Artículo
NUSO Nº Januar 2008

Können Wirtschaftsentwicklung und Sozialstaat in Einklang gebracht werden? Gedanken zu den neuen Herausforderungen für Latinamerika

Zusammenfassung | Lateinamerika hat in den vergangen Jahren bewiesen, dass ein hohes Wirtschaftswachstum mit bedeutenden sozialen Fortschritten in Einklang zu bringen ist. Infolge der veränderten äußeren Bedingungen durch die Krise in den USA und die weltweite Inflation müssen jedoch Kursänderungen in Betracht gezogen werden. In erster Linie muss Lateinamerika die hauptsächlich auf Konsumsteuern basierenden Steuersysteme reformieren und das Einkommensteueraufkommen anheben, um eine höhere Progression zu erreichen. Gleichzeitig müssen die in den vergangenen Jahren angestiegenen Sozialausgaben auf Dauer gewährleistet und diese Mittel effizienter verwendet werden. Nur so werden wirtschaftliche Entwicklung und Sozialstaat langfristig miteinander vereinbar sein.

Können Wirtschaftsentwicklung und Sozialstaat in Einklang gebracht werden? Gedanken zu den neuen Herausforderungen für Latinamerika

Lateinamerika gilt als Synonym für Ungleichheit. Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt fällt Lateinamerika vor allem durch seine ungleiche Einkommensverteilung auf. Die Aufmerksamkeit sowohl akademischer Analysen wie auch der Regierungen richtet sich immer wieder auf die Unterschiede zwischen Reich und Arm, zwischen formeller und informeller Beschäftigung sowie zwischen Privilegierten und Ausgeschlossenen. Diese hartnäckige Ungleichheit ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen. Sie reichen von historischen Gründen bis hin zum mangelnden politischen Willen gegen sie vorzugehen. Auch die Struktur unserer Volkswirtschaften, ihr Wachstum und die Art, wie sie geführt werden, sind entscheidende Faktoren, um das Ausmaß der heutigen Ungleichheit und mögliche Lösungen zu verstehen.

Der Kampf gegen die Ungleichheit und die Armut hat inzwischen in der Politik einen immer höheren Stellenwert. Das zeigen die Schaffung und der Ausbau unterschiedlicher Sozialprogramme, z.B. zur Einkommensumverteilung. Dies führte möglicherweise zur Vernachlässigung anderer notwendiger Maßnahmen, wie der Förderung des universellen Zugangs zu Bildung und zu Gesundheitsversorgung. Es kann nicht geleugnet werden, dass mit dem steigenden Bewusstsein, dass die Ungleichheit bekämpft werden muss, in der steuerpolitischen Agenda Lateinamerikas neue Schwerpunkte entstanden sind. Angesichts der Herausforderung, steigende Sozialausgaben verantwortungsvoll zu finanzieren, wird die Steuerfrage zum wichtigsten Schnittpunkt zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Dieser Artikel befasst sich damit, wie eine aktivere Sozialpolitik mit einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik vereinbart werden kann, ohne die Stabilität zu beeinträchtigen. Ein solch umfassendes Problem lässt sich natürlich nicht in wenigen Zeilen lösen. Dieser Artikel soll vielmehr einige Elemente in die Debatte einbringen.

Die ohnehin komplexe Herausforderung wird vor dem Hintergrund der geschichtlichen Vorbedingungen noch schwieriger. Neben der Ungleichheit war Lateinamerika auch immer wieder davon geprägt, zum Experiment für unkonventionelle »Wirtschaftsmodelle« zu werden. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wechselten sich verschiedene Phasen ab: mit stärkeren oder schwächeren staatlichen Interventionen, Öffnung der Märkte, Zustrom und Abfluss von Kapital, schneller Zunahme und starkem Rückgang öffentlicher Investitionen. Dazu kam das späte Aufkommen von neuen sozialen Protestformen. Diese unterschiedlichen Politikstile wurden unter anderem als »neoliberal«, »reformistisch« oder »Desarrollismo« bezeichnet (Bielschowsky/Mussi).

Bis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts folgten schwere externe Krisen aufeinander, die sogar die größten Länder wie Brasilien, Argentinien und Mexiko trafen. Die Region stand mehr als einmal im Zentrum von Turbulenzen mit Auswirkungen auf die internationale Wirtschaft. Das neue Jahrtausend brachte zumindest seit 2002 ein schnelles und intensives Wirtschaftswachstum, das anfänglich von den Exporten angetrieben wurde. Diese profitierten vom weltweiten Aufschwung (insbesondere in den aufstrebenden Volkswirtschaften wie China) und den dadurch gestiegenen Preisen der Commodities. Zuerst verbesserten die öffentlichen Einnahmen die Steuerbilanz. Der Haushaltsüberschuss stieg und die Schulden sanken, wodurch die Ausgaben für soziale Programme und Infrastrukturinvestitionen erhöht werden konnten. Der Außenhandelsboom führte so zu einem wirtschaftlichen, fiskalischen und sozialen Boom im Inland.

Jedoch geben die Aussichten für die Region auch Anlass zur Besorgnis. Die Ursachen des Aufschwungs (der Außenhandel) könnten nämlich einen Sturm auslösen: Durch die Verlangsamung der US-Wirtschaft und durch die heutigen starken Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten besteht die Gefahr einer Abflachung – oder einer Wende – im Wachstumszyklus. Hinzu kommt die durch den Preisanstieg der Commodities angetriebene weltweite Inflation. Sie hat nicht nur den Erdölpreis, sondern auch die Nahrungsmittelpreise erfasst. Ob es sich hierbei um ein strukturelles Phänomen oder nur um die Auswirkungen von Spekulationen handelt, lässt sich vorerst noch nicht abschätzen.

Angesichts der bekannterweise äußerst volatilen Wirtschaft und Politik in Lateinamerika stellt sich die Frage, ob sich Optimismus weiterhin rechtfertigen lässt (Machinea/Kacef). Einige Akademiker – und die Mehrheit der Politiker – halten an einer optimistischen Sicht der Dinge fest: Aus ihrer Sicht kann der Preisanstieg bei den Commodities trotz der negativen Auswirkungen auf die Inflation eine Medizin für die lateinamerikanischen Wirtschaften sein, weil die Region ein wichtiger Lieferant von Agrarprodukten und mineralischen Rohstoffen ist. Ganz zu schweigen von den neu entdeckten Erdölvorkommen. Sie hoffen, dass die Wirtschaftskrise in den Industrieländern möglicherweise von kurzer Dauer und nicht sehr tief sein wird. Zudem könnte ihrer Meinung nach die Expansion Chinas und der anderen aufstrebenden Volkswirtschaften die wirtschaftliche Flaute der reichen Länder kompensieren. Ironischerweise ist die einzige Gewissheit für Lateinamerika die große Ungewissheit!

Die Regierungen haben nach Jahren oder Jahrzehnten zum ersten Mal die Möglichkeit, sich um bisher vernachlässigte wirtschaftliche und soziale Probleme zu kümmern. Die Staatsausgaben übertreffen die Höchststände der letzten Jahrzehnte. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, sie zu einer moderaten Wirtschaftspolitik und zu einer umsichtigen Steuerpolitik zu bewegen. In diesem Sinne vertritt dieser Artikel die Auffassung, dass die Wirtschaftspolitik der Region einen hohen Reifegrad erreicht und dass sich die Sozialpolitik soweit gefestigt hat, dass sie den vermeintlichen Konflikt zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik entschärfen konnten. Die Rolle des Staates muss in dieser neuen Entwicklungsphase jedoch besser überdacht und hinterfragt werden.

Tatsächlich müssen neue Reformen in Angriff genommen (zum Beispiel bei den Steuern und Sozialversicherungen) und gleichzeitig die Qualität der Ausgaben verbessert werden, um die sozialen Fortschritte zu sichern.

Vorweg muss klar sein, dass dies keinen Rückschritt zum Neoliberalismus bedeutet. Unabhängig von der jeweiligen Ideologie, würde aber ein Ignorieren der anstehenden Probleme das Wachstum gefährden und jeden Fortschritt hin zu einer universellen Sozialpolitik unterbinden. Wenn dies geschieht, treten wieder die Programme mit ausschließlichem Fokus auf die Ärmsten in den Vordergrund, die zwar die Armut verringern aber nicht die Gesellschaft verändern. Wer darüber hinaus glaubt, die Globalisierung habe die Weltwirtschaft mit der nationalen Wirtschaft verschmolzen, schließt implizit aus, dass es nationale Interessen gibt, die man verteidigen und für die man arbeiten muss (Serra). Nichts wäre liberaler, als für eine mögliche Wende im Aufwärtstrend oder dafür zu beten, dass die Krise der Industriestaaten nicht auf die ärmsten Staaten übergreife oder abzuwarten, dass der Segen von Chinas Wachstum abfällt, statt aus der Sicht eines jeden Landes die Probleme und Prioritäten neu zu überdenken und eine langfristige Strategie zu entwickeln, mit der wirtschaftliches Wachstum und soziale Wohlfahrt in Überein-stimmung zu bringen sind.

Eine neue Reformpolitik, einschließ-lich einer neuen Steuerpolitik, zu betreiben ist fortschrittlich. Es ist genau das Gegenteil des Neoliberalismus, der darauf wettet, dass die Entwicklung durch Impulse aus dem Ausland angetrieben werde. Eine fortschrittliche Strategie (Serra) fördert die Produktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch gezielte öffentliche Maßnahmen. Durch eine bestmögliche staatliche Regulierung soll dabei jener überkommene Staat ersetzt werden, der direkt in die Wirtschaft intervenierte; und in der Sozialpolitik sollen dabei universelle Ansätze gefördert werden, die die ärmsten Sektoren umfassend unterstützen und nicht nur in Form von Sozialhilfe. Für den Erfolg einer solchen Reformpolitik ist ein Umdenken in den Finanzierungsmodellen und bei den öffentlichen Ausgaben ausschlaggebend.

Zusammenfassend liegt diesem Artikel die These zugrunde, dass Lateinamerika in den vergangenen Jahren seine Fähigkeit bewiesen hat, stärkeres Wirtschaftswachstum mit verbesserter sozialer Wohlfahrt in Einklang zu bringen. Für ein erfolgreiches Fortsetzen dieser Strategie müssen jedoch die aktuellen Herausforderungen gemeistert werden. Zur Darstellung dieser Argumente ist der Artikel in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird die Kompatibilität von Wirt-schaftswachstum und einer besseren Sozialpolitik untersucht. Der zweite Teil beschreibt die Herausforderung, einen noch höheren Grad an Über-einstimmung zu erreichen. Die jüngste (und ausgezeichnete) wirtschaftliche und soziale Entwicklung

Lateinamerika wuchs zwischen 2002 und 2007 um 26,5% und erlebte das stärkste kontinuierliche Wachstum seit den 70er Jahren (Machinea/Kacef). Diese Entwicklung verlief nicht in allen Ländern gleich. Die zwei größten Länder Brasilien und Mexiko erzielten ein geringeres Wachstum als andere, die sich wie Argentinien und Venezuela durch höhere Wachstumsraten von tiefen Krisen erholt hatten. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg zwischen 2002 und 2007 um 18,4% an. Das jährliche Durchschnittseinkommen eines Latein-amerikaners liegt heute, gemessen an der Kaufkraft, bei 8.700 US-Dollar. Im weltweiten Vergleich ließe sich damit unsere Region der Mittelschicht zuordnen (UNDP).

Gleichzeitig entwickelten sich in Lateinamerika auch die sozialen Indikatoren günstig, selbst wenn sie sich noch weit unter dem Niveau der reichsten Länder befinden. Einer der wichtigsten Fortschritte war die Verringerung der Armut von 48,3% im Jahre 1990 auf 35,1% in 2006. Die extreme Armut, das Elend, sank ebenfalls von 22,5% auf 12,5%. In absoluten Zahlen ausgedrückt lebten 2006 7 Millionen Menschen in Armut, während es 1990 waren es noch 93 Millionen (Cepal 2007b).

Lateinamerikas Indikator der menschlichen Entwicklung (IDH) lag 2005 mit 0,803 deutlich höher als in anderen Entwicklungsländern und erreichte beinahe das Niveau der osteuropäischen Länder (0,808). Der Wert liegt nicht weit entfernt von dem Wert der anderen Mitglieder der Organisation für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (0,916). Die Zahl der Schüler in den drei Bildungsstufen betrug 81,2% einer Altersgruppe, gegenüber 88,6% in den OECD-Ländern und einem Durchschnitt von 64,1% in den am wenigsten entwickelten Ländern. Die Einschulungsrate erreichte 2005 eine Quote von 94%. Im Gesundheitsbereich fiel die Kindersterblichkeit von 86 Todesfällen je 100.000 Geburten in 1970 auf 26 je 100.000 in 2005, womit sie noch immer weit über der Kindersterblichkeit in den Industriestaaten liegt (neun je 100.000) (UNDP).

In jüngster Zeit weisen nun auch die Indikatoren für Ungleichheit eine günstige Entwicklung auf. Der Gini-Koeffizient der wichtigsten Länder Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko verbesserte sich in den letzten Jahren (Cepal 2007b). Sogar in Ländern mit einer hohen Einkommenskonzentration, wie in einigen Ländern Zentralamerikas, wurden geringfügige Verbesserungen verzeichnet. Trotzdem ist die Ungleichheit in Lateinamerika weiterhin sehr groß: Der Gini-Koeffizient übertrifft die OECD-Indikatoren um zwei Drittel. Das reichste Zehntel der Gesellschaft erhält im Durchschnitt 36% der Haushaltseinkommen und das Einkommen des reichsten Fünftels übertrifft das Einkommen des ärmsten Fünftels um das Zwanzigfache.

Die Verbesserung der Lebensbedingungen der Lateinamerikaner ging mit einer kontinuierlichen Erhöhung der Sozialausgaben einher. Die durchschnitt-lichen Ausgaben pro Kopf stiegen in Lateinamerika von 400 US-Dollar 1990 auf 624 US-Dollar Ende 2000 und erreichten im Jahr 2005 658 US-Dollar. In Prozentwerten wuchsen die Ausgaben während der 90er Jahre um 41,8% und stiegen seit Beginn dieses Jahrzehnts um weitere 5,5% an. Mit anderen Worten erhöhten sich die Sozialausgaben seit 1990 um nahezu 50%. Abbildung 1 zeigt die Zunahme in Prozent des BIP der Region; der Anstieg betrug drei Punkte von 12,9% auf 15,9% (Cepal 2007b).

Die Analyse der Sozialausgaben muss jedoch genauer erklärt werden. Erstens bestehen zwischen den einzelnen Ländern bedeutende Unterschiede. Das Land mit den höchsten Ausgaben pro Kopf gibt 17-mal mehr aus, als das Land mit den geringsten Ausgaben. Zweitens erzielten weder das Bildungs- noch das Gesundheitswesen die höchsten Zunahmen bei den Sozialausgaben (siehe Abbildung 2). Über die Hälfte der zusätzlichen Ausgaben wurden dafür eingesetzt, die Renten und die Sozialhilfe zu erhöhen.

Neben der Erhöhung der Ausgaben und der begünstigten Sektoren ist es wichtig, deren Finanzierung zu analysieren. Die Zunahme der Sozialausgaben lag eher an der Erhöhung der Steuerquote als an der Erhöhung des Anteils am Haushalt, d.h., sie wurden nicht stärker erhöht als andere Ausgaben. Einerseits betrugen 2005 die Sozialausgaben fast 80% der gesamten öffentlichen Ausgaben und damit nicht viel mehr als 1990; andererseits zeigen Schätzungen der Cepal, dass die durchschnittliche Steuerbelastung in der Region seit Beginn der 90er Jahre von 16% um vier Prozentpunkte auf nahezu 20% in 2005 angestiegen ist. Daher war die Erhöhung der Sozialausgaben direkt auf den Anstieg der Einnahmen zurückzuführen.

In diesem Zusammenhang ist eine Schlussfolgerung der Cepal-Studie »Sozialer Zusammenhalt: Einbezug und Zugehörigkeitsgefühl in Lateinamerika und der Karibik« (Cepal 2007c) wichtig: Die Entwicklung der Sozialausgaben verlief parallel zum regionalen Wirtschaftswachstum, wurde aber auch in Krisenzeiten beibehalten. Das bedeutet, dass zwar ein prozyklisches Verhältnis zwischen Sozialausgaben und Wirtschaftswachstum bestand (siehe Abbildung 3), sich jene aber auch in Zeiten geringeren Wachstums – oder während Krisen – hartnäckig hielten. Beispielsweise wuchsen Anfang der 90er Jahre die Sozialausgaben fast dreimal so schnell wie die Wirtschaft. In Krisenzeiten – wie 1995 in Mexiko und 2002 in Argentinien – zeigten die Sozialausgaben die größte Resistenz. Auch die Erfahrung Brasiliens beweist die zunehmende Rigidität der Sozialausgaben unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung (Araújo).

Das prozyklische Verhalten der Sozialausgaben hängt größtenteils von der Finanzkraft des Staates ab. Die jüngste Ausgabensteigerung ist in erster Linie das Ergebnis der Erhöhung der Steuerquote. Wie bereits erwähnt, zeigen die Sozialausgaben auch in Krisenzeiten einen gewissen Widerstand gegen ein Absenken. Die Politik ist in diesem Sinne eine nicht zyklische Determinante der Sozialausgaben. Indem sie sich stärker um die sozialen Fragen kümmern, reagieren die Regierungen auf ihre Wähler. Der Wahlmarathon in Lateinamerika half dabei, dass die Sozialpolitik ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet und sie ins Zentrum der politischen Debatte rückte. Bis 2002 forderte man aufgrund fehlender wirtschaftlicher Dynamik eine Fokussierung der Sozialpolitik auf besonders bedürftige Gruppen. Die am stärksten auf liberale Reformen verpflichteten Sektoren stützten diese Diagnose und setzten sie in zielgruppenspezifische Programme um. Diese Programme erreichten anfangs auch eine beachtliche Zahl von Menschen und führten zu einem Anstieg der Ausgaben.

Die Sozialausgaben verbesserten nicht nur die soziale Lage, sondern förderten auch den Massenkonsum und trugen so zum Wirtschaftswachstum bei. Die Programme zur Bekämpfung von Kinder- und Zwangsarbeit sowie die Subventionen zur Verbesserung und Verbreitung der Schulbildung und der Sozialvorsorge lindern den Druck auf den Arbeitsmarkt. Zusammen mit den Lohnerhöhungen aufgrund zunehmender Verhandlungsstärke der Gewerkschaften und der Programme zur Einkommensumverteilung führt dies zu höheren Staatseinnahmen. Zusätzliche Impulse gehen vom verbesserten Kreditangebot für Konsumenten- (z.B. für Fahrzeuge) oder Investitionskredite (z.B. für Wohnungen) aus. Im Fall Brasiliens wurde die Ausweitung des Kreditangebots durch die Regierung gefördert und ermöglicht heute einer breiteren Bevölkerungsschicht Zugang zu kostengünstigen Bankkrediten.

Der Konsumanstieg stimuliert nun den Binnenmarkt, und die Nutzung der vorhandenen Produktionskapazitäten fördert Investitionsentscheidungen sowie Anstrengungen für eine höhere Produktivität. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Importe von Konkurrenzprodukten aufgrund des in den meisten Ländern abgewerteten US-Dollars. Dieser Zyklus führt zu einer höheren Nachfrage nach Energie und Logistik, was wiederum mehr Infrastruktur verlangt, um die Produktion weiter zu steigern. Hier spielen die staatlichen Investitionen eine grundlegende Rolle (Afonso/Biasoto/Araújo).

Die Anfälligkeit für externe Schocks muss in diesem virtuosen Kreislauf minimiert und unter Kontrolle gehalten werden. Die jüngsten Ergebnisse der lateinamerikanischen Zahlungsbilanz ermöglichten die Ausweitung des Konsums: Die Verbesserung der internationalen Austauschverhältnisse (um 20% zwischen 2002 und 2007), die starke Zunahme der Ausfuhren (um 100% zwischen 2000 und 2007), die Überschüsse in der Leistungsbilanz und folglich die Erhöhung der internationalen Reserven bilden zusammen ein noch nie da gewesenes Szenario. Zahlreiche Länder konnten ihre Nettoauslandsverschuldung deutlich verringern: Ende 2007 wurde die Bruttoverschuldung der Region auf 677 Milliarden mit Reserven von 440 Milliarden US-Dollar geschätzt. 2002 hatten die Verschuldung noch 746 Milliarden und die Reserven 165 Milliarden US-Dollar betragen (Cepal 2007a).

Lateinamerika befindet sich heute bei geringerer Anfälligkeit für äußere Einflüsse in einem makroökonomischen Gleichgewicht. Die Inflation konnte in den vergangenen Jahren kontrolliert werden. 2002 hatte sich in der Region die durchschnittliche Inflation gegenüber dem Vorjahr noch auf 12,2% verdoppelt. Auslöser dafür waren die Argentinienkrise und der Spekulationsdruck in Brasilien. 2006 fiel die Inflation zurück auf 5% und 2007 betrug sie nur 6,1%. Neben anderen Faktoren ist diese Entwicklung auf die Wechselkurse zurückzuführen. Ausgehend vom Jahr 2000 war der effektive reale Wechselkurs in der Region bis 2007 um nur 11% unterbewertet, nachdem die Unterbewertung 2004 noch nahezu 25% betrug. Diese jüngste Aufwertung oder Stabilität des realen Wechselkurses lässt sich in fast allen Ländern be-obachten (Cepal 2007a).

Die Steuerergebnisse machten insbesondere in Ländern mit Einnahmen aus Rohstoffexporten bedeutende Haushaltsüberschüsse möglich. Im Durch-schnitt wurde in der Region aus einem Defizit (ohne Schuldendienst) von 0,3% des BIP 2003 ein Überschuss von 2,2% des BIP im Jahr 2007.

Im Ganzen betrachtet konnte ein bedeutender Fortschritt in den Sozialausgaben mit einem gleichzeitigen Wirtschaftsaufschwung bei makroökonomischem Gleichgewicht verzeichnet werden. Bisher entstanden durch die Steigerung der Sozialausgaben keine Finanzierungsschwierigkeiten. Im Gegenteil, sie leisten einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der binnenwirtschaftlichen Aktivität. Jedoch reichen die Sozialausgaben einiger Länder der Region noch lange nicht, um die Bedürfnisse und die Rechte der Bevölkerung zu erfüllen. Die neuesten Herausforderungen für die Entwicklung

Obwohl die jüngsten Erfahrungen in Lateinamerika erlaubten, steigende Sozialausgaben mit Wirtschaftswachstum in Einklang zu bringen, ist der damit erzielte Wohlstand noch ungenügend. Die Forderungen nach mehr Rechten nehmen zu, seien diese wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Art. Damit alle diese Rechte genießen können muss der Staat die erforderlichen Dienste auf effizienteste Weise bereitstellen. Allerdings ist dies für viele Staaten aufgrund fehlender Ressourcen, regressiver politischer Maßnahmen oder aus Mangel an entsprechenden Fähigkeiten nur beschränkt möglich.

Schon 2002 warnte die Cepal vor den Schwierigkeiten, beides in Einklang zu bringen. »Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte müssen mit dem erreichten Entwicklungsstand und dem bestehenden »Fiskalvertrag« kompatibel sein. So kann verhindert werden, dass Erwartungen enttäuscht werden oder zu makroökonomischen Ungleichgewichten führen, die wiederum – über Umwege – gerade diejenigen negativ treffen, die man eigentlich schützen will« (Cepal 2002).

Vor diesem Hintergrund sind die bereits erwähnte wirtschaftspolitische Reife und die Leistungsfähigkeit der Sozialpolitik Schlüsselfaktoren für die Bewältigung neuer Herausforderungen. Des Weiteren müssen durch Produktions- und Produktivitätssteigerungen mehr Ressourcen aufgebracht und die sozialen Dienste effizienter verwaltet werden. Jedoch hatte bereits Lerda (2008) festgehalten, »dass jedes Land nur das Maß an Gerechtigkeit erwarten darf, das sich durch die Staatskasse finanzieren lässt«. Die zwei zentralen Herausforderungen sind daher: eine neue steuerpolitische Agenda und eine höhere Effizienz in den Sozialausgaben.

Der Weg zu einer neuen Steuerpolitik. Das Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit kann für eine Steuerreform in Lateinamerika zur zentralen Frage werden (Centrángolo/Sabaini). In den 80er und 90er Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Mehrwertsteuer. Diese Steuerreform war jedoch unvollständig: Die Einnahmen sind noch immer gering, die Erhebung verursacht hohe Kosten und ist sehr komplex (compliance), das System ist für Unternehmen weiterhin ineffizient (nicht konkurrenzfähig) und für Familien ungerecht (regressiv).

Die Mehrwertsteuer als Pfeiler der Staatseinnahmen müsste durch Einkommens- und Vermögenssteuern ersetzt werden. In diesem Bereich ist der Abstand zwischen den lateinamerikanischen Wirtschaften und den Industriestaaten sehr groß. Ein Vergleich (Barreix/Roca) zeigt in den OECD-Ländern eine durchschnittliche Steuerbelastung von 35,9% des BIP gegenüber 20,5% des BIP in Lateinamerika. Demnach nehmen diese Länder relativ gesehen das 1,5fache ein. Diese Zahl bezieht jedoch noch nicht die unterschiedlichen Steuerarten ein: Durch die Mehrwertsteuer nahmen die OECD-Länder nur wenig mehr ein als die lateinamerikanischen, während die Unterschiede bei der Einkommensteuer relativ mehr als das Doppelte betrugen und bei der Besteuerung der Privateinkommen sogar mehr als das 6fache.

Dieser statistische Vergleich führt zu einigen Überlegungen über die Hauptmerkmale der lateinamerikanischen Steuerstruktur. Die lateinamerikanische Mehrwertsteuer ist ähnlich ausgelegt und organisiert wie die europäische. Die Steuersätze sind jedoch in der Regel höher, die Steuerbasis ist enger, und die Zahlung erfolgt über komplizierte Mechanismen.

An sich ist die Mehrwertsteuer ein gutes Instrument; sie hat jedoch nur einen bescheidenen Verteilungseffekt (Barreix/Roca). Das durch hohe Ungleichheit gekennzeichnete Lateinamerika sollte daher bei der Erhebung dieser Steuer sehr selektiv vorgehen. Dazu gehören eine stärkere Abstufung der einzelnen Steuersätze, eine höhere Belastung von Luxusgütern und entbehrlichen Produkten sowie eine niedrigere Belastung des Grundbedarfs. Diese Kriterien werden jedoch durch die Einfachheit der Steuer, die Konzentration auf die Importbesteuerung und durch Veranschlagungen nach Vermutungsregelung (einschließlich des Steuerersatzes und der Steuerpflicht der Kleinstunternehmen, die sich nur auf den Gesamtumsatz beziehen) behindert. Entgegen den wissen-schaftlichen Empfehlungen und dem gesunden Menschenverstand tendieren die lateinamerikanischen Steuersysteme dazu, sich auf die indirekten Steuern zu konzentrieren, die regressiv wirken, wie am Fall Brasiliens deutlich wird.

Die großen Hoffnungen einer neuen Reform müssten sich demnach auf die Besteuerung der Einkommen und Gewinne von Privatpersonen konzentrieren. In Lateinamerika wurden die Steuersätze auf Prozentwerte gesenkt, die leicht unter denen der Industriestaaten liegen; die Basis ist jedoch aufgrund von Befreiungen sehr beschränkt. Der Vergleich mit der OECD zeigt das mög-liche Einnahmepotential, denn es gibt keinerlei Rechtfertigung für den großen Unterschied zwischen der privaten Einkommensteuer und den an-deren Steuern in Lateinamerika. Solch eine Reform hätte zusätzlich zu höheren Staatseinnahmen auch einen Umverteilungseffekt.

Während fast alle lateinamerikanischen Länder zur Einführung und Erhebung von als zweifelhaft und umstritten erachteten Steuern neigen – wie die Steuer auf Finanztransaktionen und Ausfuhren sowie die Flut von vereinfachten Steuererklärungen – nehmen sie sehr wenig durch Vermögenssteuern ein, obwohl einige Länder sogar so innovativ waren, die Unternehmensaktiva zu besteuern.

Bei den Steuern auf Löhne und Gehälter generieren die lateinamerikanischen Staaten trotz der sehr hohen Steuersätze viel weniger Einnahmen als die OECD-Staaten. Verschiedene Faktoren sind dafür verantwortlich: der kleinere Anteil des formellen Arbeitsmarktes, die hohen und strukturellen Arbeits-losenquoten und die Tatsache, dass reiche Bürger häufig als Einzelunternehmen agieren. Die Herausforderung ist größer als sie scheint. In jeder Weltregion wird der Steuereinzug durch Schwierigkeiten bei der sachgemäßen Bestimmung und Veranschlagung von neuen und wachsenden Aktivitäten – wie elektronischer Handel, persönliche Dienstleistungen, Landwirtschaft, Mikrounternehmen und Schwarzarbeit – erschwert. Vor welchen Problemen steht erst eine Region, in der dies durch ungleiche Einkommen, unterschiedliche Kaufkraft und Verteilung des Reichtums verstärkt wird. Die Einführung eines gerechteren Steuersystems wird dadurch natürlich erschwert. Es ist schwierig Einkommensteuern zu erheben, wenn die Gesellschaft nur über eine dünne Mittelschicht verfügt und die wenigen Reichen ihre hohen Einkommen im Ausland oder in Unternehmen haben. Es ist noch schwieriger eine Vermögens-steuer zu erheben, wenn der größte Anteil der Bevölkerung in elenden Behausungen in den Städten lebt, während auf dem Land der Großgrundbesitz blüht und dessen Eigentümer die lokale Politik dominieren.

Die Formalisierung des Handels und des Arbeitsmarktes sind weitere Herausforderungen. Die Sozialabgaben und andere Arten von Lohnsteuern sind ebenfalls ein zentrales Thema bei der Ausarbeitung einer neuen Agenda für gerechte Steuern. Das Problem besteht nicht nur darin, dass unqualifizierte Arbeiter mit niedrigen Löhnen keine formelle Anstellung erhalten und daher außerhalb der formellen Arbeitswelt einen informellen Sektor bilden, der mitunter eine Volkswirtschaft dominiert. Immer häufiger steigen auch hochqualifizierte Arbeitnehmer aus dem formellen Arbeitsmarkt aus, um als Selbstständige tätig zu werden. Dies ist oft durch fehlende Optionen bedingt, da der Arbeitgeber zur Minimierung seiner Steuerkosten und Risiken (als Arbeitgeber) eine Scheinselbstständigkeit bevorzugt. Dieses seit einiger Zeit in Chile verbreitete Phänomen wiederholt sich auch in den großen und kleinen Volkswirtschaften, wie Brasilien und Ecuador. Für Unternehmer ist es oft einfacher, Arbeiter als Dienstleister statt als Ange-stellte unter Vertrag zu nehmen. Dadurch wird nicht nur die Basis für die Sozialabgaben reduziert, sondern auch die Zahl der Arbeitsplätze, die der Einkommensteuer unterliegen. Mit derart großen Herausforderungen konfrontiert, verlangt eine Steuer-reform hin zu mehr Gerechtigkeit eine stärkere und entschiedenere öffentliche Unterstützung als die Reformen Ende des vergangenen Jahrhunderts. Manches lässt jedoch einen gewissen Optimismus zu. Die institutionellen Fortschritte im Hinblick auf einen transparenteren Staatshaushalt, das größere öffentliche Interesse an Haushaltsfragen, eine bessere Bildung sowie das höhere Verantwortungsbewusstsein der Gesetzgeber sind nicht von der Hand zu weisen. Zudem wurden die Verfahren zur Steuererhebung und die Steuerverwaltung modernisiert: Es wurden hohe Investitionen in die Automatisierung gesteckt, oft mit entschiedener Unterstützung multilateraler Organisationen. Der in vielen Ländern der Region vorherrschende »Erhebungs-pragmatismus« (Methoden nach Vermutungsregelung, Steuerpflichtsubstitution, vereinfachte Steuererklärungen sowie temporäre Steuern auf Finanztrans-aktionen) muss endlich abgelegt und mit einer modernen Steuerstruktur und -verwaltung in Einklang gebracht werden.

Der Weg zu effizienten Sozialausgaben. Wie bereits erwähnt, verzeichneten die Sozialausgaben in Lateinamerika einen bedeutenden Anstieg mit beträcht-lichen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern. Während ihr Niveau in einigen Sektoren noch unzureichend ist, waren die Ausgaben für die Rentenversicherung für einen großen Anteil dieses Anstiegs verantwortlich. Vor diesem Hintergrund bestehen zwei Herausforderungen: zu unterscheiden, wo weitere Ressourcen erforderlich sind und eine größere Ausgabeneffizienz zu erreichen.

Viele Länder finanzieren die gestiegenen Sozialausgaben durch Steuererhöhungen. Das führt zu starken Widerständen, die ein solches Vorgehen oftmals scheitern lassen. Länder mit einer geringeren Steuerlast, wie Mexiko oder die Länder in Zentralamerika, versuchen die gestiegenen Sozialausgaben durch außersteuerliche Ressourcen zu decken – wie mit Mitteln aus Staatsunternehmen, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen oder durch Entwicklungshilfe. Auch Länder mit höherer Steuerbelastung, die ihre Steuerbasis erweiterten und die Erhebung modernisierten, kommen so zu zusätzlichen Ressourcen. Ein Beispiel dafür ist Chile, wo in den 90er Jahren die Steuereinnahmen zur Finanzierung der Sozialausgaben erhöht werden konnten. In Brasilien erlaubte die Erhöhung der Sozialabgaben die Deckung dieser Ausgaben.

In den vergangenen Jahren ist der öffentliche Druck zur Erhöhung der Sozial-ausgaben dank der Inanspruchnahme demokratischer Rechte in den jungen Demokratien gestiegen. Der höhere Anteil der Sozialversicherungen an den Sozialausgaben spiegelt ebenso die demografischen Veränderungen wider wie die Wiederherstellung der realen Kaufkraft der Pensionsansprüche. Nach deren Erosion in den unterschiedlichen Krisen wurden in vielen Fällen die Mindestrenten erhöht. In verschiedenen Ländern wird weiterhin über die Zukunft und die Finanzierung der Sozialvorsorge debattiert. In anderen Bereichen der Sozialausgaben, wie Gesundheitswesen und Bildung, versuchte man die Budgets zu konsolidieren oder Mechanismen zu finden, die ein be-stimmtes Ausgabenniveau sicherstellen. In Brasilien wurden die Gesundheits-ausgaben zum Beispiel an die Entwicklung des BIP gebunden.

Vor dem Hintergrund dieser zwei Bewegungen (Erhöhung des Steuerdrucks und der Sozialausgaben) wird unter den lateinamerikanischen Steuerpflichtigen (natürlichen sowie juristischen Personen) weiterhin über die Grenzen der neuen Steuern und Beiträge sowie deren reellen Auswirkungen auf die Armut und Ungleichheit diskutiert. Obwohl dieses Thema vor allem die formelle Wirtschaft betrifft, die die direkten Steuern bezahlt, ist durch den hohen Anteil regressiver und indirekter Steuern und die überall gebräuchliche Mehrwertsteuer die gesamte Bevölkerung betroffen. Zudem ist der Zugang zu den Sozialleistungen unterschiedlich. Der formelle Sektor kann seine Rechte auf Vorsorge einfordern, während die ärmere Bevölkerung, die meist im informellen Sektor tätig ist, ihre Forderungen vor allem auf die elementaren öffent-lichen Leistungen des Gesundheitswesens und der Bildung konzentriert.

In dieser Debatte wird vor allem auch Kritik an der Ineffizienz der Sozialausgaben laut. Verschiedene Erhebungen im Bildungssektor und im Gesundheitswesen belegen das schlechte Abschneiden der Region. Sie zeigen auch, dass höhere Sozialausgaben nicht zwingend zu besseren Ergebnissen führen. Ribeiro (2008) identifiziert in Ländern mit geringeren Gesamtausgaben eine höhere Effizienz der öffentlichen Ausgaben. Im Fall Brasiliens warnte Mesa-Lago (2007) vor einem Einsatz der Gesundheitsausgaben zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit.

Welche Strategien verfolgen nun die Länder der Region im Bezug auf die Sozialausgaben? Eine erste Strategie ist die »soziale Integration«: Sie versucht die ausgeschlossenen Gruppen zu identifizieren und sie mit Notfallmaßnahmen derart zu unterstützen, dass ihre Verwundbarkeit gemindert wird. Die Programme zur Einkommensumverteilung, wie Bolsa Família in Brasilien, Oportunidades in Mexiko oder Chile Solidario sind einige Bespiele dafür. Die Erhöhung des humanen und sozialen Kapitals ist eine weitere Strategie zur Förderung des Ausbildungsstandes von Personen und Institutionen über den universellen Zugang zu qualitativ guter Bildung, zur Gesundheitsversorgung und zu sozialer Sicherheit. Die brasilianische Verfassung von 1988 ist ein Beispiel für den Versuch einer solchen auf Bürgerrechten und Solidarität gegründeten Strategie. Eine dritte Strategie ist die der freien Initiative, die theoretisch versucht, gleiche Chancen für alle zu schaffen, wobei der Staat weniger eingreift, weil die Anstrengungen der Einzelnen ökonomisch belohnt und die Ressourcen besser zugewiesen werden. Diese letzte Strategie bildete die Grundlage für die neoliberalen Reformen der 90er Jahre.

Die heutige lateinamerikanische Realität ist das Ergebnis einer Kombination dieser Strategien. Die Wirtschaft konnte stabilisiert, die Armut und das Elend reduziert und das Wachstum angekurbelt werden. Schaffen wir jedoch tatsächlich gerechtere soziale Strukturen? Die Ungleichheit mag sich vermindert haben, aber die Gewalt nimmt nahezu unerträgliche Ausmaße an. Das Wirtschaftswachstum mag wieder gestiegen sein, aber die Aussichten auf einen sozialen Aufstieg durch Lohnarbeit scheinen immer geringer. Während wir uns über die wenigen zusätzlichen Pesos für die ärmsten Sektoren freuen, wird die Mittelschicht von der Steuerlast erdrückt. Während die Unternehmer in einer Wirtschaft mit geringer Inflation ihre Firmen besser führen können, sind sie auf den of-fenen, globalisierten Märkten allen Risiken des Wettbewerbs ausgesetzt. Und schließlich sehen wir einen weiter wachsenden Staat, der jedoch seine Versprechungen vielfach nicht erfüllt und häufig von politischen Führern kontrolliert wird, die durch Korruption und Ungerechtigkeiten etliche ethische Fragen aufwerfen.

Schlussfolgerungen

Die Überlegungen zur Notwendigkeit einer neuen Steuerpolitik und zur Verbesserung der Effizienz der Sozialausgaben gründen auf einer einfachen aber wesentlichen Idee: Die Sozialpolitik darf nicht von der Wirtschaftspolitik isoliert behandelt werden. Es ist nicht mit Programmen zur Einkommensumverteilung getan; auch der universelle Zugang zur Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze sind zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts unverzichtbar. Dieses für die europäischen Länder so kostbare Ideal findet auch in Lateinamerika zunehmend Beachtung. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass der europäische Sozial-staat auf einer anderen Steuerstruktur basiert: Er nimmt nicht nur mehr ein, sondern tut dies durch höhere Steuern auf Gewinne und Vermögen und geringere Konsumsteuern auch in hohem Masse progressiv – genau das Gegenteil der lateinamerikanischen Strategie.

In Lateinamerika herrscht ein wachsendes Bedürfnis nach Festigung der Demokratie und nach Verminderung der Armut und Ungleichheit. Diese Probleme lassen sich nicht nur über die öffentlichen Ausgaben lösen. Es ist nicht damit getan die Sozialausgaben zu erhöhen. Die Schwere des Problems und der gesellschaftliche Druck, Lösungen zu finden, haben die Aufmerksamkeit auf neue Fragen gerichtet. Die großen Herausforderungen liegen in einer sozialen Strategie, die auch das Steuersystem und eine höhere Produktivität der Sozialausgaben durch die Modernisierung der Verwaltung ein-schließt. Es ist notwendig, sich mit der Verteilung der Steuern auf die unter-schiedlichen Schichten in der Gesellschaft zu beschäftigen und gleichzeitig damit, wie die öffentlichen Mittel den unterschiedlichen sozialen Sektoren zugewiesen werden. Mittel- und langfristig wird der Erfolg dieser Aufgabe – mehr einnehmen und besser ausgeben – für den Fortschritt und die Festigung des wirtschaft-lichen und sozialen Wohlstands in Lateinamerika entscheidend sein.

Bibliographie

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Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2008, ISSN: 0251-3552


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