Artículo
NUSO Nº Januar 2007

Bolivien und das Pendel der Geschichte

Zusammenfassung | 1952 entflammte in Bolivien ein Aufstand der Volksmassen. Sie ergriffen die Waffen gegen das eigene Heer und setzten die Willkürregierung ab. Fünfzig Jahre später erschüttert ein neuer Volksaufstand das Land. Die Ursachen für die gegenwärtige Krise sind denen der Vergangenheit sehr ähnlich. Daher analysiert dieser Artikel zunächst die bolivianische Revolution von 1952 und im zweiten Teil die Vorgeschichte der Wahl von Evo Morales, seine ersten Amtshandlungen und die Herausforderungen für die Konsolidierung eines starken, stabilen demokratischen Systems.

Bolivien und das Pendel der Geschichte

Anfangsbetrachtungen

Jede Gesellschaft lebt im Schatten ihrer Vergangenheit. Doch gibt es wohl kaum einen Staat auf der Welt, auf den dies mehr zutrifft als auf die Republik Bolivien. Ihre außer während einiger aufständischer Phasen stets von Ausbeutung und politisch-wirtschaftlicher Abhängigkeit gezeichnete Geschichte nährt den Mythos, Entwicklung sei in Bolivien unmöglich. Die schwierigen geographischen Verhältnisse, die Tatsache, dass Bolivien ausschließlich Rohstoffe exportiert und die Schwäche der für moderne Gesellschaften typischen Institutionen runden das Bild ab: »Bolivien ist sicherlich das Land Amerikas, in dem eine Reihe negativer Faktoren, die jeder Entwicklung zu einer ausgeglichenen Gesellschaft und Wirtschaft im Wege stehen, am stärksten ausgeprägt sind« (Abadie-Aicardi).

Doch in eben diesem Land mit seiner so schwierigen und bitteren Geschichte werden sich von Zeit zu Zeit Männer und Frauen ihrer prekären Existenz bewusst, erheben ihre Stimme und nehmen das Geschick ihres Landes in die eigene Hand. So lässt sich auch kaum eine andere Gesellschaft finden, in der sich die unteren Schichten ihrer Macht gegenüber dem Staat so sehr bewusst sind. Die aufständischen Massen erwarten von den von ihnen eingesetzten Regierungen, dass sie ihre Versprechen lösen und den Traum von einer gerechteren Gesellschaft Wirklichkeit werden lassen.

Zwar hat die Revolution von 1952 – die radikalste in der westlichen Welt – nicht alle Erwartungen erfüllt, doch das bolivianische Volk schiebt weiterhin unermüdlich, Sisyphus gleich, nach jedem Absturz den Stein mit neuen Hoffnungen wieder den Berg hinauf. Diese richten sich diesmal auf Evo Morales, den Präsidenten und ehemaligen Anführer der Kokabauern. Diese Regierung hat mit der sozialen Revolution von 1952 gemein, dass sie aus einer revolutionären gesellschaftlichen Bewegung hervor gegangen und das Ergebnis ganz spezieller Umstände ist. Wird sie in der Lage sein, die Erwartungen der Bevölkerung zu erfüllen und wird diese mit der Regierung im Dialog bleiben, um eine Politik zu verhandeln, die ihren Interessen entspricht und Bolivien auf den Weg ins 21. Jahrhundert bringt? Das hängt davon ab, ob aus den vor einem halben Jahrhundert gemachten Erfahrungen die richtigen Lehren gezogen werden.

Die vorliegende Arbeit hat die beiden historischen Momente – die Revolution von 1952 und die Wahl Evo Morales’ zum Präsidenten der Republik – als Eckpunkte. Boliviens Geschichte schwankt in einer Art Pendelbewegung zwischen zwei Extremen hin und her. Über revolutionäre Massenbewegungen werden immer wieder Hoffnungen geweckt und auf einen neuen, als rechtmäßig anerkannten Machthaber projiziert. Um dieses endlose, Menschen und Institutionen verschleißende Hin und Her zu überwinden, müssen aus der Vergangenheit Lehren für den Entwurf einer neuen Zukunft gezogen werden. Hoffnung und Enttäuschung nach der größten sozialen Revolution des Westens

Vor über fünfzig Jahren blickte die Welt erschrocken auf einen Volksaufstand, der die einsamen Höhen der Anden in Brand setzte. Die bolivianische Bevölkerung ergriff die Waffen gegen das eigene Heer und stürzte die Willkürherrschaft der Machthaber. Dieser Aufstand und die nachfolgenden Reformen gingen als Nationale Revolution Boliviens in die Geschichte ein. Die einschneidenden Veränderungen in der Wirtschaft und Gesellschaft des Landes heute haben einiges gemeinsam mit denen der Revolution von 1952.

Vorgeschichte der Revolution

Die Auslöser dieser wichtigsten lateinamerikanischen Volksrevolution des letzten Jahrhunderts finden sich in der Jahrtausende alten Einsamkeit des bolivianischen Hochlands. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts (frühe 1940er Jahre) beginnen unzufriedene Bevölkerungsgruppen, deren Hoffnungen auf Veränderung im Chaco-Krieg unerfüllt blieben, sich in Oppositionsparteien zu organisieren. Die 1941 gegründete Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR, Nationalrevolutionäre Bewegung) wird zu ihrem wichtigsten Sprachrohr. Anfangs ist die Partei eher konservativ ausgerichtet, im Laufe der Geschichte stellen Volksaufstände aber ihren Kurs immer wieder in Frage und lenken sie schließlich in eine neue Richtung.

In den ersten Jahren ihres Bestehens verbündet sich die MNR auf Grund der Herkunft ihrer Führungspersönlichkeiten aus der städtischen, faschistisch orientierten Mittelschicht mit einer militärischen Gruppierung, die 1943 Hauptmann Gualberto Villaroel an die Macht bringt. Doch die Regierung ist schwach und wird ihrer faschistischen Ausrichtung wegen von links und rechts angegriffen. Sie wird 1946 in einer blutigen Revolte gestürzt und von der aufständischen Menge gewaltsam aus dem Präsidentenpalast vertrieben.

In den darauffolgenden Jahren hält die Instabilität an. Die konservativen Altparteien sind unfähig, sich an der Macht zu halten. Sich dessen bewusst sucht die MNR Unterstützung bei der trotzkistischen Partei und geht als Siegerin aus den Wahlen von 1951 hervor, weil sie den Bevölkerungsgruppen, die Villaroel absetzten, bessere Lebensbedingungen verspricht. Nicht einverstanden mit dem Aufstieg einer neuen MNR setzen die traditionellen Machtgruppen unter Berufung auf die hohe Wahlenthaltung eilends eine Militärjunta unter Führung General Hugo Ballivians ein. Diese erklärt die Wahlen für ungültig und ergreift selber die Macht.

Diese Situation ist für die Schwäche der bolivianischen Demokratie und die feindselige Atmosphäre charakteristisch, in der sich die rechtmäßig gewählten Regierenden bewegen.

Die strukturelle Schwäche der demokratischen Institutionen des Landes ermöglicht den Verbleib einer widerrechtlich eingesetzten Regierung an der Macht. Nach dem Willen der Mehrheit der Wahlberechtigten und den gesetzlichen Bestimmungen hätte diese der MNR zugestanden. Dieselbe Schwäche erklärt auch, warum der Machtwechsel erst dann erfolgt, als persönliche Ambitionen eines Ministers der Regierung Ballivian ins Spiel kommen. Dieser arbeitet mit aufständischen MNR-Mitgliedern zusammen, um die unrechtmäßige Regierung zu stürzen. Den Rebellen werden Waffen ausgehändigt, und der Aufstand beginnt. Drei Tage lang sind die Straßen der Stadt La Paz Schauplatz einer blutigen Schlacht. Als die Gegenwehr des Heeres schwächer wird, zieht sich der abtrünnige Minister aus dem Kampf zurück, während die städtische Bevölkerung, von fiebrigem Heldenmut befallen, weiterkämpft. Mit Unterstützung der Bergarbeiter besiegt sie die stark bewaffneten Regimenter der Militärjunta. Nun kommt endlich die MNR an die Macht, und der am 15. April aus dem Exil in Buenos Aires zurückgekehrte Víctor Paz Estenssoro, der bei den Wahlen von 1951 als Sieger hervor gegangen war, übernimmt die Präsidentschaft.

Den überraschenden Aufstand des bolivianischen Volkes hatten weder der desertierte General noch die Führung der MNR erwartet. Beide Seiten hatten eher damit gerechnet, durch einen überraschenden Putsch an die Macht zu kommen als durch den Widerstand der Straße im Kampf gegen die Streitkräfte. Am Ende waren letztere jedoch fast gänzlich geschlagen, die aufständische Bevölkerung dagegen noch immer massiv bewaffnet. Die Machthaber kamen nicht umhin zu akzeptieren, dass die materielle und effektive Macht in den Händen des später in Milizen organisierten Proletariats lag. Die aufständische Bevölkerung wiederum musste einsehen, dass aus Regierungsbeteiligung auch die Verantwortung erwächst, Lösungen vorzuschlagen und Programme auszuarbeiten. Die bloße Machtergreifung bietet keine Garantie für dauerhafte Verbesserungen. Vor allem bei extremer Armut können diese nach heutigem Verständnis nur langfristig über eine institutionelle Neuordnung und demokratische Partizipation erreicht werden, die den Respekt vor den Institutionen gewährleisten.

Präsident Paz Estenssoro stand also vor der Aufgabe, die Gesellschaft neu zu ordnen und einen effektiven Zugang der aufständischen Gruppen zu den staatlichen Institutionen zu ermöglichen. Nur so konnte die alte Beziehung Revolution = Instabilität aufgebrochen werden. Die Anarchie war nur nach und nach durch die Schaffung eines Zugehörigkeitsgefühls der wirtschaftlich benachteiligten Gruppen und der Bevölkerung insgesamt zu überwinden.

Hoffnung auf Reformen, die Erwartungen eines Volkes

Unter dem wachsamen Blick der Volksmilizen treibt Paz Estenssoro in den ersten vier Jahren seiner Amtszeit eine Reihe grundlegender Reformen der bolivianische Gesellschaft voran, deren drei wichtigste hier genannt werden sollen.

Die erste betrifft die Ausweitung der Bürgerrechte. 1956 führt Estenssoro das allgemeine Wahlrecht ein und setzt so einem Wahlsystem ein Ende, das Frauen und über 70 Prozent der männlichen Bevölkerung ausschloss, sei es weil sie Analphabeten waren oder weil sie die Mindestanforderungen an Grundbesitz nicht erfüllten.

Eine weitere wichtige Maßnahme ist das Dekret über die Agrarreform vom 2. August 1953. Sie gilt als die bedeutsamste soziale Reform seiner ersten Amtszeit und hat zum Motto: »Das Land dem, der es bearbeitet«. Das Dekret ermöglicht in ganz Bolivien die Umverteilung von als unproduktiv betrachteten Ländereien an die Kleinbauern.

Trotz der anfänglich hohen Erwartungen an die Reform kritisieren bolivianische Intellektuelle, dass »die Agrarreform von 1953 die Bauern nach der Landzuteilung – vor allem die Familien – ohne jegliche Unterstützung oder eine explizite Politik zur ländlichen Entwicklung einfach ihrem Schicksal überlässt« (Urioste Fernández de Córdova). Die bolivianische Landwirtschaft ist in dieser Zeit noch stark von fehlenden Kommunikationsnetzen, Mangel an Bildungseinrichtungen auf dem Lande, schwierigen Transportmöglichkeiten, Energieknappheit und dem Fehlen von Investitionen in Wissenschaft und Technik geprägt. Die Gleichgültigkeit der Politiker gegenüber der Landwirtschaft hat zur Folge, dass das ganze Spektrum von möglichen Hilfen für eine nachhaltige Entwicklung einfach außer Acht gelassen wird. Dies wiederum führt zu äußerst armseligen materiellen Ergebnissen und einer großen Enttäuschung über einen Staat, der das Land nicht in seiner Gesamtheit, sondern nur in Ausschnitten zu sehen vermag.

So scheitert die von den Umverteilungsmaßnahmen erwartete gesellschaftliche Entwicklung am Fehlen eines langfristigen Programms, das konkret bei der Landverteilung ansetzend die Rückständigkeit in der Landwirtschaft hätte überwinden sollen. »(...) Der Agrarsektor war weit weg, in sich abgeschlossen, nicht offen für technischen Fortschritt und hielt sich wirtschaftlich als Feudalstruktur, die überwiegend auf reine Subsistenzwirtschaft ausgerichtet war« (Abadie-Aicardi).

Die dritte große Maßnahme der Regierung Paz Estenssoro betrifft einen für das Verständnis der fünfhundertjährigen Geschichte von Ausbeutung in Bolivien sehr wichtigen Punkt: Die Verstaatlichung der Zinnminen. Das Erz ist in dieser Zeit für nahezu die gesamten Exporteinnahmen verantwortlich.

Die Betreibung dieser bedeutsamen Einnahmequelle ermöglicht es dem Staat, den Bergbau zu steuern und die daraus resultierenden Einnahmen in die Entwicklung anderer Wirtschaftsbereiche zu investieren. Natürlich löst die effiziente Verwaltung der Comibol, einer lokal konzentrierten Industrie ohne große Verflechtungen mit anderen Wirtschaftszweigen, allein nicht automatisch die wirtschaftlichen Probleme Boliviens. Dazu gehört auch eine vernünftige Verwendung der erwirtschafteten Mittel. Nur so können kurzfristig die Lebensbedingungen der Minenarbeiter und langfristig – über Investitionen in Sektoren wie der Landwirtschaft, in der die Mehrzahl der Arbeitskräfte des Landes beschäftigt ist – auch die anderer Bevölkerungsschichten verbessert werden. Aber weder das eine – der effiziente Betrieb der neuen Staatsunternehmen – noch das andere – die sinnvolle Verwendung der Einnahmen – gelingt.

Paz Estenssoro führt also während der ersten vier Jahre seiner Amtszeit (1952-1956) zwar bedeutende Reformen der bolivianischen Wirtschaft und Gesellschaft durch, um die Forderungen einer bewaffneten und sich ihrer Macht bewussten Bevölkerung zu erfüllen. Viele davon erweisen sich jedoch als wirkungslos für die Verbesserung der Lebensqualität der unteren Schichten.Bewertet man diese Umbruchszeit, so tragen sowohl die Regierung als auch die Volksmassen Verantwortung für dieses Scheitern. Letztere wünschen eine rasche Erfüllung ihrer zahlreichen Forderungen und üben Druck auf die Regierung aus. Diese wiederum reagiert mit nur kurzfristigen Maßnahmen, die wenig dazu beitragen, die strukturelle Umgestaltung des Landes voranzutreiben. Paradoxerweise verstärken sich in diesem System der Druck und die Reaktionen darauf wechselseitig und zum Schaden beider: Die bolivianische Regierung, der es an qualifiziertem Personal mangelt, will die Forderungen des Volkes erfüllen und reagiert mit Maßnahmen, die unmittelbar wirken sollen, aber schwierig umzusetzen sind. Die Volksbewegungen nutzen ihr Legitimierungspotential gegenüber der Regierung, lassen damit aber die Instabilität der Politik offen zu Tage treten. Am Ende ist die Existenz der demokratischen Institutionen ernsthaft gefährdet. Denn die Beziehungen zwischen Staat und Bevölkerung sollten von Kooperation und nicht von Unterordnung geprägt sein. Überwiegt eine Macht, so schadet dies der Demokratie und ist letztlich für beide Seiten negativ. In der Lösung dieses schwierigen Konflikts liegt die besondere Herausforderung postrevolutionärer Gesellschaften.

Boliviens größte Herausforderungen liegen weniger auf der ökonomischen als auf der politischen Ebene. So betreffen die aus der Revolution von 1952 zu ziehenden Lehren auch in erster Linie die Beziehungen zwischen Staat und Bevölkerung. Sie verweisen auf einen Aspekt des politischen Systems, der auch in anderen Momenten zutage tritt: Die bolivianische Gesellschaft identifiziert sich nicht mit iher Regierung und die Regierung versteht sich nicht als programmatisches Werkzeug der Gesellschaft. Solange beide Seiten sich als Gegner sehen, wird es daher immer wieder zum Zusammenprall kommen. Und das Pendel der Geschichte kann nicht überwunden werden, weil es die Gesellschaft ständig zwischen Armut und Revolte gefangenhält und es so schier unmöglich ist, von der Vergangenheit zu lernen oder die Zukunft zu gestalten.

Der Aufstieg eines Cholo zum Präsidenten der Republik

Über fünfzig Jahre nach der Nationalen Revolution Boliviens erschüttert erneut ein von den unteren Schichten angeführter Aufstand die schwachen institutionellen Strukturen des Landes. Die heutigen Ursachen weisen mit den damaligen starke Ähnlichkeiten auf. Also schlägt das Pendel erneut aus, auf der Suche nach Lehren, die die Geschichte aus ihrem unendlichen Hin und Her befreien.

Der zweite Teil dieses Beitrags untersucht die Vorgeschichte des Volksaufstands, der zur Wahl von Evo Morales, dem Anführer der Kokabauern, führt. Auch soll gezeigt werden, wie Morales auf die Forderungen der Bevölkerung reagiert und welche Herausforderungen für die Konsolidierung eines starken, stabilen demokratischen Systems im Land bestehen.

Im Scheitern der Regierung Lozada liegt der Keim für eine neue Führung durch das Volk

Nach den blutigen Volksaufständen der 1940er Jahre und den nachfolgenden Militärregierungen ist nun auch die bewegte Rückkehr zur Demokratie in den 1970er und 1980er Jahren Geschichte.

Gemeinsam sind diesen zwei Jahrzehnten die zunehmende Verschlechterung der Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung, damals über 85 Prozent der Gesamtbevölkerung, sowie die Unfähigkeit der Regierungen, auf kollektive Forderungen schnell und mit einer gleichzeitig effektiven und effizienten Politik zu reagieren.

Auch in den 1990ern bestand dieses Problem und war eine der größten Herausforderungen für den 1993 gewählten Präsidenten Sánchez de Lozada. Während dessen Amtszeit kam es zu zahlreichen Reformen, die nur in denen von 1952 eine geschichtliche Parallele finden.

Die Reformen der Regierung Sánchez de Lozada folgen einem Imperativ, der nach dem Sturz der Militärdiktaturen für ganz Lateinamerika gilt: der Notwendigkeit zur Modernisierung der Wirtschaft. Und diese sollte sich in Ländern mit schwachen Investitionen auf dem Binnenmarkt und gleichzeitig großen natürlichen Reichtümern auf die blinde Öffnung für den hungrigen Weltmarkt beschränken.

In diesem Zusammenhang ist besonders das in Lozadas Anfangsjahren erlassene Kapitalisierungsgesetz (Ley de Capitalización) von Bedeutung, das die Privatisierung staatlich verwalteter Unternehmen in den Privatsektor ermöglicht.Unter dem Vorwand, den Zugang transnationaler Unternehmen zu fördern, wird ein rechtlicher Rahmen ausgearbeitet und verabschiedet, der die Privatisierung der Erdölindustrie als zu dieser Zeit größten Devisenquelle des Landes regelt.

Am 30. April 1996 wird das Gesetz über fossile Energieträger Nr. 1.689 (Ley de Hidrocarburos) erlassen, das die Eigentumsverhältnisse in der Gas- und Ölindustrie drastisch verändert. Hieß es früher, der Staat sei Eigentümer der Erdgasreserven, sofern diese sich unter der Erde befinden, überträgt das Gesetz dieses Eigentum nun an transnationale Unternehmen, wenn diese eine neue Reserve entdecken und zu kommerziell verwertbaren Lagerstätten erklären. Als sei dies nicht genug, gesteht es den Unternehmen auch das Recht zu, Pipelines für den Transport der eigenen Produktion sowie der von Dritten zu bauen und zu betreiben. Dies nimmt dem Staat jegliche Möglichkeit, die Ausbeutung seiner Bodenschätze zu steuern und angemessen von ihnen zu profitieren.

Im August 1997, zwei Tage vor dem Ende seiner Präsidentschaft, formalisiert Lozada das, was längst Realität ist: Er überträgt den transnationalen Unternehmen das uneingeschränkte Eigentumsrecht an im bolivianischen Boden gefundenen fossilen Brennstoffen, einschließlich der daraus gewonnenen Überschüsse. Bolivien gesteht also fortan symbolisch jenen Staaten, die in die Ausbeutung seiner Energiereserven investieren wollen, zu, sich auf Kosten seines Volkes zu bereichern. Der bolivianische Staat verliert jeden Einfluss auf den Produktionsprozess von der Förderung bis zur Ausfuhr des Produkts und kann lediglich die festgelegte Steuer von 18 Prozent der Gesamteinnahmen einziehen.

Das Dekret 24.806 verändert den Umgang mit den Überschüssen aus der Gewinnung fossiler Brennstoffe ebenfalls drastisch. Das vorherige Gesetz aus dem Jahr hatte noch die Einschränkung enthalten, der Staat sei Eigentümer der Bodenschätze, der Produktion und der Vermarktung und somit Teilhaber und direkter Nutznießer an Gewinn, Vermarktung und Verwendung der Überschüsse. Durch den Erlass der oben genannten Gesetze wurde eine radikale Abkehr von der sechzig Jahre lang gültigen Auffassung erreicht, die Gas- und Ölwirtschaft habe staatlich zu sein, und ihrer vollständigen Privatisierung Vorschub geleistet (Quiroga).Die gewählte Regierung ist offensichtlich unfähig, die Zeichen der Zeit zu erkennen und von der starken weltweite Energienachfrage zu profitieren, um mit substantiellen Investitionen die Modernisierung des Landes voranzutreiben, technische Kompetenzen zu entwickeln und so einen Richtungswechsel und die Neuordnung des Staates zu ermöglichen.

Dasselbe Modell wird auch von der darauffolgenden Regierung Banzer und dessen Nachfolger Quiroga weiter verfolgt, obwohl es mit bolivianischen und internationalen Gesetzen unvereinbar ist.

Lozadas Rückkehr: alte Pflaster für neue Wunden

Die Wahl zu Lozadas zweiter Amtszeit verläuft weit weniger ruhig als die erste. Lozada muss sich einem Gegenkandidaten stellen, der seine Führungsrolle ausbauen konnte, während Lozadas Programm immer weniger Rückhalt findet. Lozada wird schließlich mit einer verschwindend geringen Mehrheit wiedergewählt, die ihm zwar die Mandatserneuerung erlaubt, aber nicht ausreicht, um ihn an der Macht zu halten.

Die Weltlage hat sich ebenfalls verändert: Das Erdöl, dessen Lagerstätten in Bolivien überwiegend Anfang der 1970er Jahre entdeckt worden waren, wird zu immer höheren Preisen gehandelt. Deshalb suchen insbesondere die erdölimportierenden Länder nach gangbaren Alternativen. Erdgas, das im bolivianischen Boden in großen Mengen zu finden ist und dessen Ausbeutung – wie dargestellt – in unverantwortlicher Weise geregelt ist, wird für ausländische, vor allem US-amerikanische Investoren äußerst attraktiv. Sie schlagen der Regierung ein Abkommen vor, das den Erdgasexport über Häfen Chiles, dem Erzfeind Boliviens, vorsieht und dies zu einem Preis von 2,5 Dollar pro Fass – die Hälfte dessen, was alle anderen Staaten, selbst Argentinien und Brasilien, bezahlen.

Zu Lozadas Leidwesen hat sich auch die Stimmung in der Bevölkerung verändert. Deren Einsicht, dass die während Lozadas erster Amtszeit begonnene Eigentumsübertragung der Energierträger an transnationale Unternehmen das Land schwer geschädigt hat und nicht transparent erfolgte, führt zu politischen und sozialen Spannungen.Seit 1952 war die Mobilisierung der Bevölkerung von politischen Parteien ausgegangen und hatte sich auf die Arbeiterschicht beschränkt. Nun jedoch nimmt sie neue Formen an, wobei die breiten marginalisierten Bevölkerungsgruppen erkennen, wie ähnlich ihre Lage, ihre Ursprünge und und ihre Wunden sind. Es kommt zu einer Politisierung der ethnischen Gruppen, die ihre Forderungen historisch zu legitimieren versuchen. Zeitgleich mit dieser wachsenden Kohäsion unter den Indios schürt die Linke die Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Wirtschaftsmodell und den Praktiken des Imperialismus. Dadurch findet sie Anhänger bei Minenarbeitern, Kokabauern, Arbeitslosen, Studenten und anderen Gruppierungen, die die soziale Bewegung Boliviens ausmachen. Die unzufriedene Bevölkerungsmehrheit schart sich um drei Forderungen: a) ein neues Gesetz über fossile Energieträger, das dem Staat sein Eigentum zurückgibt; b) Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung; c) Rücktritt von Sánchez de Lozada.

Es folgt eine Zeit großer sozialer Instabilität, in der es zu zahlreichen Generalstreiks, Straßenblockaden und anderen Aktionen kommt. Lozada, der bereits von Mitgliedern der eigenen Regierung zum Rücktritt gedrängt wird, befiehlt seinen Truppen, die aufständischen Massen in Schach zu halten. Diese Entscheidung führt zu über 300 Toten und dem Parlamentsausschluss des 1997 zum Abgeordneten gewählten Morales mit der Begründung, er habe die Landarbeiter gegen die Armee aufgewiegelt.

Evo Morales als Präsident

Der Aufruhr im Volk legt sich erst im Oktober 2004, als Sánchez de Lozada zurücktritt und der Vizepräsident Carlos Mesa mit der Unterstützung von vier Fünfteln der Bevölkerung die Macht übernimmt. Doch von den bei seinem Amtsantritt verkündeten Maßnahmen – Durchführung eines bindenden Referendums über das Eigentum an den Energievorkommen, Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung, Verabschiedung eines neuen Rohstoffgesetzes – wird nur die erste teilweise umgesetzt. Dadurch zieht auch er die Wut der Massen auf sich, die ihn zum Präsidenten gemacht haben.

Nach Mesas Rücktritt rückt der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs in die Präsidentschaft nach und ruft sofort Neuwahlen aus. Die politische Landschaft Boliviens wird zu dieser Zeit von zwei großen Parteien beherrscht: der Poder Democrático Social (Podemos), mit Jorge Quiroga als Kandidat, und der Movimiento al Socialismo (MAS), deren zentrale Figur Evo Morales ist.

Bei den am 18.12.2005 stattfindenden Wahlen entscheidet sich die Bevölkerung mehrheitlich für die zweite Alternative.

Das Ergebnis von 54 Prozent der gültigen Stimmen hat es in der Geschichte der bolivianischen Demokratie bisher nur 1952 bei der Wahl Paz Estenssoros gegeben. Evo Morales wurde vor allem deshalb gewählt, weil das Volk der traditionellen politischen Gruppierungen überdrüssig geworden ist. Die in ihn gesetzten Erwartungen können sich für die bolivianische Demokratie als positiv erweisen, wenn das Volk seine Kontrollfunktion wahrnimmt und eine dauerhafte Kommunikation mit der Regierung unterhält. Aber auch als negativ, falls es sich bei ersten Schwierigkeiten wieder aut Revolte und nicht auf Verhandlungen setzt.

Knapp vier Monate nach seinem Amtsantritt verleiht Morales dem Ergebnis des von Mesa durchgeführten Referendums, bei dem sich 92 Prozent der Stimmberechtigten für die Verstaatlichung von Erdöl und Erdgas ausgesprochen hatten, bindenden Charakter. Mit dem Dekret Nr. 28071 vom 1. Mai 2006 erhält der bolivianische Staat seine Bodenschätze zurück und übernimmt fortan wieder die Produktion auf allen Ebenen. Begleitet wird dieser Akt von symbolträchtigen Aktionen wie der militärischen Besetzung der Niederlassungen transnationaler Unternehmen. Sie werden von der Weltöffentlichkeit kritisiert, lösen jedoch beim bolivianischen Volk Begeisterung aus, das seine Hauptforderung erfüllt sieht. Damit besteht der gewählte Präsident eine der größten Herausforderungen, nämlich das Land wieder regierbar zu machen. Dafür musste die in all den Jahren gescheiterter Regierungen aufgebaute Unzufriedenheit der Massen überwunden werden.

Morales’ Vorgehen kann vielleicht als neopopulistisch bezeicht werden. Doch sollte dieser Begriff von alten Vorurteilen befreit werden und die Herausforderungen für Boliviens jüngsten Präsidenten berücksichtigen: In einem Land mit einer Geschichte so tiefer Verwundungen ist der Anspruch, unmittelbare Bedürfnisse zu Gunsten von Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zurückzustellen, nicht durchsetzbar. Vom Gleichgewicht dieser schwer zu vereinbarenden – wenn sich auch nicht ausschließenden – Herausforderungen hängen Zukunft und Stabilität der zerbrechlichen bolivianischen Demokratie ab. Schlussüberlegungen

„Nun beginnt die neue Geschichte Boliviens", prophezeite Evo Morales bei der Übernahme seines Amtes, das vor ihm noch nie ein Indígena innehatte. In einem Land, wo diese die ethnische Mehrheit stellen, verwundert es nicht, dass die Menschen in Evo Morales‘ Aufstieg ihre eigenen Wünsche verwirklicht sehen. Im Anschluss an seine nach einem Aymara-Ritual durchgeführte Regierungsübernahme – eine Ehre, die bisher nur Simón Bolívar, dem Vater der südamerikanischen Unabhängigkeit, zuteil geworden war – erneuert Morales dessen Versprechen von Autonomie und Freiheit von vor über zwei Jahrhunderten.

Inwieweit Evo Morales seine Ziele verwirklichen kann, hängt davon ab, ob er aus vergangenen Niederlagen Lehren für die Lösung der Probleme von heute zieht. Das revolutionäre Vermächtnis von 1952 bietet Morales die Chance, die Fehler von gestern zu vermeiden und sich während seines Mandats den gegenwärtigen Herausforderungen aktiv zu stellen.

Die größte wirtschaftspolitische Aufgabe besteht für Morales darin, die Einnahmen für die Bodenschätze effizient zu verwalten. 1952 hatte die post-revolutionäre Regierung die Hoffnung auf eine erfolgreiche Umverteilung der Einnahmen aus den verstaatlichten Zinnminen. Heute steht nicht mehr dieses Erz sondern das Erdgas im Mittelpunkt. Seine Rolle ist international strategisch viel bedeutender, da es in einer Zeit hoher Preise von Erdöl – der weltweit wichtigsten Energiequelle – eine billigere und weniger umweltschädigende Option darstellt. Das bolivianische Volk erlebte zu Anfang des 21. Jahrhunderts die Aufwertung seines wichtigsten Roh-stoffs auf dem internationalen Markt, während sich gleichzeitig seine Lebensbedingungen immer weiter verschlechterten. In diesem Kontext ist die Verstaatlichung der fossilen Rohstoffe nicht nur von ökonomischer sondern auch von politischer Bedeutung. Zwar garantiert eine effiziente Verwaltung der Einnahmen aus dem Gashandel nicht automatisch Verbesserungen oder die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Boliviens, aber sie gibt der von der Regierung versprochenen Umverteilungspolitik den nötigen Impuls.In gesellschaftspolitischer Hinsicht geht es um die Frage der Regierbarkeit. Hierbei stellt sich die Herausforderung, die Interessen der verschiedenen Regionen mit immer stärkeren Eigeninteressen zusammenzubringen. Was den Volksaufstand von 1997, der den Rücktritt Lozadas forderte, vom Sturz der Militärregierung 1952 unterscheidet, ist die Frage der Einheit des Landes. Während in den 1950er Jahren Arbeiterklasse und politischen Parteien die Träger des revolutionären Gedankenguts waren, ist es in diesem Jahrhundert die ethnische Frage, die die Massen eint. Diese Verschiebung kann zweierlei Gründe haben: Erstens die Kurzlebigkeit der politischen Parteien ohne programmatische Kohärenz – man nehme nur das Beispiel der MNR, die im Jahre 1952 mit der Revolution an die Macht kam und 2004 von den Massen gestürzt wurde – und zweitens die Erkenntnis, dass das ethnische Element zur Einforderung historischer Schuld am geeignetsten ist.

Eine weitere Herausforderung liegt im Bewusstwerdungsprozess der Massen über ihre Zugehörigkeit zum Staat. Die im letzten Jahrzehnt in Bolivien herrschende soziale Instabilität deutet darauf hin, dass die Bevölkerung nicht nur in sich zersplittert ist, sondern sich auch vom Staat ausgeschlossen fühlt. Darauf sind zwei Reaktionen möglich: politische Apathie oder die Auflehnung gegen die jeweilige Regierung. Letztere kann jedoch zur Banalisierung des Volksaufstands als einem der wichtigsten Ausdrucksformen von Unzufriedenheit führen. Wird der öffentliche Raum immer wieder dazu genutzt, verfestigt sich im kollektiven Bewusstsein die Vorstellung, man könne Unzufriedenheit nur über Revolten zum Ausdruck bringen.

Vor diesem historischen Hintergrund muss Morales nun eine Dialog- und Verhandlungskultur zwischen Regierung und Volk entwickeln, die es dem bolivianischen Volk ermöglicht, aus dem Teufelskreislauf aus Unzufriedenheit – Revolte – Schwächung der Regierung – Machtwechsel auszubrechen, den es im Laufe seiner Geschichte immer wieder durchlaufen hat. Nur die Verwurzelung demokratischer Praktiken wird Boliviens Demokratie am Leben erhalten können.

Hat Morales Erfolg, beweist das, dass der Fehler in der Regierungspraxis und dem schlechten Verhältnis zwischen dem Staat und den anderen demokrati-schen Institutionen lag. Hier setzt ein wirklicher Neubeginn in der Geschichte Boliviens an. Nur so kann das Land auch aus der hypnotischen Pendelbewegung zwischen Fortschritt und Rückschritt befreit werden, die eine dauerhafte Verwurzelung demokratischer Praktiken in der bolivianischen Gesellschaft bislang verhindert hat. Und nur so wird die Demokratie auch als Instrument für die Emanzipation der Ausgeschlossenen geachtet und anerkannt werden.Bibliographie

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Este artículo es copia fiel del publicado en la revista Nueva Sociedad , Januar 2007, ISSN: 0251-3552


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