Artículo
NUSO Nº Januar 2007

Hat Bolivien seine Zukunft verpfändet?

Zusammenfassung | Seit Evo Morales die Regierung übernommen hat, sind die Probleme Boliviens nicht weniger geworden: die Spannungen mit der Opposition, vor allem in Santa Cruz, um die Autonomiefrage, die Konflikte mit anderen Departmentsregierungen und die Forderungen der indigenen Bevölkerung machen die Lage für die Regierung schwierig. Wirtschaftlich durch die Verstaatlichung von Erdöl und Erdgas gestärkt, versucht die Regierung den Forderungen ihrer Basis so weit wie möglich entgegenzukommen. Das aber hat dazu geführt, dass in der Verwaltung eine große Zahl neuer, wenig erfahrener und wenig effizienter Bediensteter arbeitet und die tief verwurzelte Gewohnheit, Forderungen durch Streiks und Wegeblockaden auf die Straße zu tragen, stark zugenommen hat.

Hat Bolivien seine Zukunft verpfändet?

Wenn es eine Konstante in der Geschichte Boliviens gibt, so ist das die Schwierigkeit, das Land zu regieren. Die Schwierigkeit, Institutionen zu schaffen, die von der Bevölkerung als legitim angesehen werden, und die in der Lage sind, dauerhafte Mechanismen zur Verwaltung des Landes zu schaffen. Die erste verfassungsmäßige Regierung nach der unruhigen, von zahlreichen Staatsstreichen gekennzeichneten Zeit der Militärregime (1964-1982) weckte Erwartungen auf ein Ende dieser chronischen Instabilität. Insbesondere nach 1985 verstärkte sich diese Hoffnung, als Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR, Nationalistische Revolutionäre Bewegung) und Alianza Democrática Nacional (ADN, Demokratisch-Nationale Allianz) zusammen die Regierung stellten.

Bis 1999 herrschte der Eindruck vor, dass Bolivien dabei war, Verwaltungsstrukturen zu schaffen, die glaubhafte Garantien für ein geregeltes, demokratisches Leben versprachen, z.B. unabhängige Wahlen, Verbesserung des Wahlsystems, Ernennung höherer Beamter durch eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments, sowie Einrichtung eines Verfassungsgerichts und einer Ombudsstelle.

Das Glück war jedoch nur von kurzer Dauer. Die institutionelle Schwäche des Reformprozesses lässt sich symbolisch an zwei Momenten festmachen. Der erste ist die Regierungskoalition von 1989, mit der Jaime Paz Präsident des Landes wurde. Die Wahlen, bei denen der Kandidat des MNR mit 23 Prozent der Stimmen vor Hugo Banzer Suárez (ADN) mit 22,7 Prozent und dem Kandidaten der Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR, Bewegung der Revolutionären Linken) (19,6 Prozent der Stimmen) an der Spitze lag, endeten mit dem Acuerdo Patriótico (»Patriotischen Pakt«) zwischen MIR und ADN, durch den der Kandidat der MIR Präsident werden konnte. Um ins höchste Staatsamt zu gelangen, hatte sich Jaime Paz, der sich im Kampf gegen die Diktatur des Generals Hugo Banzer (1971-1978) im Namen sozialistischer, vom Marxismus inspirierter Ideen einen Namen gemacht hatte und außerdem an der von 1982 bis 1985 regierenden Mitte-Links-Koalition der Unión Democrática y Popular (UDP, Demokratischen Volksunion) beteiligt gewesen war, mit seinem früheren Erzfeind verbündet. Diese politische 180-Grad-Wendung, die pragmatischer nicht hätte sein können und vom Fehlen jeglicher Überzeugungen auf Seiten der Parteiführer des MIR zeugte, stieß bei der Bevölkerung moralisch auf Ablehnung. Genauso wichtig ist aber, dass seitdem die Grenzen zwischen den bedeutendsten politischen Parteien Boliviens verschwommen und Wahlbündnisse auf Grund klarer, programmatischer Aussagen unmöglich geworden sind. Das Problem verschärft sich dadurch, dass der Präsidenten letztendlich vom Parlament ernannt wird. Erhält kein Kandidat die absolute Mehrheit, müssen die Fraktionen verschiedener Kandidaten nach der Wahl gegebenenfalls ein Bündnis eingehen, um den Präsidenten zu wählen. Dadurch sollte eine Mehrheit im Parlament sicher gestellt werden, wenn kein Kandidat die absolute Mehrheit erhielt. Nach dem »Verrat« der MIR wurde für jedoch offensichtlich, dass der Gewählte sich noch nach der Wahl mit einem Kandidaten zusammentun konnte, dem man um nichts auf der Welt seine Stimme gegeben hätte. Durch dieses »unnatürliche« Bündnis gerieten nicht nur die politischen Parteien in Verruf, auch das Wahlsystem selbst verlor an Legitimität.

Zum zweiten symbolische Bruch kam es unerwartet im Jahr 2000 während der Präsidentschaft von Hugo Banzer (1997-2000), als der „Wasserkrieg" um die Anullierung der Konzession der Wasserversorgung von Cochabamba ausbrach. Die Stadt hatte diese dem Konsortium Aguas del Tunari überlassen, dessen Hauptaktionär das US-amerikanische Unternehmen Bechtel war. Als die Regierung der Mobilisierung durch die Coordinadora del Agua y de la Vida (Koordination der Aktionsgruppen gegen die Privatisierung der Wasserwirtschaft), in der die Verbraucher sich mit der Dachgewerkschaft der Industriearbeiter, der Föderation der Kleinbauern, dem Studentenbund und schließlich auch mit der Gewerkschaft der Kokabauern zusammenschlossen, nicht mehr gewachsen war, rief sie den Belagerungszustand aus. Doch war Hugo Banzer unfähig, ihn durchzusetzen. Die Unruhen fanden erst ein Ende, als den Forderungen der Coordinadora nachgegeben und der Vertrag mit Aguas del Tunari annulliert wurde.

Alle Regierungen nach 1985 habten den Belagerungszustand als Mittel zur Unterdrückung soziale Unruhen eingesetzt, aber erstmals führte diese letzte Mittel der Regierung nicht zum Erfolg. Außerdem hatte es ganz offensichtlich beachtliche Wirkung, dass nicht einmal mehr ein General und ehemaliger Diktator dem Volk mit der Armee Angst machen konnte. Im Klartext: Den Protestbewegungen standen nun alle Türen offen und keine Macht hätte sie aufhalten können, ganz gleich wie schlecht sie selber organisiert waren.

Das Zusammentreffen beider Phänomene – fortschreitender Verlust an Glaubwürdigkeit der politischen Elite und zunehmende Macht der Protestbewegungen – führte zur Entstehung einer neuen politischen Elite mit Evo Morales als Gallionsfigur und einigendem Element. Das war im Jahre 2002, als Morales die Präsidentschaftswahlen nur knapp verlor.

In dem Maße wie die politische Elite an Unterstützung verlor, führten die Regierungen sukzessive neue Formen politischer Repräsentation ein, durch die die Anzahl der Kandidaten für politische Ämter beträchtlich anstieg. Das Gesetz über die gesellschaftliche Partizipation teilte das Land in 311 Gemeinden auf. Neben Bürgermeistern und Gemeinderäten wurden nun auch die Verantwortlichen für die Comités de Vigilancia gewählt – Bürgerkomitees, die die Prioritäten für Entwicklungs- und Investitionsprojekte festlegen und deren Umsetzung überwachen sollen. Diese werden wiederum von den Territorialen Basisorganisationen (OTB) eingesetzt, denen der Status einer juristischen Person zuerkannt wird. Obwohl dieses Gesetz zunächst der Beratung und Schlichtung zwischen Zentral- und Kommunalverwaltungen dienen sollte, schuf es durch die Einbeziehung ländlicher Regionen ins politische Leben eine ganze Reihe neuer politischer Partizipationsmöglichkeiten.

Dieses System wurde durch die Einrichtung eines aus Vertretern der Kommunen zusammengesetzten Regionalrats ergänzt (Dezentralisierungsgesetz von 1995). Schließlich wurde das Land in Wahlbezirke eingeteilt, in denen die Hälfte der Abgeordneten in Direktwahl gewählt wird, während die übrigen weiterhin nach einem Proportionalsystem über Listen bestimmt werden.

All diese Maßnahmen zur Verkleinerung der Kluft zwischen Wählern und Gewählten verringerten aber auch den Einfluss der Parteien auf ihre Vertreter. Diese schlossen sich von Region zu Region in verschiedensten und widersprüchlichsten Vereinigungen zusammen und schürten so Konflikte um die Vormachtstellung in den Regionen. Aber das Wichtigste dabei ist, dass die Stadträte, Honoratioren oder lokale Führungspersönlichkeiten in der Geschichte Boliviens nie so viele Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg über die Politik hatten. Vor dem Hintergrund der deskreditierten herkömmlichen politischen Strukturen wuchsen Machthunger und Machtkampf ins Unermessliche. Schließlich gab die Regierung unter Carlos Mesa Gisbert im Juli 2004 dem Druck nach und schaffte das Parteienmonopol ab. Fortan konnten also auch Bürgerinitiativen oder indigene Völker ihre Kandidaten aufstellen. Die neuen Bestimmungen traten zu den Gemeindewahlen im Dezember 2004 in Kraft. Die Wahlen im Dezember 2005 brachten eine ganz neue Zusammensetzung der Parteienlandschaft. Altparteien wie MIR und ADN waren nicht mehr vertreten und die MAS, die sich als »politisches Instrument« und einigende Kraft der »sozialen Bewegungen« verstand, trug den Sieg davon. Für viele verkörperte die MAS eine neue Form der Repräsentation der nationalen Interessen.

Da die früheren Protestbewegungen nun sowohl in der Regierung als auch in den zwei Kammern des Parlaments stark vertreten sind, vermittelte der glänzende Sieg von Evo Morales zunächst den Eindruck, man befände sich auf dem Weg zu sozialem Frieden. Nach mehr als einem Jahr Präsidentschaft wird aber deutlich, dass man sich nicht nur nicht auf dem Weg zu einem neuen Gleichgewicht befindet, sondern die Risse tiefer geworden sind und die Bedrohung durch soziale und politische Konfrontationen stark zugenommen hat.

Segmentäre Anarchie

Die bedeutendste Opposition für die Regierung sind die Präfekten und Bürgerkomitees der östlichen Departments Boliviens. Das gilt vor allem für Santa Cruz, aber auch für Beni, Tarija und Pando. Deren Opposition entzündete sich an der Frage der »Autonomie der Departments«, die seit Ende der Militärregime (1964-1982) immer wieder aufkommt. Vor den unter Sánchez de Lozada erlassenen Gesetzen zur gesellschaftlichen Partizipation (1994) und zur Verwaltungsdezentralisierung (1995) hatte Santa Cruz bereits eine Reihe von Entwürfen ausgearbeitet, die in ihren Forderungen über letzteres hinausgingen. Im Fieber der seit dem Jahr 2000 das Land aufwühlenden Protestbewegungen und angesichts der sich dem Liberalismus widersetzenden »sozialen Bewegungen«, die damit drohten, das Erdöl zu verstaatlichen und die Agrarreformen zu radikalisieren (bei gleichzeitiger Zunahme von Landbesetzungen) wurde das Anliegen der Dezentralisierung zur Forderung nach Autonomie. Durch verschiedene Mobilisierungen, die vom Bürgerkomitee von Santa Cruz ins Leben gerufen worden waren (Bürgerversammlung vom 22. Januar 2004 mit 250.000 Teilnehmern, Bürgerversammlung vom 28. Januar 2005 mit 350.000 Teilnehmern, 400.000 Unterschriften zur Einforderung einer Volksbefragung zur Autonomie), gelang es, der Regierung unter Carlos Mesa Gisbert die Direktwahl der Präfekte abzuringen, die bis dahin von der Exekutive ernannt wurden. Diese Wahlen fanden gleichzeitig mit den landesweiten Wahlen im Dezember 2005 statt, die Evo Morales zur Präsidentschaft verhalfen und den Einfluss der MAS im Parlament stärkten.

Letztendlich wurden nur in drei Departments der Regierung nahe stehende Präfekte gewählt, nämlich in Oruro, Potosí und Chuquisaca. Die sechs übrigen Departments wählten Präfekte aus den Reihen der Opposition. Santa Cruz gelang es, bei Carlos Mesa ein Referendum zur Autonomie der Departments durchzusetzen, das schließlich zusammen mit der Wahl der Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung im Juli 2006 stattfand. Die Ergebnisse des Referendums zeigten eindeutig, dass Bolivien ein geteiltes Land ist. Während der Osten für die Autonomie stimmte (71 Prozent in Santa Cruz), sprach sich der Westen eindeutig dagegen aus (73 Prozent in La Paz) und folgte damit dem Aufruf der Regierung. Im Landesdurchschnitt stimmte eine Mehrheit von 57,6 Prozent gegen die Autonomie der Departments.

Es ist klar, dass es sich hier um eine Grundsatzdiskussion handelt, bei der nicht gerade wenig auf dem Spiel steht. Es ging nämlich nicht nur um Macht und Regierungsformen (auf nationaler wie auf Departments- und kommunaler Ebene), sondern auch um verschiedene Formen von Eigentum (vor allem Grundbesitz) und damit Lebensformen in allen ihren Dimensionen. Dieser Gegensatz war hauptsächlich von »ethnisierenden« Standpunkten aus motiviert: Weiße gegen Indios und umgekehrt, Ureinwohner gegen K'haras, Blancoïdes, Weiß-Mestizen...

Die extremen Gegensätze zeigten sich dabei in den entflammten Reden der Indiobewegung Movimiento Indio Pachakuti (MIP) einerseits und der Befreiungsbewegung der Camba-Nation, Movimiento Nación Camba de Liberación (MNCL) andererseits. Zur Zeit erhitzen die zukünftige Verfassung und die Agrarfrage die Gemüter. Es ist offensichtlich, dass Santa Cruz sich bei der Autonomiefrage auf die Stimmen der ostbolivianischen Departments stützt und alles unternehmen wird, um einen Verfassungsentwurf zu verhindern, der abgesehen von anderen Umbrüchen auch eine Neuordnung der Gebietskörperschaften vorsieht. Das war der Grund für den erbitterten Kampf um das Abstimmungsverfahren in der Verfassungsgebenden Versammlung, bei dem die MAS durchsetzen will, dass die absolute Mehrheit zur Abstimmung ausreichen soll, während gesetzlich die Zweidrittelmehrheit vorgesehen ist.

Das neue Agrarreformgesetz (Ley de Reconducción Comunitaria de la Reforma Agraria) sorgte ebenfalls für Aufregung. Es wurde in der Nacht vom 28. November 2006 mit den Stimmen dreier stellvertretender Senatoren in Abwesenheit der eigentlichen Mandatsträger verabschiedet – zusammen mit den neuen Verträge mit den internationalen Ölgesellschaften und dem Verteidigungsabkommen mit Venezuela. Das neue Gesetz erleichtert die Anfechtung der Besitzurkunden der Landeigentümer in Santa Cruz und damit die Landvergabe an landlose Bauern, die verstärkt Druck ausüben und zum Teil in der Movimiento de los Sin Tierra (MST, Bewegung der Landlosen) organisiert sind.Als Reaktion darauf mobilisierte Santa Cruz seine Truppen. Die Abgeordneten der Oppositionspartei Unidad Nacional organisierten traten in einen Hungerstreik, um die Zweidrittelmehrheit zur Abstimmung der neuen Verfassung zu verteidigen, dem sich bald 2000 Menschen in verschiedenen Städten des Landes – hauptsächlich in Santa Cruz – anschlossen. Die spektakulärste Aktion fand am 15. Dezember letzten Jahres statt: eine Kundgebung in den ostbolivianischen Departments versammelte eine Million Menschen. Das zeigte nach der Volksbefragung erneut, dass die Bevölkerung die Wortführer der Autonomie unterstützt.

Der Gegensatz zwischen Ost und West spielt für die Zukunft des Landes eine zentrale Rolle. Deshalb sollte darauf im Detail eingegangen werden. Da er aber weitestgehend dokumentiert ist und ständig zitiert wird, wende ich mich lieber anderen lokalen Phänomenen zu, die den gegenwärtigen Konflikt schüren und große Probleme für die Zukunft bringen, beispielsweise den ethnische Partikularismus.

Die Nutzung der kulturellen und ethnischen Problematik für die politische Mobilisierung kam in den 1970er Jahren auf, als die Gewerkschaftsbewegung der Bauern auf dem Altiplano damit begann, aus Verehrung der präkolonialen Gesellschaften Aymara zu sprechen und die heroische Geschichte der Entkolonisierungskämpfe mit ihrem Haupthelden Tupaq Katari zu schreiben. Damit bettete sie ihre Kämpfe in den größeren Rahmen einer gleichzeitig kulturellen und politischen »Befreiung« ein. Das Manifest von Tiwuanaco aus dem Jahre 1973 verlieh dieser neuen Vision Gestalt. Und seit Ende der 1970er Jahre bildete sich mit der Gründung der »kataristischen« politischen Parteien klar die Idee heraus, dass die »Indio-Nationen« sich selbst regieren müssen – zumindest sieht das so die Indigene Bewegung Movimiento Indigena Tupaq Katari (Mitka).

Seit den 1980er Jahren begannen die »Urvölker« der Tiefebenen sich zu organisieren. Dies endete mit der Gründung der Confederación de Pueblos Indígenas de Bolivia (Cidob, Konföderation der indigenen Völker Boliviens), wobei die Guaraní der Asamblea del Pueblo Guaraní (APG, Versammlung des Volkes der Guaraní) die größte Gruppe stellen. In letzter Zeit hat sich die ethnische Repräsentation der Departments des Altiplano, Oruro, Potosí und La Paz durch den Aymara-Rat Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qollasuyu (Conamaq) verändert. Dieser Rat, der in Opposition zu den von ihm als eine westliche und damit kolonialistische Organisation betrachteten – Bauerngewerkschaften steht, entstand nach und nach aus lokalen Organisationen, die sich über die alten indigenen Territorien (ayllus, markas, suyus) erstrecken und sich zuerst in ethnischen Föderationen und schließlich in dem genannten Rat zusammenschlossen.

Die ethnischen Organisationen des Aymara-Rats fordern nicht nur Respekt vor ihrer Kultur (Sprache, Bräuchen, Riten, etc.), sondern auch das Eigentum an ihrem Territorium und seinen Ressourcen, sowie schließlich dessen Verwaltung gemäß ihrer eigenen Sitten und Gebräuche (Ernennung der Amtsträger, Rechtssprechung, etc.).

Die Gebietsaufteilung unter diesen verschiedenen ethnischen Gruppierungen begann 1992 und ist noch nicht abgeschlossen. Seit Inkrafttreten des Agrarreformgesetzes von 1996 wurden den Gruppen Land in Form von indigenem Gemeindeeigentum (Tierras Comunitarias de Origen, TCO) zugeteilt. Dieses ist »unveräußerbar, unteilbar, kollektiv, unpfändbar«, ist nicht rückgängig zu machen und verjährt nicht. Die Landverteilung hatte in den Tiefebenen begonnen und weitete sich auf das Hochland aus: »Im Januar 2004 wurden mehr als 170 Anfragen für TCOs auf dem Altiplano mit einer beeindruckenden Gesamtfläche von 13,8 Millionen Hektar gezählt«, darunter zum Beispiel fast das gesamte Department Oruro.

»Um es ganz klar zu sagen: Wir, die Urvölker des Hochlands, sind die legitimen Eigentümer dieses Territoriums und seiner natürlichen Ressourcen«, erklärt Vicente Flores, Apumallku des Conamaq. Und diese Ressourcen möchten sie natürlich nach ihrem eigenen Ermessen nutzen. So erheben sie folgerichtig auch Anspruch auf eine »nationale«, je nach Gruppe unterschiedlich ausgeprägte Autonomie. Flores fügte noch hinzu: »Für uns macht der bolivianische Staat keinen Sinn, er taugt nichts.« So erklärt sich auch das Interesse an einer Verfassungsgebenden Versammlung, die zunächst von den Gruppen des Tieflandes auf einer »Demonstration für Volkssouveränität, Territorium und natürliche Ressourcen« im Mai 2002 gefordert wurde und Form wie Inhalte der Autonomie festlegen sollte.

Es ist kaum erkennbar, wie diese Autonomiebewegung, die aus Bolivien eine Art ethnischen Flickenteppich macht, aufgehalten werden kann. Zuerst wurde sie im Namen des Schutzes der Sprache, der kulturellen Vielfalt und der Umwelt von den verschiedensten Organisationen (Kirchen, nichtstaatlichen Organisationen, den verschiedenen mit den Regierungen kooperierenden Behörden, internationalen Organisationen, großen Hilfsorganisationen, Universitätsnetzwerken, etc.) unterstützt. Und nach und nach wurden mit Hilfe von Experten (Anthropologen, Linguisten, Historikern, Juristen, etc.) die Grenzen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen gezogen, ihre Geschichte dokumentiert und für die größten Gruppen die Sprache vereinheitlicht, um deren Unterrichtung zu ermöglichen.

Aber vor allem die Position der Regierung Evo Morales und der MAS-Abgeordneten in der Verfassungsgebenden Versammlung trug dazu bei, das Streben nach indigener Autonomie in der neuen Verfassung umzusetzen. Vorerst bleibt diese Debatte konfus. Es gibt zahlreiche Vorschläge und es ist schwer vorhersehbar, wie die neuen Gebietskörperschaften letztendlich definiert werden. Eine Studie zählt allein 23 Initiativen nur für das aymarasprachige Gebiet. Diese reichen von der Gründung bzw. Wiederherstellung staatsähnlicher Formen der Aymara-Nation über Projekte zur ihrer Integration auf eine Art und Weise, bei der die Komplementarität oder Verschiedenartigkeit dieser Gemeinschaft innerhalb der nationalen Einheit betont wird, bis zu intermediären Autonomieformen wie Aymaragemeinden oder -gemeinschaften. Folgende Überlegung fasst diese, aber auch Pläne für andere Regionen wie folgt zusammen: »Es gibt zwar Übereinstimmungen bei der Kritik an der gegenwärtigen Territorialverwaltung. Zu Differenzen kommt es jedoch, wenn es darum geht, neue territoriale Grenzen zu ziehen, Kompetenzen, Machtbefugnisse und Beziehungen zu anderen Regierungsebenen zu definieren, sowie über das Eigentum und die Verwaltung der Rohstoffe zu entscheiden.«

Aber sicher kommt diese Maßnahme der Regierung entgegen, da sie ihr ermöglicht, ihre weitestgehend ländliche Basis zufrieden zu stellen und gleichzeitig die Präfekte und Autonomisten in den östlichen Departments zu schwächen. Diese waren noch auf dem Parteitag der MAS 2006 in Cochabamba wie folgt stigmatisiert worden:

Die herrschenden Eliten, die in den Departments mit dem weiteren Raubbau an den natürlichen Rohstoffen des Landes, deren Veräusserung an ausländische Investoren ihre politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Vormachtstellung wahren wollen und mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen die arbeitende Bevölkerung zu modernen Sklaven degradieren. Und dies alles in Komplizenschaft mit den von ihnen kontrollierten und beherrschten Institutionen: Bürgerkomitees, Cainco, CAO.

Die indigenen Organisationen fordern nun schon seit mehreren Jahren von den Ölgesellschaften großzügige Entschädigungen für die Schäden an ihrer Umwelt. Warum sollen sie nicht einfach im Namen ihrer »althergebrachten« Rechte die Hauptgesprächspartner dieser Unternehmen sein? So legt der Paragraph 7 des 2005 verabschiedeten Gesetzes zur Verstaatlichung der fossilen Energieträger (Ley de Hidrocarburos) denn auch Konsultationsverfahren, Vorabsprachen und Schadensersatzzahlungen für Schäden bei Förderung, Transport und allen anderen Aktivitäten in Zusammenhang mit der Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen fest.

Dieses Problem stellt sich genauso beim Bergbau. Ende August 2006 brachten sechs indigene und bäuerliche Organisationen, darunter Conamaq und Cidob, im Senat einen Entwurf zur Änderung des Bergbaugesetzes ein, um die Rechte der Gemeinschaften und der betroffenen Völker schützen, und drohten, sich gegebenenfalls mit Druck Gehör zu verschaffen.

Aus den laufenden oder angekündigten Verstaatlichungen (Erdöl und Erdgas, Bergbau,Eisenbahnen, Telekommunikation, Stromversorgung, usw.) wird das Bemühen der Regierung um eine stärkere Zentralisation ebenso deutlich wie in folgendem Ausspruch: »Wir kontrollieren jetzt die Regierung, aber wir haben bisher weder die politische, noch die wirtschaftliche, noch die kulturelle Macht. Das ist der nächste Schritt... Es geht jetzt darum, die wirtschaftliche, kulturelle und die ganze politische Macht zu erobern«. Gleichzeitig scheint sie aber auch gewillt, die durch die Schwächen der letzten Regierungen bereits weit fortgeschrittene Fragmentierung zu zementieren. Wie lässt sich das vereinbaren? Und wie soll langfristig ein Minimum an Einheit entstehen, die die der Entwicklung Boliviens dienliche Vereinbarung von Spielregeln ermöglicht?

Die Blockadenmanie

Nach offiziellen Statistiken des Instituto Nacional de Estadísticas (INE) kam es zwischen 2000 und 2004 in Bolivien zu 14.153 Auseinandersetzungen, was zehn Konflikten pro Tag entspricht. In einem kürzlich erschienenen Artikel erklärte Roberto Laserna, dass die Zahl der Konflikte – nach einem Tiefstand zwischen 1985 und 1997 mit ca. 10 pro Monat während der ersten Regierung Sánchez de Lozada – unter Hugo Banzer (1997-2000) wieder anstieg. Ihren Höhepunkt erreichten sie mit über 50 pro Monat während der Regierung von Carlos Mesa Gisbert. Und sie bleiben auch – wider Erwarten – am Anfang der Präsidentschaft von Evo Morales auf einem hohen Stand (fast 40 im Monat).

Dies ist interessant, denn es widerspricht den Erwartungen und Hoffnungen der Wähler auf sozialen Frieden. Sie hatten Morales aufgrund seines Aufstiegs in den »sozialen Bewegungen« als Einzigen für fähig gehalten, den sozialen Frieden wieder herzustellen.

Die Analyse von Roberto Laserna ist aber deshalb originell, weil sie einen Bezug zwischen Konflikthäufigkeit und dem Erfüllungsgrad hinsichtlich der mit den Protesten zusammenhängenden Forderungen herstellt, mit anderen Worten, inwieweit ihrem Druck nachgegeben wird. Daraus ergibt sich, dass die Schwäche der Behörden die Proteste ermutigt, denn alle Organisationen erfahren so, dass sie durch Drohungen erreichen können, was sie wollen. Damit wird offensichtlich, dass die Regierung von Evo Morales sehr tolerant ist, nach Hernán Siles Zuazo (1982-1985), der fast 40 Prozent der Forderungen erfüllte, sogar die toleranteste – oder die schwächste – aller Regierungen der gegenwärtigen demokratischen Phase.

Laserna zeigt zu Recht, dass diese krampfhafte Konfrontation große Unterschiede in der Berücksichtigung der einzelnen sozialen Gruppen schafft. Denn diejenigen, die keinen Verbänden, Gruppierungen oder Organisationen angehören und nicht die nötige Macht haben, laufen Gefahr übersehen zu werden. Folglich trägt die steigende Zahl der Auseinandersetzungen mit immer neuen Gründen dazu bei, die Ungerechtigkeit und die soziale Ungleichheit im Land noch zu verstärken.

Wenn man dann noch bedenkt, dass die Regierung sich unentwegt als Verteidigerin der Volksinteressen darstellt, und sieht, wie aufgrund der hohen Rohstoffpreise und der Erhöhung der Erdöl- und Erdgassteuer die Staatseinnahmen steigen, versteht man noch besser, warum die Forderungen in Bolivien immer weiter ausufern.Eine sorgfältige Untersuchung der Konfliktgeographie zeigt ihre deutliche Verschiebung von La Paz in Richtung Santa Cruz. La Paz war immer, zumindest seit der Revolution von 1952, das Zentrum der Protestbewegungen; zwischen 2004 und 2005 ist aber ein starker Anstieg der Auseinandersetzungen in Santa Cruz zu beobachten (80 Konflikte 2004, 1192 im Jahr 2005), während die Zahl in La Paz im gleichen Zeitraum stagnierte (1661 bzw. 1781). Der extreme Anstieg in Santa Cruz geht darauf zurück, dass es zur Hochburg der Opposition geworden ist.

Für die organisierten Gruppen sind Straßenblockaden ein alltägliches Mittel geworden, ihren Forderungen gegenüber dem Staat Ausdruck zu verleihen. Noch sind die langanhaltenden und spektakulären Blockadeaktionen der Cocaleros und Bauern des Altiplano der vergangenen Jahre in lebendiger Erinnerung. Sie haben es mehrmals geschaftt, das Land lahmzulegen und die Versorgung von La Paz und Cochabamba zu verhindern. Zusammen mit anderen Protestmaßnahmen führten sie zur übereilten Flucht des Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada und zum Rücktritt von Carlos Mesa. Bekannterweise gehen die Blockaden weiter. Es vergeht kaum eine Woche ohne dass Straßen abgeriegelt werden, um aus verschiedensten Gründen zu demonstrieren: gegen lokale Behörden, gegen oder für die Freistellung von dieser oder jener Steuer, für die Bewilligung von Mitteln aller Art (Schulen, Brücken, Straßen, Kanalisation, Zuteilung von Siedlungsgebieten, Einrichtung von Entwicklungsfonds, etc.) - oder gegen »fehlenden Regen«, wie Ogneb Gross ironisch in einer Chronik in der Tageszeitung La Razón vom 2. Februar schrieb.

Der Gipfel – oder einer der Gipfel, um vorsichtig zu sein – war ohne Zweifel erreicht, als sich in Yapacaní zwei Fraktionen der MAS um die lokale Vormachtstellung stritten. Vor kurzem versperrte eine der beiden Seiten während einer Überschwemmung eine Straße. Gleichzeitig rief sie zu einem Streik auf, der das Leben in der Kleinstadt ganz zum Erliegen brachte, um Hilfsleistungen zu erzwingen, die die andere Gruppe bereits bekommen aber eilfertig für sich behalten hatte. Die Zufahrt zu einer ohnehin von Überschwemmungen isolierten Stadt zu blockieren, um Hilfeleistungen zu erpressen - das ist wirklich eine äußert originelle Methode.

Über die Anekdote hinaus zeigt das Beispiel auch, was für eine (parternalistische) Einstellung sich im Land eingebürgert hat. Sie ist sicher nicht neu, mit einer Regierung, die ihre Macht durch Klientelismus sichern will und erstmals auch über ausreichende Mittel für eine solche Politik verfügt, wird sich daran wohl auch in Zukunft nichts ändern. Der gleichen Logik folgt eine weitere Art der Blockaden: das Schließen der Ventile von Öl- und Gaspipelines, und manchmal sogar der Wasserleitungen. Hier wird unterschiedslos auf den Staat oder private Unternehmen Druck ausgeübt, wobei es im letzteren Fall oft um saftige finanzielle Forderungen geht – »Entschädigungen« für Umweltschäden oder einfach für die Tatsache, dass hier die Bodenschätze eines Gebiets abgebaut werden, das als indigen oder der Urbevölkerung gehörig angesehen wird. Ein Beispiel: Die Versammlung des Guaraní-Volks, APG, forderte von Repsol-YPF eine Entschädigung in Höhe von 44 Millionen Dollar für Umweltschäden und drohte im November 2006 damit, den Zugang zu den Erdölquellen zu blockieren und die Ventile der Pipelines zu schließen.Am Ende erhielt die APG 13,5 Millionen für einen Zeitraum von 20 Jahren, »um Gesundheits- und Bildungsprogramme, Infrastrukturmaßnahmen und Projekte zur nachhaltigen Entwicklung durchzuführen«.

Selbstverständlich kann diese Form von Protest nur eingesetzt werden, wo auch Leitungen verlaufen, was ihren Wirkungsbereich einschränkt. Das gleiche gilt für Straßen, wobei es davon immerhin einige mehr gibt. Pech für jene, die weder eine wichtige Straße noch eine Erdölleitung zur Hand haben! Daran kann man einmal mehr sehen – diesmal aus einem anderen Blickwinkel – wie die Blockadenmanie zu Ungleichbehandlung führt.

Die Regierung Evo Morales ist in Bezug auf die Auseinandersetzungen (Proteste, Straßenblockaden, Hungerstreiks, Machtdemonstrationen, Besetzungen, etc.) nicht nur sehr tolerant, sondern sie billigt und unterstützt sie sogar, indem sie selbst Auseinandersetzungen provoziert, wo sie den Interessen der Regierung nutzen, und damit den offenen Konflikt als eine Art Normalzustand legitimiert.

Zum Jahrestag der Regierungsübernahme durch die MAS gab der Vorsitzende des Senats, Santos Ramírez, laut und deutlich zu verstehen: »Die Opposition legt dem Wandel Steine in den Weg, u.a. im Parlament. Uns muss klar sein, dass nur unsere Kraft – die Kraft der sozialen Bewegung, die Kraft der Straße, die Kraft der indigenen Bewegung – dieses Parlament zu allererst zum Wohl unseres Landes stabilisieren und dann zum Funktionieren bringen kann.«

Um diese Politik noch effizienter zu machen, wurde anlässlich einer Begegnung der Regierung mit den »sozialen Bewegungen« im Januar 2007 in Cochabamba entschieden, »ein landesweites Koordinationsgremium zur Unterstützung des Wandels zu gründen, das aus der MAS nahe stehenden Parlaments-, Regierungs- und Bürgerversammlungsmitgliedern, sowie Gewerkschaftsführern besteht«. Das Hauptziel des Gremiums soll es sein, die Regierung durch die Mobilisierung der Volksmassen zu unterstützen. Deutlicher könnte man es nicht sagen.

Das deutlichste Beispiel war jedoch die Kundgebung im Januar 2007 in Cochabamba, die den Präfekten des Departments, Reyes Villa, zum Rücktritt zwingen sollte. Aus den Gewerkschaften nahmen mehrere Gruppierungen an den Mobilisierungen zwischen dem 4. und 16. Januar 2007 teil, darunter Klein- und Kokabauern, sowie Arbeiter. Am 4. Januar beschlossen sie, eine Mahnwache zu halten und ließen sich auf dem Platz des 14. September gegen- über dem Rathaus nieder. Dieses wurde am 8. Januar teilweise niedergebrannt, nachdem die Demonstranten versucht hatten, in das Rathaus einzudringen und von der Polizei zurückgedrängt wurden. Am 11. Januar gab es bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kokabauern und von der Stadtverwaltung und dem Bürgerkomitee organisierten Gruppen, an denen sich Tausende Menschen beteiligten, zwei Tote und 240 Verletzte. Der Polizeichef, der 400 Polizisten einsetzte, um die erhitzten Gemüter auf beiden Seiten zu besänftigen, erklärte anschließend: »Es gab zu viel Gewalt, zu viel Durcheinander. Zum Glück ist es weniger geworden, aber um ein Haar, um ein Haar wäre es zu einem allgemeinen Chaos gekommen, und wozu es da hätte kommen können, das weiß nur Gott allein (...). Ich fürchtete den Anfang von einem Bürgerkrieg (...). Unsere Kleider waren blutverschmiert, wir waren müde, von Tränengas betäubt und von blauen Flecken übersät, aber es war uns klar, dass wir noch viel Schlimmeres vermieden hatten.«

Spoils System, Klientelismus und Korruption

Nachdem die MAS die Macht über die Exekutive und die Legislative gewonnen hatte, verstärkte sie die Kontrolle über die Armee, indem sie zwei Generationen von Generälen in den Ruhestand schickte. Außerdem trug sie zur Schwächung der Justiz bei, indem sie die Mitglieder der Justizaufsichts-organe – insbesondere die des Obersten Gerichtshofs – zum Rücktritt drängte, sowie die Verfassungsgebende Versammlung stark schwächte und in den wichtigsten Institutionen die Fäden in die Hand nahm.

Hieraus ergibt sich ein neues, für die Zukunft besorgniserregendes zweifaches Problem: Einerseits die massive Einstellung neuer Staatsdiener, von denen die meisten nur Erfahrungen im Dienst der Regierungspartei mitbringen, nachdem ihre Vorgänger als Lakaien des Neoliberalismus und als potentiellle Saboteure der Revolution entlassen worden sind. Zum anderen die in der staatlichen Verwaltung herrschende Korruption. Die diesbezüglichen Ankündigungen der Regierung sowie die im Kampf gegen die Korruption ergriffenen Maßnahmen (insbesondere die Gründung des Consejo Nacional de Lucha contra la Corrupción de Fortunas vom 26. April 2006) dienten bisher nur der Einschüchterung und Bestrafung derer, die zu Recht oder zu Unrecht als Regimegegner betrachtet werden, oder dem Rufmord an denen, die aus dem Amt gedrängt werden sollen.

Nach einer Umfrage sehen spanische Unternehmer die bolivianische Verwaltung als die schlechteste in Lateinamerika an und Transparency International (der letzte Bericht wurde im November 2006 veröffentlicht) bezeichnet Bolivien regelmäßig als eines der korruptesten Länder Lateinamerikas.

Natürlich sind Kumpanei, Gönnerschaft, Vetternwirtschaft und Klientelismus nichts Neues in Bolivien, und die Regierungen haben oft auch mehr oder weniger brutal aufgeräumt. Um die Beamtenlaufbahn zu regeln und um Verwaltungsentscheidungen transparenter zu machen, wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel das Programm für Regierbarkeit (Programa Nacional de Gobernabilidad, ab 1997), ein neues Beamtengesetz (Ley del Funcionario Público, 1999) und die Aufsichtsbehörde für den Öffentlichen Dienst (Super-intendencia del Servicio Civil) im Jahr 2000, so dass insbesondere einige Fachverwaltungen (Zentralbank, Rechnungshof, Straßenbauamt und sogar der Zoll) am Ende effizienter funktionierten und weniger korruptionsanfällig waren. Nun macht sich die Regierung daran, Funktionären, deren Laufbahn mit einem formellen Auswahlverfahren oder aufgrund eines anerkannten beruflichen Werdegangs begonnen hatte, zu verabschieden, bzw. ihre Entlassung zu betreiben. So sollen die eigenen Gefolgsleute zufrieden gestellt werden, die unentwegt pegas fordern – Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst, die die jeweils siegreiche Partei an ihre Mitglieder vergibt.

Die Versammlungen der MAS auf nationaler und Department-Ebene sind die Resonanzkörper der Basis, die auf das Hauptquartier Druck ausüben, damit dieses so viele Stellen wie möglich frei macht oder neu schafft, und zur Jagd auf diejenigen bläst, »die boykottieren und die Regierung sabotieren«. Zum Jahreswechsel 2005/2006 war dieser Druck besonders hoch, da viele Zeitverträge von Staatsbediensteten ausliefen und die »sozialen Bewegungen« die Entlassung von 80 Prozent dieser Mitarbeiter unter dem Vorwand forderten, es handle sich um Mitglieder rechter Parteien. Außerdem wurden seit Amtsantritt der neuen Regierung viele Ämter per Dekret abgeschafft, meist nach Ernennung eines vorübergehend Verantwortlichen (obwohl die Posten nach Ansicht vieler nur mit Vorsitzenden oder Geschäftsführern besetzt werden dürfen, die von einer Zweidrittel-Mehrheit des Parlaments gewählt wurden). Dies betraf unter anderem die Zentralbank, den Zoll, die Straßenbaubehörde, die Steuerbehörde und das Gesundheitsamt. Am 30. Dezember 2006 wurden nach der gleichen Methode hohe Beamte für die freien Stellen beim Obersten Gerichtshof ernannt, wobei die Sommerpause des Kongresses ausgenutzt wurde. Die Aufsichtsbehörden (autonome Instanzen, die 1994 eingerichtet wurden, um bestimmte strategische Sektoren zu regulieren, zu kontrollieren und zu beaufsichtigen) standen unter der ständigen Bedrohung, zu einfachen Abteilungen der jeweiligen Ministerien degradiert zu werden. Ihre Namen wurden im Laufe des Jahres mehrere Male geändert, so dass ihre Regulierungs- und Überwachungsfähigkeiten stark eingeschränkt waren. Nun galt es noch, das Verwaltungsgericht zu »erobern«. Letzten Januar umzingelten Demonstranten, die sich die »roten Ponchos von Achacachi« nannten, das Gerichtsgebäude, beschuldigten die Mitglieder des Amtsmissbrauchs und forderten ihre Entlassung. Dasselbe gilt für das Nationale Wahlgericht, dessen Vorsitzender seit den letzten Wahlen mehrmals Opfer von Verleumdungen wurde. Einer der beeindruckendsten Fälle dieser Art ist ohne Zweifel das Erdgas, da sich die Regierung zu Recht rühmt, mit den ausländischen Unternehmen vorteilhaftere Verträge ausgehandelt zu haben als vorherige Regierungen. Aber es ist schwer abzuschätzen, wie groß die Gewinne (kurz- oder langfristig) tatsächlich sein werden und die Verträge, die vom Senat auf die Schnelle unterzeichnet wurden, zu durchschauen. Nach längerem Durcheinander (Formfehler, Vertragsvorlagen, die nicht den von den Unternehmen unterzeichneten Versionen entsprachen, etc.), mussten die Verträge schließlich von beiden Kammern noch einmal bestätigt werden.

Seit Januar 2006 hat im Energieministerium dreimal der Minister gewechselt. Vier Vorstandsvorsitzende haben sich an der Spitze der Yacimientos Petrolíferos Fiscales (YPFB), der staatlichen Erdölgesellschaft, die jetzt den Kern des »verstaatlichen Energiesystems« bilden müsste, die Klinke in die Hand gegeben. Der erste, Jorge Alvarado Rivas, musste wegen Korruptionsvorwürfen gehen. Der zweite, Juan Carlos Ortiz Banzer, ein Ingenieur und angesehener Fachmann, trat mit dem Argument zurück, man hindere ihn daran, im Unternehmen eine rationelle Verwaltung aufzubauen, weshalb er sich haltlosen Forderungen gegenüber sehe (nach Angaben der Tageszeitung La Razon vom 27.1.2007, wurde er wiederholt aufgefordert zurückzutreten). Der vorletzte Präsident, Manuel Morales Olivera, hatte keinerlei Erfahrung im Energiebereich. Vor der Machtübernahme durch die neue Regierung leitete er eine Druckerei. Das widerspricht den Statuten der YPFB, nach denen der Präsident ein Fachmann mit mindestens 10 Jahren Erfahrung sein muss. Morales Oliveras einzige Erfahrung in diesem Bereich bestand darin, dass er an den Verhandlungen mit den Erdölunternehmen teilgenommen und an der Ausarbeitung der oben erwähnten fehlerhaften Verträge mitgewirkt hatte. Dazu kommt noch, dass seine Familie der Vetternwirtschaft bezichtigt wird. Seine Schwester wurde im Februar 2006 zur Vorsitzenden der Zollverwaltung gewählt, hatte aber nur Erfahrung als Journalistin aufzuweisen. Mit der tentakelartigen Ausweitung der öffentlichen Verwaltungen und der bevorstehenden Verstaatlichung weiterer Unternehmen bleibt zu fürchten, dass Ineffezienz und Korruption weiter zunehmen werden. Der Fall des brandneuen Ministeriums für Wasserwirtschaft veranschaulicht diese Situation perfekt. Nach Jim Schultz, »The water ministry, a new agency created with great hope a year ago, keeps spitting out all the competent people who went to work there.«Aber der Skandal, der die MAS und die Öffentlichkeit am meisten beschäftigt, ist die Postenvergabe aufgrund eines je nach Fall mehr oder weniger teueren »Empfehlungsschreibens«, in den Parteiführer, Abgeordnete und der ehemalige Senatsvorsitzende verwickelt sind. Um sich nicht untätig zu zeigen, verkündete Präsident Morales, die Schuldigen würden bestraft, aus der Partei ausgeschlossen und gegebenenfalls vor Gericht gestellt. Aber die Beschuldigen verteidigen sich damit, dass sie nur Anweisungen der MAS-Führung befolgt haben, die Hauptverantwortlichen unbehelligt geblieben sind und sie als Sündenböcke herhalten müssen.

Schlussfolgerung

Der Ausdruck »el país tranca« – ein Land, das sich selbst und andere blockiert – ist der Titel einer 1976 von Mariano Baptista Gumucio veröffentlichten Artikelsammlung. Der Ausdruck umschreibt Ineffizienz, Trägheit und Korruption der bolivianischen Verwaltung, in der es von Schmarotzern und »Subventions-Piraten« wimmelt, die umso begieriger sind, sich schnell zu bereichern – oder einfach nur zu überleben – weil sie wissen, dass ihre Gelegenheit nur kurz währt. Der Autor beschreibt gleichzeitig den übermäßigen Einsatz von Straßenblockaden und die Sabotage der Pipelines, um von der Regierung oder irgend einem Reichen oder Mächtigen irgend einen Vorteil zu »fordern«. »El país tranca« erlaubt sogar, sich den Flickenteppich aus Ethnien oder Nationen bildlich vorzustellen, in dem jede ihre eigenen Grenzen zieht. Wie Walter Montenegro es in seinem Beitrag im selben Buch unterstreicht: »Bolivien ist ein Land, dessen Entwicklung durch Steine blockiert ist, die es sich selber in den Weg legt.« Und das hat kein Ende.

Es wäre jedoch angebracht, das Problem der andauernden (Selbst)Blockaden Boliviens im Rahmen einer viel umfassenderen Reflexion zum Thema Demokratie zu betrachten. Wie Roberto Laserna zu Recht betont, ist der Versuch, das gesellschaftliche Leben mit Hilfe von Normen, Vorschriften und Gesetzen zu regeln, zum Scheitern verurteilt. Und die Stärkung der Demokratie wird immer schwieriger, wenn diejenigen die auf Einschüchterung, auf ihre Stärke, mithin also auf Gewalt setzen, immer oder doch meistens ihr Ziel erreichen.

Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2007, ISSN: 0251-3552


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