexen Lage, hat aber die historische Chance, die kulturelle Anerkennung bisher ausgeschlossener indigener Bevölkerungsgruppen mit Wirtschaftswachstum und einer neuen institutionellen Neuordnung zu verbinden. Diese dreifache Herausforderung verlangt von der Politik Dialogfähigkeit, Anerkennung des Anderen und Ergebnisorientierung – eben die Eigenschaften, mit denen es Bolivien 1994 gelang, sich für die WM zu klassifizieren. Besteht Bolivien die Herausforderung, dann kann es der Welt beweisen, dass ein emanzipatorischer Modernisierungsprozess auch von der Peripherie ausgehen kann.

Politischer Wandel und neue soziokulturelle Ordnung

Was steht für Bolivien heute auf dem Spiel? Die Chance, bei Entwicklung und Demokratie einen großen Sprung nach vorn zu machen. Es hat die Möglichkeit, die Ungleichheit zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Kulturen zu verringern und bei einem alle Gesellschaftschichten einbeziehenden Wirtschaftswachstum Fortschritte zu machen. Ebenso erscheint wahrscheinlich, dass die Demokratie neben beträchtlichen Verbesserungen im politischen System auch wesentliche Fortschritte bei der Anerkennung eines wirklichen soziokulturellen Pluralismus möglich macht. Eine gerechtere Verteilung der Macht und der Früchte der Entwicklung, und damit die Konsolidierung einer neuen Ordnung sind also möglich, aber nicht einfach.

Eine andere Möglichkeit ist jedoch ein Szenarium des Zerfalls, von Krisen und Chaos. Diese Alternative wird umso wahrscheinlicher, je mehr Raum die politischen und sozialen Führungen der Konfrontation und politischen Verwirrspielen widmen anstatt Verhandlungen und klaren Vereinbarungen, also der Fähigkeit zum Dialog mit dem jeweils »Anderen«. Auch ein Szenarium territorialen Zerfalls ist nicht ausgeschlossen. Dann würden die von Beobachtern in den USA und in Lateinamerika wiederholt aufgestellte »neokoloniale« These des »gescheiterten Staates« durch Tatsachen bestätigt. Ebenso erschiene auch die von Augusto Pinochet in den sechziger Jahren »polnischen Lösung« für Bolivien – in Anspielung auf die Teilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion in den 40ern – gerechtfertigt, und letztlich sogar die militaristischen Szenarien einer bewaffneten Auseinandersetzung in Lateinamerika.

Die Neuordnung ist also ein mit Interessensgegensätzen, einseitigen Perspektiven und manchmal unkontrollierbaren Leidenschaften gepflasterter Weg. In Wirklichkeit hängt die Entwicklung in die eine oder andere Richtung vor allem von der Politikfähigkeit der einheimischen Akteure ab, aber auch vom Handeln und den Interessen der internationalen Akteure und deren Einschätzung der Geschehnisse in Bolivien. Und natürlich von der Entwicklung der immer stärker in den Weltmarkt integrierten bolivianischen Wirtschaft.

Es scheint ein gewisser Grundkonsens in der Gesellschaft vorhanden zu sein, der es erlaubt, die anstehenden Reformen mit demokratischem Realismus anzugehen. Dieser Grundkonsens beruht darauf, dass sich die Gesellschaft der strukturellen und soziokulturellen Vielfalt des Landes bewusst ist und die Mehrheit der Bolivianer den Verhandlungsweg als Methode zur Lösung von Konflikten befürwortet. Es herrscht auch Einverständnis darüber, dass Lösungen nicht aufgezwungen werden können und daher Kompromisse gefunden werden müssen. Und andererseits ist ebenso klar, dass der Ruf nach größerer Verteilungsgerechtigkeit im Zentrum des Prozesses steht. Unter diesen Voraussetzungen sind die Chancen auf Fortschritte in Bolivien größer. Alle Akteure müssen in den Prozess einbezogen werden, denn alle sind mit verantwortlich. Das bedeutet nicht die Negation des Konflikts, sondern ist nur eine neue Art, mit ihm umzugehen.Der Lauf der Geschichte wird davon abhängen, in welcher Weise die ver-schiedenen politisch-kulturellen Interessen miteinander vereinbar gemacht werden können. Die Gelegenheit ist da, und die Chancen sind umso realer, je mehr bei einer neuen Ordnung eine neue »Konfliktgrammatik« – in der der Dialog und die Suche nach konkreten Ergebnissen im Vordergrund stehen – und vor allem ein neuer Verhaltenskodex akzeptiert wird, in dem das Gemeinwohl dominiert. Man könnte das »die Mannschaft von ‘94« nennen.

Das ideale Szenarium republikanischer Emanzipation ergäbe sich, wenn die indigene Bewegung die bisher Ausgeschlossenen zu Protagonisten machen würde, ohne dabei neue Arten der Ausgrenzung zu schaffen. Unabhängig von verwurzelten oder im Wandel begriffenen kulturellen Identitäten hat sich die große Mehrheit der Bevölkerung bereits vor vielen Jahren für das Recht auf die kulturelle Anerkennung der Einen wie der Anderen entschieden – und sie entscheidet sich jeden Tag von Neuem dafür. Sie zog auch Verhandlungen der Konfrontation vor. Das bedeutet, dass die Gesellschaft sich für die Demokratie entschieden hat und entscheidet. Trotz alledem bedarf diese Demokratie noch der Erneuerung ihrer institutionellen Ordnung, unter größeren Beteiligung der Bürger mit besseren politischen Repräsentation.

Bekanntermaßen birgt jeder Fort-schritt ein Risiko und es ist nicht möglich, Etappen beliebig zu überspringen. Die Errichtung einer neuen kulturellen und sozialen Ordnung bedarf einer langen historischen Entwicklung, während auch Gesellschaft, die Regierungen, die Parteien und die Akteure sich erneuern. Die ganze Realität des Landes wird sich verändern. Deswegen ist es von äußerster Wichtigkeit, sich den Weg in die Zukunft als einen Prozess voller Hindernisse vorzustellen, bei dem die Gesellschaft sich selber ständig verbessern kann.

Demnach müssen die Anstrengungen der politischen Akteure sich darauf konzentrieren, die soziokulturelle Ordnung mit einer neuen politisch-institutionellen Struktur und wirtschaftlichem Aufschwung zu verbinden. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Der Wandel der bestehenden ethnisch-kulturellen, territorialen und sozialen Hierarchien hin zu einer gerechteren soziokulturellen Ordnung kann nur durch institutionelle Veränderungen mit dem Ziel einer gerechteren Einkommensverteilung und die Überwindung der Rentiersmentalität der Eliten, die das Wirtschaftswachstum auf die Ausbeutung von Erdgas und anderer Rohstoffe begrenzt, erreicht werden. Ohne umfassende soziale Fortschritte bleiben die institutionellen Veränderungen und die Entwicklung gezwungenermaßen oberflächlich.

Eine Gefahr erwächst auch aus in der Annahme, Fortschritte in einem Bereich zögen automatisch die in anderen Bereiche nach sich, bzw. zu glauben, sie seien nur durch die Initiative Weniger oder durch politischen Druck möglich. Der Wandel ist komplex und zwingt zu Weitblick und verantwortungsvollem Handeln. Man muss lernen, zwischen entgegengesetzten Winden zu segeln. Und hierfür ist es wichtig, die Idee des Gemeinwohls neu zu bestimmen, und vor allem eine gemeinsame Sprache zu finden, wie das die Nationalmannschaft 1994 getan hat.

Wirtschaft und Gesellschaft

Die kleine aber sehr komplexe bolivianische Wirtschaft zeichnet sich durch Schwäche, Ungleichheit und Diversität aus. Gemeinschafts- und Familienbetriebe existieren neben hochentwickelten nationalen oder internationalen Unternehmen, die auch aktiv am Globalisierungsprozess teilnehmen. Es bestehen praktisch keine autonomen Wirtschaftsformen, die Produktion der Kleinbauern ist auf die eine oder andere Weise in den Markt integriert – wenn auch in den meisten Fällen unter sehr ungerechten Bedingungen. Zum Bei-spiel ist die kleinbäuerliche Wirtschaft, die noch in jüngster Vergangenheit den Warenkorb bestimmt hat, darin heute immer weniger mit ihren Erzeugnissen vertreten. Die Zusammensetzung und die Qualität des Warenkorbs haben sich verändert. Gleichzeitig haben auch die Kleinbauern sich in einen Konsumentenmarkt integriert, der außerhalb ihrer produktiven Möglichkeiten liegt.

Die verschiedenen bäuerlichen Wirtschaftsformen haben sich auf Grund der Grundbesitzstruktur in einem komplexen Differenzierungsprozess und sehr ungleich entwickelt. Einerseits finden sich meist wenig produktive gemeinschaftliche Wirtschaftsformen (das Ayllu-System) auf Böden von geringer Qualität und mit spärlichen Ressourcen, z.B. die bäuerlichen Gemeinschaften im Norden von Potosí, in anderen Hochgebirgsgegenden und dem südlichen Altiplano. Dort lebt die ärmste Bevölkerung des gesamten Kontinents, die trotz ihres Elends ein soziales Netz und ein tief verwurzeltes Gefühl der Zugehörigkeit zur andinen Gemeinschaft lebendig erhält, das von großem kulturellen Reichtum geprägt ist. Andererseits ist eine neue Kleinbauernschicht in den Kolonisierungsgebieten – wie Chapare im Department Cochabamba oder Yapacaní im Department Santa Cruz – entstanden. Ihre außerordentliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stützt sich auf diversifizierte Familienbetriebe, die Anbauzonen in unterschiedlicher Höhenlage umfassen.

Die bolivianischen Städte sind plurikulturell und gewissermaßen bäuerlich. Die informelle Wirtschaft der Städte stützt sich auf kleine, familiäre Strukturen, die Stadt und Land in komplizierten Überlebensstrategien miteinander vernetzen. Diese reichen sogar über die Landesgrenzen hinaus, denn die soziale Reproduktion der bolivianischen Wirtschaft hängt insgesamt auch von ihrer Ausweitung auf andere Länder ab. Die bolivianischen Auswanderer, die in Madrid, Buenos Aires oder Virginia leben, sind Teil der familiärer Überlebensstrategien. Sie bringen komplexe Arbeit- und Austauschverhältnisse hervor, die erheblich zum Funktionieren der bolivianischen Wirtschaft beitragen, nicht nur durch die Überweisungen von Devisen an die Familien, sondern auch durch den Austausch materieller und kultureller Güter sowie Information.

All das führte zu einer Neubestimmung der immer internationaler werdenden Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Boliviens, auch wenn diese weiterhin sehr stark auf den lokalen Markt bezogen sind. Heutzutage beschäftigt der informelle Sektor – insbesondere die dort angesiedelten Unternehmen mittlerer Größe – einen großen Teil der Arbeitskräfte und spielt aufgrund seiner quantitativen Leistungsfähigkeit eine Schlüsselrolle. In diesem Kontext stellt sich für die Entwicklung vor allem die Frage, wie sich die Produktivität steigern lässt, da die mittelständischen Unternehmen in der Wirtschaftsentwicklung und als Verbindungsglied zwischen den produktivsten und den weniger dynamischen Sektoren ein immer stärkeres Gewicht haben.Die Erdgaswirtschaft wird zusammen mit anderen Rohstoffen weiterhin von stategischer Bedeutung für die Entwicklung des Landes bleiben. Sie muss auf drei Ebenen einen Multiplikatoreneffekt erzielen: Erstens beim unternehmerischen Ethos, wo ein Impuls zu größerer (informations)technologischen Kompetenz sowie zu wissenschaftlicher und technischer Forschung notwendig ist. Zweitens in der Herausbildung immer stärker regional und mit anderen Wirtschaftsbereichen integrierter, konkurrenzfähiger und innovativer Strukturen. Und schließlich bei der Fähigkeit, sich strategisch und pragmatisch auf dem internationalen Markt zu positionieren. Die Rechtsform der Unternehmen (öffentlich, staatlich, gemischt, ausgelagert oder nicht) ist dabei ein wichtiger, aber nicht entscheidender Aspekt. Wahrscheinlich ist es aber an der Zeit, ergebnisorientierte Verfahren und Institutionen zu etablieren.

In diesem Kontext ist die regionale oder im weiteren Sinne departamentale Wirtschaft von grundlegender Bedeutung. Ihre Stärkung, sowohl auf lokaler Ebene als auch im Kontext der Globalisierung, ist nicht nur für die Zukunft jeder Region, sondern für die Volkswirtschaft insgesamt von grundlegender Bedeutung. Die wirtschaftliche Zukunft des bolivianischen Ostens, des Altiplano, der Täler, der Savannenebene des Chaco und der südlichen Bergregion bis hin zum Amazonas-Tiefland im Norden ist untrennbar mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der grenzüberschreitenden Großräume verbunden, mit denen sie eine geographische Einheit bilden. Dazu gehören u.a. die brasilianischen Bundesstaaten Mato Grosso und Arce, der Norden Chiles und der Süden Perus, die Grenzregionen zu Argentinien und dem paraguayi-schen Chaco. Die bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Netzwerke verleihen diesen Regionen großes Potential. Die Frage ist, wie dieses Potential für die bolivianische Wirtschaft insgesamt nutzbar gemacht werden kann.

Wenn auch die bolivianischen Städte ländlich geprägt sind, und daher die Problematik der Kleinbauern im Bewusstsein der städtischen Bevölkerung präsent ist, so ist doch offensichtlich, wie die Urbanisierung die Gesell-schaft dennoch verändert. Bolivien wird immer städtischer und plurikultureller, und die einzelnen Landesteile sind heute mehr denn je miteinander verbunden, nicht nur durch die Dynamik der größeren Städte, sondern auch durch die Entstehung von Mittel- und Kleinstädten und der damit verbundenen Verbreitung von Dienstleistungen, neuen Marktformen, öffentlichen Gütern, dynamischen kommunalen Institutionen und sozialen Einrichtungen.Das Bildungsniveau ist gestiegen, vor allem hat die flächendeckende Grund-schulbildung zugenommen und die Analphabetenrate ist gefallen. Gleichzeitig ist die Lebenserwartung gestiegen, ein Drittel der Bevölkerung lebt nicht an seinem Geburtsort, die Familien sind kleiner geworden und die Frau ist verstärkt in den Arbeitsmarkt integriert, wenn auch unter diskriminierenden Bedingungen.

Der Zugang zu den im steigenden Maße internationalisierten Massenmedien ist breit: Es gibt praktisch keine Dorfgemeinschaft ohne Anschluss an die Medien mehr, und über die Hälfte der Bolivianer hat Fernsehen. Im Land gibt es über 500 Radiostationen und 130 Fernsehkanäle. Die Nachfrage nach Internetverbindungen ist bei Jugendlichen aller sozialen Schichten gleich hoch. Hierbei ist der Wunsch nach Veränderungen unter Inkaufnahme von Risiken eine Konstante, was an der Verbesserung der Bildung und dem Kontakt zu den Massemmedien liegt. Der heute multikulturelle Wandel ist breiter und komplexer als in der Vergangenheit: Die Herausforderungen einer wirklich demokratischen Interkulturalität müssten auch auf Grund dieses neuen Kontextes neu bestimmt werden.

Es gibt wahrscheinlich in Bolivien keine stärker integrierte Region als Santa Cruz, was vielfachen Anstrengungen zu verdanken ist: einem erfolgreich von Latifundisten zu Agroindustriellen mutierten visionären Unternehmertum, der staatlichen Investitionspolitik und vor allem den Impulsen durch die Wirtschaftsförderung der Corporación Boliviana de Fomento, der staatlichen Erdölgesellschaft (Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos, YPFB) und andere Staatsunternehmen.

Aber die Entwicklung von Santa Cruz ist auch das Ergebnis der Tatkraft der Zuwanderer aus anderen Landesteilen und aus dem Ausland, die aus ganz verschiedenen sozialen Schichten kamen und Wandel und Fortschritt brachten. Santa Cruz ist eine Region, die trotz einiger großer Probleme ein hohes Maß an sozialer Integration und Entwicklung besitzt. Trotz alledem scheint die politische Elite hinter dem bei der Bevölkerung dieses Departments überwiegenden Gefühl, Teil einer Nation zu sein, im Rückstand zu liegen. Bei neuen regionalen Entwicklungsoptionen muss nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch die Entstehung einer immer stärker multikulturellen und besser gebildeten Gesellschaft berücksichtigt werden, die Anerkennung und Partizipation fordert.

Trotz der Fortschritte in dieser und anderer Regionen haben sich jedoch auf nationaler Ebene die wirtschaftlichen Strukturen, die geringe Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, die Arbeitsplatz- und Lohnstruktur, die Armutsrate, die ungleiche Einkommensverteilung und bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung nicht verändert.

Heutzutage ist die vorher marginalisierte Bevölkerung bereits teilweise integriert, nicht nur in Bezug auf das Konsumverhalten, sondern auch was den Ruf nach wirtschaftlicher Integration, politischer Partizipation sowie mehr und besserer sozialer Mobilität angeht. Wir stehen somit nicht vor einer rückständigen Gesellschaft, die sich nicht ändert, sondern eher vor einer relativ säkularisierten und ungerechten Gesellschaft voller Frustrationen, die mehr Würde für die Ärmsten und Ausgeschlossenen fordert.

Es besteht der Eindruck, dass zwischen Regierung und Gesellschaft eine gewisse Spannung herrscht, so als ob die Gesellschaft weiter fortgeschritten wäre als ihre Regierung. Auch wenn die sozialen und indigenen Führer sich bei ihrem Versuch, Gemeinschaft und Institutionalität zu vereinbaren, auf Gedankengut aus der traditionellen Andenkultur stützen, und obwohl die Regionalisten im Osten des Landes aus ihrer sehr limitierten Sichtweise von Nation und Interkulturalität größere regionale Autonomie fordern, so hat doch die Gesellschaft insgesamt eine große Fähigkeit zum Zusammenleben innerhalb der kulturellen Vielfalt bewiesen und verlangt konkrete Lösungen und konzertierte Maßnahmen für eine Entwicklung in Freiheit.

Der Staat

In diesem Kontext hat der Staat seine entscheidende Rolle zurückgewonnen. Das staatliche Handeln muss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Positionierung ausgerichtet sein. Ebenso wichtig ist es, dass der Staat sich in der Globalisierung und auf dem Markt so verhält, dass die regionale und kulturelle Vielfalt Boliviens erhalten bleibt. Der Staat ist der einzige Akteur, der die nationale Vielfalt der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit repräsentieren und dieser gleichzeitig mit einer gerechten distributiven und entwicklungsorientierten Politik dienen kann.Deshalb ist eine der Herausforderungen der bolivianischen Gesellschaft, dem Staat auf demokratischem Weg eine neue Struktur zu geben. Damit dieser wirklich im Dienst der Gesellschaft stehen kann, muss er schnellstens zwei Trägheitsmomente überwinden, die seine Funktion als Treibriemen der Entwicklung hemmen: Einerseits muss er das klientelistische, korporativistische und zentralistische Denken aufgeben, das die traditionellen Herrschaftsverhältnisse fortschreibt. Und andererseits darf er sich nicht länger dem Willen transnationaler Mächte unterordnen. Der Staat muss in einem ständigen Dialog mit der Gesellschaft stehen und auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Aus dieser Position heraus kann das Land ausgewogene internationale Beziehungen mit dem übrigen Südamerika und der restlichen Welt aufbauen.

Aber ist ein intelligenter und innovativer Staat in Bolivien vorstellbar? Ein Staat, der kreativ wirtschaftliche mit soziokultureller Dynamik, innere mit internationalen Entwicklungen verbindet? Wie definiert sich ein Staat, der gleichzeitig Solidarität mit den armen Gemeinschaften in Potosí üben, Rücksicht auf regionale Autonomiebestrebungen nehmen und Verhandlungsgeschick beim Kauf von Technologie in Oslo an den Tag legen muss? Dieser Staat muss im Rahmen der Globalisierung und in Form von konkreten Allianzen mit anderen Nationen ein weites Kooperationsnetz aufbauen, um dem Land einen Platz in der Welt zu sichern. Die Frage ist, wie die nationalen, regionalen und soziokulturellen Akteure sich diesen Probleme stellen und wie sich ihre Auffassungen in der Verfassungsgebenden Versammlung widerspiegeln. Wenn aus dieser auch sicher kein neues Entwicklungs- oder Demokratiemodell hervorgehen wird, so kann sie doch vielleicht die politisch-institutionellen Rahmenbedingungen dafür festlegen. Wichtige Herausforderungen an einen institutionellen Wandel sind daher, Einigkeit über die neue Struktur des Staates zu erzielen und neue Verfahren zur Konfliktlösung zu schaffen.

In der Verfassungsgebenden Versammlung kann es gelingen, einen »Pakt der Gleichheit« zu verabschieden, der das feudale Ständesystem überwindet und die Macht sowie ihre Ausübung neu verteilt, und damit die politischen, regionalen, gesellschaftlichen und kulturellen Akteure zwingt, im Sinne eines sozial integrativen Wirtschaftsmodells zu handeln. Aber um eine solche Übereinkunft zu erreichen, bedarf nicht es nur einer realistischen Einschätzung der Kräfteverhältnisse, sondern auch einer »Kultur der politischen Konzertation«, die die strukturelle Vielfältigkeit der Strukturen der bolivianischen Gesellschaft respektiert.Es besteht also eine Chance, Spielregeln für die Konfliktlösung zu institutionalisieren, die den verschiedenen Akteuren Sicherheiten bieten bzw. Pflichten auferlegen und durch das politische System entstehenden Benachteiligungen kompensieren. Eine Gesellschaft ohne Konflikte ist nicht möglich, aber sie kann genausowenig im Dauerkonflikt leben. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass der neue institutionelle Rahmen andere Formen der Konflikt-lösung mit innovativen Themen, Akteuren und Szenarien schafft. Konflikte müssen expliziert werden und es müssen Partizipationskanäle zur Verfügung stehen, die den Dialog ermöglichen und bei den Beteiligten das Bewusstsein stärken, dass jede Verhandlung die Einhaltung von Vereinbarungen und diese wiederum beiderseitige Zugeständnisse voraussetzt.

In einer solchen neuen institutionellen Ordnung würde sich der gesunde Menschenverstand bestätigt finden, der sich in der öffentlichen Meinung und in der Praxis der soziokulturellen und regionalen Bewegungen bereits durchgesetzt hat. Die Frage ist, ob die derzeitige politische Führung auf der Höhe der Zeit und in der Lage ist, diese historische Chance zu nutzen. Manchmal verfliegt im Wind, was erst so solide erschien.

Die Kulturen

Auf historisch-kultureller Ebene ist die Situation noch komplizierter. Bolivien trägt das schwere Erbe einer langen Geschichte verschiedenster historischer und soziokultureller – als historischer chenk’o definierte – Überlagerungen, die das gesellschaftliche Leben seit vorkolonialen Zeiten bestimmen und die in der Politik sowie in der Vorstellungswelt der Bevölkerung bis heute lebendig sind. Einerseits drückt sich dies in der Kodifizierung einer andinen oder kolonialen Vergangenheit aus, die es so nie gab, andererseits als Bezugspunkt einer historischen Kontinuität, der man nicht ausweichen kann, die man aber ändern möchte.

Es handelt sich dabei in jedem Fall um eine Geschichte voller Grauzonen und gesellschaftlicher Dramen und um die Beziehung der Gesellschaft zu einer Welt, die oft als fern, fremd und bedrohend empfunden wird. Dieses kulturelle Phänomen ist gleichzeitig ein psychologisches und spielt eine wichtige Rolle bei politischen Entscheidungen, da hierauf die historische Perzeption des Landes, die Erinnerung an seine Verletzungen und schwersten Ungerechtigkeiten, seine größten Frustrationen und auch seine – von den Bolivianern selbst oft nicht erkannten – Erfolge aufbauen. Diese manchmal konfuse Sichtweise der eigenen Geschichte bringt jedoch den Wunsch nach Gerechtigkeit und Anerkennung zum Ausdruck. Und obwohl verworrene Ideen in der Praxis natürlich zu nichts Gutem führen, so würde es doch von politischer Blindheit zeugen, die Dichte der historischen Entwicklungen und die Gefühle der Menschen nicht zu berücksichtigen. Wie Walter Benjamin sagte, rekonstruieren die Völker die Interpretation ihrer Geschichte in den Momenten der Gefahr. Und an dieser Stelle befindet sich heute Bolivien.

Das Land ist seit seinen Ursprüngen von ethnisch-kultureller Vielfalt geprägt. Man denke nur an die Herrschaft der Aymara im 15. Jahrhundert, die der Charcas über die Bewohner der unterschiedlichen Klimazonen, das Reich der Moxos in den Bení-Ebenen oder die verschiedenen Tupí-Guaraní-Völker des bolivianischen Amazonas, die bereits vor der Ankunft der Spanischen Eroberer Waren und Symbole mit den Andenvölkern austauschten. Das Inkareich selber, das für kurze Zeit den Qollasuyu beherrschte, war die Summe einer großen Zahl militärisch unterworfener Völker. Die spanische Krone erbte diese kulturelle Vielfalt.

Aus ihrer eigenen Unterschiedlichkeit und ursprünglichen kulturellen Vielfältigkeit heraus nutzten die Spanier sogar die kulturelle Vielfalt des Qollasuyu für ihre Herrschaft aus. Damit schufen sie aber nicht nur die bis heute bestehenden Institutionen zur kulturellen Herrschaft, sondern sie selbst veränderten sich dabei. Wie Aníbal Quijano betonte, haben die Europäer mit der Eroberung den »Anderen« kennengelernt und konnten so in die Modernität eintreten.

Die Kolonialherrschaft schuf verschiedene sozio-ethnische Gesellschaftsschichten, aus denen eine politische Ständeordnung und gleichzeitig eine Dialektik der Negation – und später der Ausgrenzung – des Anderen, insbesondere des Indigenen, Schwarzen oder Mestizen hervor gingen. Natürlich gab es vielfältige Formen des Widerstands, unter denen die Aufstände der indigenen Kleinbauern und der mestizischen Handwerker hervorstechen. Ebenso zählen dazu die Kunstwerke der Indios und Mestizen, die die Kreativität ihrer Gemeinschaften beweisen und manchmal die Rationalität der Kolonialmacht nutzten, wenn auch mit anderen Inhalten: Die Fassade der San-Lorenzo-Kirche in Potosí und die chiquitano-barocke Musik sind bedeutsame und schöne Beispiele hierfür.

Die Unabhängigkeitsbewegung hatte einen modernen Staat mit Bürgerrechten zum Ziel. Die Universität von Charcas war eine nicht nur in Bolivien sondern in ganz Südamerika einzigartige Brutstätte emanzipatorischer Ideen. Aber der lange Kampf um die Unabhängigkeit und die Auseinandersetzungen um die Macht führten nicht zur Bildung eines einheitlichen Nationalstaats. Die lokalen Konflikte mehrten sich und es entstand ein neuer oligarchischer Pakt zwischen Großgrund- und Minenbesitzen. Bolivien entwickelte sich auf der Grundlage von Bergbau-Enklaven, zunächst der Silber- und später der Zinnminen. Als ein ganz neuartiges Phänomen in dieser Widerstandsdialektik bildeten sich revolutionäre Bergbaugewerkschaften heraus, und es wuchs eine industrielle Arbeiterklasse heran, deren Handeln und Bewusstsein die politische und kulturelle Entwicklung des Landes nachhaltig geprägt haben.

Die Revolution von 1952, Ergebnis eines Bündnisses zwischen Mittel- und Unterschicht, versuchte die nationale Befreiung zu erreichen, das Land zu modernisieren, die einzelnen Landesteile zu integrieren und eine indianisch-mestizische Weltsicht als Nationalbewusstsein zu verbreiten. Sie war nur teilweise erfolgreich, da sie den kulturellen Pluralismus als Wesensmerkmal des Landes verkannte und schließlich ein patriarchalisch-korporativistisches, auf klientelistische Netzwerke gestütztes Herrschaftssystem errichtete. Dieser Klientelismus führte zu einer Zersplitterung der Parteien und der Gesell-schaft, weil er nur mit einem komplexen Pfründesystem funktionierte, das letztlich die wirtschaftlichen und institutionellen Möglichkeiten Boliviens überstieg. Die Revolution, die unter Arbeitern und Kleinbauern mehr als 60.000 Anhänger gefunden hatte, scheiterte an inneren Konflikten. Mit bitterer Ironie begründete eine ihrer Führungsfiguren das Scheitern damit, die Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR, Nationalistische Revolutionäre Bewegung) habe 200.000 Mitglieder gehabt, der Staat jedoch nur über 100.000 Posten verfügt. Der Rest waren autoritäre Alpträume.

Die marktwirtschaftlichen Strukturreformen auf der Basis eines parteiübergreifenden Paktes bildete die Grundlage für eine zwanzig Jahre anhaltende Phase relativer demokratischer Stabilität, brachten jedoch nicht die versprochenen Ergebnisse. Ihr Resultat waren ein großes gesellschaftliches und institutionelles Unbehagen und politische Mobilisierungen, die den Beginn eines neuen Abschnitts in der Geschichte anzeigten. Inmitten eines konfliktiven und polarisierten Klimas ebnete der überwältigende Wahlsieg der Movimiento al Socialismo (MAS, Bewegung zum Sozialismus) bei den Präsidentschaftswahlen von 2005 den Weg für einen demokratischen gesellschaftlichen Wandel auf der Grundlage von kulturellem Pluralismus, sozialer Gleichheit und endogener Entwicklung. So begann eine neue Phase politisch-institutioneller Transformationen, die vielleicht zu einem neuen Konsens innerhalb der Gesellschaft führt. Nur stellt sich die Frage, aus welcher politischen Kultur heraus diese Veränderungen bewerkstelligt werden.

Die »Neugründung« Boliviens ist nur im Kontext zu verstehen und lässt sich nicht in Schwarz-Weiß-Muster zwängen. Sie ist das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung mit Fortschritten und Rückschlägen, unterschiedlichen Akteuren und politischen Prozessen. Kritik und Änderungen können daher nur fruchtbar sein, wenn sie die Idee der historischen Kontinuität wieder aufgreifen. In gewisser Hinsicht sind die Würfel bereits gefallen...

Schlusswort

Zum Abschluss bleiben einige Fragen offen: Werden die Führungen der Regierung und der Opposition die Dichotomie Freund-Feind überwinden können und differenzierte Antworten auf die Probleme und Herausforderungen dieser »strukturellen Konjunktur« finden? Kann die bolivianische Gesellschaft sich von einer plurikulturellen hin zu einer interkulturellen Logik entwickeln und diese auf die praktische Politik anwenden können? Ist eine demokratische Reform möglich, die die Erfahrungen und die Weltsicht der Urbevölkerung aufgreift und so das System der Partizipation und Entscheidungsfindung erneuert? Wird sich ein offenes und pluralistisches Parteiensystem herausbilden, das die Gesellschaft und die bereits unterschiedlichen Kulturen wider- spiegelt? Lässt die politische und kulturelle Dynamik ein soziales, aber gleichzeitig in der Globalisierung konkurrenzfähiges Wirtschaftswachstums zu? Wie weit geht die Fähigkeit der verschiedenen gesellschaftlichen, kulturel-len und regionalen Akteure und der Intellektuellen zu einer Reformagenda, die uns einer neuen soziokulturellen Ordnung näher bringt?

Letztendlich wird vielleicht der historische Prozess selbst eine neue emanzipatorische Kraft hervorbringen, vor allem wenn dabei die Idee der kulturellen Freiheit mit dem Willen einhergeht, das Land dem »Anderen« zu öffnen. Das hieße, dass eine vorwiegend indigene kulturelle und gesellschaftliche Kraft die demokratische Einbeziehung und Entwicklung aller gesellschaftlichen Gruppen zu erreichen versucht, was den Versuch einzigartig machen würde. Wenn Bolivien auf diese Fragen geeignete Antworten findet, dann kann es vielleicht beweisen, dass die emanzipatorische Modernisierung auch von der Peripherie ausgehen kann. Und das ließe sich, bei allen Unterschieden, nur mit den Träumen von Nelson Mandelas vergleichen.

Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2007, ISSN: 0251-3552


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